Zeiten, die das Leben verändern

  • "Die Aufmerksamen werden für den Kairos immer gerüstet sein."


    Miriam saß am Rande der Einsiedelei und blickte ins Tal hinab. Vor drei Monaten hatte sie den Zirkus verlassen. Sie hatte dort zunächst ihren Vater gesucht, jedoch nicht gefunden. Stattdessen fand sie Freunde, Freunde und auch Feinde. Es waren zwei bewegte Jahre, aber am Ende war sie mehr als froh gewesen, alles hinter sich lassen zu können. Natürlich vermisste sie einige ihrer Freunde wie Madanja. Aber trotzdem bedauerte sie grundsätzlich nicht, hierher gekommen zu sein, denn sie hatte ihren inneren Frieden wieder gefunden. Miriam hatte sich die Zeit genommen, hier in der Einsamkeit die kairotischen Offenbarungen des Seins zu studieren. Sie hoffte, dass diese ihr den richtigen Weg auf der Suche nach ihrem Vater zeigen würden. Ihr Blick wanderte hinüber auf eine andere Bergkette, die Bergkette von Haldan, wo sich das Schwert von Nörom in die Höhe reckte. Sie legte den Kopf in den Nacken, um bis zur Spitze hinauf zu sehen. In ihr wuchs der Wunsch, das Schwert zu berühren. Vielleicht war dies genau der richtige Moment, um eine Pilgerreise zu unternehmen. Sie fühlte, dass das, was sich in ihr rührte, der Kairos war. Und so ging sie in die Hütte, um ihre Sachen für die Reise zu packen.

  • "Das Gleichgewicht ist wichtig. Wer nicht im Gleichgewicht ist, fällt, bevor er den Kairos ergreifen kann."


    Es war eine angenehme Reise. Miriam hatte ihr eigenes Tempo bestimmen können, und nun lag die Burg Haldan vor ihr. Ganz offenbar war sie nicht die einzige Besucherin heute. Tatsächlich gab es eine fröhliche Kirmes und eine Menschentraube stand um den Turnierplatz herum. Neugierig trat Miriam näher und spähte über die Schultern hinweg auf das Spektakel. Auf dem Platz kämpften zwei Jungen miteinander. Einer war deutlich älter und kräftiger, der andere schlank, schnell und drahtig. Der Jüngere hatte aber keine wirkliche Chance, und so endete der Kampf sehr schnell mit einem Hieb auf sein Knie. Er ging zu Boden, und der andere hielt ihm als Zeichen seines Sieges das Schwert an den Hals. Der Applaus war eher pflichtschuldig als euphorisch. Miriam fragte sich, warum hier solche ungleichen Kämpfe ausgetragen wurden.

  • "Nichts ist ewig außer der Veränderung."


    Nach den Kämpfen gab für alle ein Buffet, und Miriam erfuhr, dass die beiden Kontrahenten die Söhne des Grafen waren. Der Ältere war ein guter Kämpfer, jedoch nicht unbedingt beliebt. Der Jüngere war wohl eher ein Eigenbrötler, und viele hielten ihn für zu schüchtern. Doch da es die Söhne des Gastgebers waren, traute sich niemand, schlecht über die beiden zu reden. Lieber trank man den Wein des Grafen und erzählte sich Geschichten. Einer sagte, er habe Gerüchte gehört, dass Dunkelelfen einen Trupp Händler angegriffen hätten. Andere lachten und meinten, er solle mit seinen Ammenmärchen nicht die Leute verunsichern. Das Schwert würde sie vor dem Bösen schützen. So war es schon seit den Zeiten Königs Artemors und so würde es auch immer bleiben. Darauf erhob die ganze Runde ihr Glas auf König Artemors Vermächtnis und Miriam trank voller Leidenschaft mit.

  • "Das Leben ist heilig und der Kairos ist Leben."


    Am nächsten Tag schlief Miriam bis zur Mittagsstunde, denn die Feier war lang und der Wein reichlich gewesen. Danach ließ sie sich den Weg zum Schwert zeigen. Nach einem Fußmarsch, der ihr den Kopf wieder aufklarte, stand sie vor dem Schwert. Was für ein Anblick: Die Sonne schimmerte auf dem Metall, und hinter dem Schwert lag das ganze Land vor ihr. Sie fühlte sich seltsam erhaben, und ihre eigenen Belange wurden unwesentlich gegenüber denen des Reiches. Die Männer und Frauen, die dieses magische und materielle Kunstwerk geschaffen hatten, hatten noch so viel mehr vollbracht: Sie bewahrten über hunderte von Jahren die Wesen dieser Welt vor Unheil. Natürlich sehnte Miriam sich danach, ihren Vater zu finden, aber plötzlich wusste sie, dass sie ihn nur dann finden würde, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen wäre. Sie blickte nach oben und suchte den Punkt, an dem das Schwert den Himmel berührte. Ihr wurde klar, dass sie sich von der Zwanghaftigkeit der Suche befreien musste, um wieder leben zu können. Ja, die Reise zum Schwert hatte sich wahrhaftig gelohnt. Sie zog das kleine Messer heraus, welches sie immer im Stiefel versteckt hatte, und drückte es gegen das Metall des Schwertes. Das gab ihr zusätzlich das Gefühl, dass ihr kein Übel mehr etwas antun konnte. Zufrieden mit sich und der Welt machte Miriam sich wieder an den Abstieg.

  • "Warum hat der Kairos Flügel an den Füßen? Weil er schnell ist wie der Wind."


    Miriam hatte beschlossen, am Schwert zu bleiben, bis der Kairos ihr eine Gelegenheit schicken würde. So erkundete sie in den nächsten Tagen die Umgebung und ihr Weg führte sie unweigerlich auch am Schwert vorbei, von dem sie noch immer tief beeindruckt war. Wenn sie dort eintraf, sah sie meistens den jüngeren Sohn des Grafen zusammen mit einem Ritter dort sitzen und reden. Die beiden waren oft so in ihre Unterhaltung vertieft, dass sie die anderen Besucher am Schwert überhaupt nicht wahrnahmen. Miriam setzte sich dann auf an die andere Seite des Platzes und genoss den Blick in die Ferne.
    Einige Tage später sah sie aus dem Augenwinkel einen Besucher, der ihr seltsam bekannt vorkam. Sie schaute genauer hin und tatsächlich, es war Noreia Flory. Miriam hatte sie während der Zeit des großen Zirkus' kennengelernt. Die Florys war ein Clan der Schauspieler, die schon lange vor dem großen Zirkus im ganzen Land bekannt waren. Niemand lachte oder weinte so viel, wie bei den Vorstellungen der Truppe, die sich "Paranoid Miljoner rocking snow goons" nannte, auch wenn Miriam bis heute nicht genau wusste, was das bedeutete. Es wurde gemunkelt, dass die Florys Gestaltwandler waren und deswegen so gute Schauspieler waren. Noreia war allerdings so etwas wie das schwarze Schaf der Familie und hatte keinen Spass an der Schauspielerei gefunden. Stattdessen zog sie gerne durch die Lande, nahm verschiedenste Aufträge an und war gerne dabei, wenn irgendwo etwas passierte. Miriam hatte sie seit Jahren nicht gesehen und winkte wild. Noreia schaute zu ihr hinüber und Freude blitzte in ihren Augen auf, als sie ihrerseits Miriam erkannte. Die beiden Frauen fielen sich lachend in die Arme. Was für ein Zufall, sich ausgerechnet hier wieder zu sehen, oder nicht?

  • "Warum hat der Kairos eine Locke im Gesicht? Damit Du sie ergreifst."


    "Was machst Du denn hier, Noreia?" "Ich reite für eine Auskunft in den Norden. Aber immer wenn ich hier vorbei komme, mache ich einen kurzen Stopp am Schwert. So viel Zeit muss dann schon sein. Und du?" "Ich lasse mich treiben..." "Soll ich Dich ein Stück mitnehmen? Dann quatschen wir heute Abend am Feuer wie früher!" Miriam zögerte nicht, und stimmte sofort dem Vorschlag zu. Sie holten Miriams Sachen und Proviant aus der Herberge und die Meernixe stieg hinter Noreia auf das Pferd. Sie galoppierten los und so schafften sie ein gutes Stück des Weges bis die Sonne langsam unterging, und sie den wilden Ritt beendeten. Noreia kümmerte sich um das Pferd, während Miriam ein Feuer entfachte. Bei Brot und Stockfisch unterhielten sich die beiden über die alten Zeiten und lachten über gemeinsame Erinnerungen. Erst als beide satt waren und das Wasser für einen Kräutertee über dem Feuer heiß wurde, kamen sie auf aktuelle Themen zu sprechen. Miriam berichtete über ihre philosophische Suche und dann begann auch Noreia zu erzählen: Ihren aktuellen Auftrag hatte sie von eine Gruppe junge Adelige bekommen. Diese hatten aus dem Norden immer mehr komische und widersprüchliche Informationen erhalten. Es wurde von einem "Lord Akuma" berichtet, der immer mehr Kämpfer hinter sich versammle und wahrscheinlich Böses im Schilde führe. Da es aber keine Informationen aus erster Hand gab und auch der König keine Anstalten machte, dem nachzugehen, hatten die Adeligen Noreia engagiert, um die Sache aufzuklären. Miriam schauderte und erzählte von den Geschichten, die sie auf dem Fest gehört hatte. Noreia machte sich daraufhin einige Notizen. "Du siehst, die Zeit drängt. Wir müssen morgen ganz früh weiter. Was hälst Du davon, wenn ich Dich morgen in Ongerfurt absetze? Dort kreuzen sich mehrere Handelswege." "Das ist eine gute Idee. Dann kann ich mir dort überlegen, wohin mich der Kairos weiter führt. Noreia übernahm die erste Wache, und Miriam rollte sich für ein paar Stunden Schlaf in ihre Decke.

  • "Warum hat Er sonst keine Haare? Damit Du ihn nur von vorne ergreifst."


    Gesagt, getan. Schon bereits als der Morgen dämmerte, saßen die beiden wieder im Sattel, und ritten weiter. Drei Stunden später sahen sie von Weitem Ongerfurt. Noreia gab dem Pferd noch einmal die Sporen und so traffen sie am späten Vormittag in der Stadt ein. Sie suchten einen kleinen Rasthof und bestellten eine leichte Mahzeit. Noreia sprach den Wirt an und befragte ihn zur Lage. "Ich weiß nicht...", grübelte dieser, "Irgendetwas liegt in der Luft. Hier hat sich eine Frau eingemietet. Sie weint sich die Augen aus und wartet schon die ganze Woche auf ihren Mann. Er hätte schon längst aus dem Norden zurück sein müssen. Und das ist nicht die einzige Geschichte, die ich Euch erzählen könnte. Seid auf jeden Fall vorsichtig bei der Weiterreise. Es scheinen sehr unruhige Zeiten zu sein." Miriam und Noreia schauten sich an. Was war denn bloß los? Nach der Mahlzeit verabschiedeten sich die beiden Frauen, und Miriam umarmte Noreia noch einmal herzlich. "Auf ein Wiedersehen" rief sie ihr hinterher, als diese ihr Pferd bestieg und davonritt.
    Miriam überlegte kurz, ob sie eine Weile in Ongerfurt bleiben sollte, aber eine innere Unruhe trieb sie weiter. So folgte sie den Lauf des Onger. Ein paar Tage war diese Wanderung angenehm ereignislos, so dass Miriam die unheilsschwangeren Erzählungen der letzten Zeit gut vergessen konnte.
    Am Abend des fünften Tages allerdings hörte sie plötzlich ein leises Geräusch. Vorsichtig schlich sie heran und sah eine kleine Fee mit wunderschönen Flügeln im Gras sitzen und weinen. Die Meernixe wusste nicht, was sie machen sollte. Sie hatte den Impuls, das kleine Wesen zu trösten, traute sich aber nicht, diesem zu folgen. So stand sie wie eine Statue da und schaute der Fee beim Weinen zu, bis ihr sogar selbst die Tränen lautlos über die Wangen liefen. Eine Weile später erhob sich die kleine Fee in die Luft und verschwand, ohne Miriam bemerkt zu haben. Diese seufzte, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und schlug hier ihr Lager für die Nacht auf. Vielleicht käme die Fee ja am nächsten Tag wieder....

  • "Gelegenheiten sind nicht immer günstig, und nicht nur Kairos lebt auf dieser Welt."


    Am nächsten Morgen saß Miriam noch lange im Gras, doch die Fee tauchte nicht mehr auf. Stattdessen stieg Nebel in die Höhe. Also beschloß sie, weiterzuziehen. Nach einer Stunde wurde jedoch der Nebel immer dichter und der Weg matschiger. Miriam flucht leise: "Das wird ein anstrengender Tag!" Vielleicht hätte sie lieber direkt im Fluss schwimmen sollen, doch dieser führte so wenig Wasser, dass sie auch da nicht besser voran kommen würde. Also biss sie die Zähne zusammen und wanderte weiter durch den Morast. Schon nach kurzer Zeit war sie über und über mit Schlamm bedeckt.
    Plötzlich hörte sie Hundegebell hinter sich, und es klang andere als freundlich. Miriam mobilisierte ihre Kraftreserven und fing an zu rennen. Aber sie hatte keine Chance: Auf dem ungünstigen Gelände rutschte sie weg und fiel in den Schlamm. Noch bevor sie sich wieder aufrappeln konnte, waren die Hunde über ihr. Einer biß ihr in die Wade, der andere knurrte sie bösartig an. Miriam hatte furchtbare Angst.
    Kurz darauf kamen zwei Gestalten durch das Unterholz, ein alte Frau und ein muskelbepackter Mann. Der Mann grinste einfältig und die Frau kicherte zahnlos: "Was für ein entzückender Fang" "Darf ich ein wenig mit ihr spielen, Tante?" "Nein darfst Du nicht! Lord Akuma zahlt nur für lebendige Geiseln und die letzte, mit der du gespielt hast, hat das nicht überlebt. Also lass Deine Finger bei Dir, Du Trottel". Dieser nickte nur traurig, ging zu Miriam und schlug ihr gezielt auf den Kopf.

  • "Heute ist nichts wie gestern, morgen nichts wie heute."


    Als Miriam aufwachte, saß sie gefesselt in einem Käfigwagen. Vermutlich hatte der mal einem Zirkus gehört. Miriam fand, dass das nicht einer gewissen Ironie entbehrte. Allerdings war sie nicht alleine: In der gegenüberliegenden Ecke saß ein Mann mittleren Alters mit mandelförmigen Augen, der einen Jungen im Arm hielt. Dieser weinte leise. Unter der Decke hing ein zusätzlicher Käfig, in dem traurig zwei kleine Feen hockten. Der Wagen wurde von zwei Pferden gezogen. Miriams Häscher saßen auf dem Bock, während die Hunde nebenher liefen.
    Miriam räusperte sich leise und die Gefangenen sahen sich nach ihr um. Der Mann legte den Finger auf die Lippen und schüttelte den Kopf. Miriam nickte und sagte nichts. Die viel zu engen Fesseln scheuerten schmerzhaft an ihren Handgelenken. Sie versuchte, sich in eine angenehmere Haltung zu setzen, und sofort wurden die Hunde auf sie aufmerksam. Sie kamen näher an den Wagen heran und knurrten furchteinflößend. Der Mann gegenüber schaute sich schnell um. Dann machte er eine Handbewegung und die Hunde winselten, zogen den Schwanz ein und gingen wieder auf Abstand. Miriam nickte dankend. Plötzlich ging ihr auf, dass sie das Messer im Stiefelschaft noch bei sich trug. Die Lage war also nicht ganz so düster, wie sie hätte sein können...

  • "Wenn Du eine Antwort willst, beschäftige Dich mit der Frage. Alle Probleme beinhalten ihre Lösung."


    Erst nach dem Dunkelwerden hielten sie an. Der einfältige Muskelprotz lief los, um ein Feuer zu entfachen. Die Frau kam mit einem Wasserschlauch zum Wagen. Da Allen die Hände gefesselt waren, ging sie um den Wagen herum und ließ sie nach und nach davon trinken. Erst war der Junge dran. Dieser schloss, nachdem er den ganzen Tag geweint hatte, erschöpft die Augen und schlief sofort ein. Miriam hatte tiefstes Mitleid mit ihm. Dann kam die Frau zu ihr. Gierig trank sie, doch schon beim Schlucken merkte sie einen Geschmack, der nicht da sein dürfte, wenn es reines Wasser gewesen wäre. Miriam hatte einen Moment Panik, dann erschlafften auch ihre Muskeln und die Welt versank in Dunkelheit.
    Sie erwachte mitten in der Nacht. Sie war orientierungslos, doch dann sah sie in nächster Nähe das Gesicht des Mannes, der zu ihr flüsterte: "Mein Name ist Tong. Sie wissen nicht, dass ich ein Zauberer und Alchemist bin. Ich denke, wir können ausbrechen. Nicht heute, aber morgen. Dann dürfen wir alle das Wasser nicht schlucken. Den Zauber des Schlaftrunkes zu brechen, kostet mich viel Kraft. Dann kann ich für einige Stunden keine anderen Zauber wirken. Wenn der Junge schläft, ist das nicht schlimm, aber der Rest muss wach bleiben. Ich habe gestern Nacht schon mit den Feen geredet und mit ihnen ein Zeichen vereinbart, dass sie wissen, wann es losgeht." Miriam nickte. "Ich habe noch ein Messer im Stiefel. Das kann uns dann morgen auch helfen." Tong nickte und kroch zurück in seine Ecke, damit sie nicht auffielen. Miriam blieb alleine mit ihren Gedanken zurück.

  • "Der Kairos kommt nicht, wenn man ihn erwartet, aber erwartet immer den Kairos"


    Am folgenden Morgen fuhren sie weiter nach Norden. Der Tag war im Wesentlichen eine Wiederholung des vorherigen. Miriam fühlte sich abgekämpft und dreckig. Man hatte ihnen morgens die Möglichkeit gegeben, hinter dem Wagen ihre Notdurft zu verrichten, aber vor den Augen des Muskelprotzes war es eine sehr erniedrigende Angelegenheit. Außerdem hatte man ihnen richtiges Wasser und ein Stück hartes Brot gegeben. Das waren dann auch schon die einzigen Zugeständnisse an die Gefangenen. Die Feen waren apathisch.
    Als abends die alte Frau zu ihr kam, nahm sie das Schlafmittel nur in den Mund, machte die Augen zu und erschlaffte. Da die Frau schon weiter um den Wagen herum war, sah diese nicht, wie die Flüssigkeit wieder aus ihrem Mund lief. Es war hart, nicht wenigstens ein wenig davon zu trinken, denn sie hatte einen extrem trockenen Hals. Trotzdem schaffte sie es, den Schluckreflex zurückzuhalten. Danach mussten sie wieder warten, bis es komplett dunkel war, und ihre Peiniger sich zum Schlafen gelegt hatten.
    Kurz darauf war Tong an ihrer Seite und befreite sie von ihren Fesseln. Zusammen knackten sie das Schloss des kleinen Käfigs und befreiten die Feen. Da diese durch die normalen Gitterstäbe hindurch fliegen konnten, sagte Tong zu ihnen, dass sie sofort fliehen sollten, da sie ihnen kaum helfen könnten.
    Miriam nickte: "Am Tag bevor ich gefangen wurde, habe ich eine Fee wie Euch gesehen. Sie war sehr traurig, aber sie war unversehrt." "Die Götter seien gelobt, das war unsere Tochter! Wir wussten nicht, ob ihr die Flucht gelungen war. Vielen Dank für diese gute Nachricht. Wir werden sie jetzt suchen. Euch noch viel Glück mit Eurer Flucht." Die beiden entfernten sich in die dunkle Nacht.
    Tong hielt die Hand über das Schloss des Wagens und dieses sprang auf. Als er vorsichtig die Käfigtür öffnete, quietschte sie und sofort erwachten die Hunde und ihre Halter aus ihrem Schlaf.

  • "Der Kairos hilft denen, die sich selbst helfen."


    Miriam sog die Luft ein und griff nach dem Messer in ihrem Stiefel. Tong machte eine Handbewegung und die Hunde drehten sich um und fielen den Muskelprotz an, der sich gerade noch den Schlaf aus den Augen wischte. Da er noch am Boden war, waren die Hunde klar im Vorteil. Die Frau begann, leise Worte zu murmeln. Miriam reagierte instinktiv. Sie sprang vorwärts und warf ihr Messer. Sie war erstaunt, dass das Messer genau das Auge traf. Der Mann schrie jetzt, weil die Hunde ihn schon mehrfach gebissen hatten. Tong machte eine weitere Handbewegung und die Schreie verstummten.
    Miriam war sich sicher, dass beide Häscher tot waren und war erleichtert. Einen Moment dachte sie daran, ihr Messer nicht zurück zu holen, aber diesen Luxus konnte sie sich nicht leisten. Sie wappnete sich und war froh über die Dunkelheit, als sie das Messer wieder an sich nahm und es säuberte. Sie ging zurück zu Tong: "Ich danke Dir, ohne Dich wäre mir die Flucht nicht gelungen." "Ja, aber ohne Deine Hilfe hätte ich esvielleicht auch nicht geschafft. Wir sollten in unterschiedliche Richtungen fliehen, damit man unseren Spuren schlechter folgen kann, wenn jemand die beiden finden sollte. Ich nehme den Jungen mit, er schläft noch und er hat sich an mich gewöhnt." Miriam nickte. Wohin sollte sie sich wenden? Jetzt in der Nacht wäre die Straße der sicherste Weg. Die Feen waren nach Süden geflogen, also würde sie der Straße eine Weile weiter nach Norden folgen, bevor sie sich ein Versteck suchte. Sie umfasste Tongs Hand und drückte diese fest. Dann drehte sie sich um und verschwand in der Nacht.

  • "Jedes Problem hat seine eigene Zeit."


    Seit fünf Tagen und Nächten war Miriam wieder frei. Während des Tages versteckte sie sich, nachts was sie unterwegs. Sie war in der zweiten Nacht zu einem Fluss gekommen, den sie seitdem zur Reise nutzte. Dieser erschien ihr sicherer als die Straße, denn dort waren sehr viele Leuteunterwegs. Aber da es auch Dörfer entlang des Flusses gab, tauchte sie auch hier nur wenig auf. Sie hatte kein gutes Gefühl, jetzt mit anderen in Kontakt zu kommen.
    Obwohl sie wusste, dass ihr Gefängniswagen sie nach Norden bringen wollte, und auch Noreias schlechte Nachrichten aus dieser Richtung kamen, reiste sie weiter nach Norden. Vielleicht trieb sie die Neugier an, vielleicht auch etwas anderes.
    So schwamm sie flussaufwärts, auch wenn das sehr anstrengend war und der Fluss immer weniger Wasser führte. In ein paar Stunden würde sie ihn verlassen müssen und wieder zu Fuß weiterlaufen. Dann wurde es wieder gefährlicher: Eine Reise auf der Straße kam nicht mehr in Frage, aber auch eine nächtliche Reise abseits ausgetretener Wege war nicht einfach, da sie im Dunkeln nicht gut sehen konnte. Nun ja, jedes Problem zu seiner eigenen Zeit, dachte sie und schwamm weiter.

  • "Der Kairos liebt das Unerwartbare."


    Die Nacht, als sie den Fluss verlassen hatte, war jetzt schon wieder ein paar Tage her. Miriam hatte den Überblick über die Zeit verloren. Die Hänge der Berge, die sie gerade erklomm, waren nicht sehr steil und stark bewaldet. Durch die Deckung, die die Bäume boten, konnte sie wieder tagsüber reisen. Während sie im Fluss Fische gefangen hatte, war seitdem ihre Ernährung spärlicher geworden. Meist aß sie nur die Beeren und Nüsse, die sie zwischendurch fand. Doch gleich hatte sie die Kuppe erreicht. Die Sonne stand schon sehr tief, sie würde deswegen warten, bis es dämmrig war, bevor sie weiterging, um das dahinter liegende Tal zu überblicken.
    Zwei Stunden später traute sich Miriam aus der Deckung und was sie vor sich sah, ließ ihren Atem stocken: Die Hänge vor ihr waren alle abgerodet. Unten im Tal gab es unzählige Lagerfeuer, und auf einer Seite der Ebene konnte sie eine Unmenge an Gefangenenwagen ausmachen. Doch was Miriams Blick sofort auf sich zog, war eine originalgetreue Nachbildung des Norömschwertes, welche am tiefsten Punkt des Tals stand. Zu ihrem Entsetzen schimmerte es bedrohlich schwarz, finsterer noch als die herannahende Dunkelheit. Am Fuß des Schwertes huschten Schatten hin und her. Es schien, als würden sie einen riesigen Scheiterhaufen aufbauen. Miriam schüttelte ungläubig den Kopf. Was passierte hier?

  • "Alles ist den Händen des Kairos: Chaos und Ordnung, Leben und Tod, Freude und Schmerz, Vergangenheit und Zukunft."


    Miriam konnte den Blick von dem Treiben unter ihr im Tal nicht losreißen. Um sie herum wurde es immer dunkler und sie erkannte, dass heute Neumond war. Während ihr noch immer nicht klar war, was das alles zu bedeuten hatte, begannen plötzlich im Tal dumpfe Trommeln zu dröhnen. Sie hörte Schreie, aber sie konnte aus der Entfernung nicht sehen, was passierte. Dann aber wurde der riesige Scheiterhaufen entfacht, und sie sah entsetzt, dass man die Gefangenen an das Schwert gefesselt hatte und man diese nun bei lebendigem Leib verbrennen würde. Beinahe wäre sie aufgesprungen, um diesem fürchterlichen Tun irgendwie ein Ende zu setzen, doch gerade rechtigzeitig wurde ihr bewusst, dass sie nichts ausrichten konnte. Und so brannten sich die Schreie der Opfer in ihre Seele ein, als die Flammen immer höher schlugen. Eine dichte Rauchsäule stieg am Schwert in die schwarze Nacht empor. Aufgestachelt durch die Schreie der brennenden Menschen wurde der Rhythmus der Trommeln immer schneller und endete in einem Crescendo. In der plötzlichen Stille begann das unheilsvolle Schwert an zu glühen und schmolz. Aus der Glut entstigen dämonischen Wesen, die sich um das Feuer sammelten. Miriam musste fliehen, wenn sie eine Chance aufs Überleben haben wollte. Sie erhob sich leise, drehte sich um und blickte in blutrote Augen.

  • "Weil ich auf den Kairos höre, weiß ich, dass das Tal nur deswegen beschattet ist, weil die Sonne scheint."


    Miriam zog instinktiv ihr Messer aus dem Stiefel, aber sie war sich selbst der Hilflosigkeit dieser Geste bewusst. Trotzdem war sie nicht bereit, sich kampflos zu ergeben. Das Wesen mit den blutroten Augen und der feurigen Gestalt schüttelte aber den Kopf. "Ich will Dir nichts Böses. Ich wurde auf diese Welt gezwungen und mein Herz ist voller Rache, aber nicht gegen Dich." Miriam konnte nicht fassen, was sie hörte. "Aber viele meiner Brüder ist das egal. Die Magie zwingt uns, den Zauberer, der uns das angetan hat, zu schonen und so feiern viele meines Volkes ihre Wut, indem sie die Seelen der Wesen hier brechen und aussaugen. Aber ich kann nicht, Du musst fliehen. Möglichst in eine Richtung, wo wenig Leben ist, denn der Geruch des Lebens zieht uns an. Ihr nennt uns Dämonen, aber Du musst verstehen, dass es der Zauberer war, der unsere böse Seite nutzt und verstärkt, um Euch gefügig zu machen. Und jetzt geh, damit ich das Gefühl in mir behalten kann, dass ich wenigstens einem von Euch geholfen habe."
    Miriam nickte. Ihre Gedanken waren nicht mehr klar, nachdem was sie heute alles erlebt hatte. Da es sehr dunkel war, entschied sie sich, am Rand der Hügelkette nach Westen zu laufen, denn ein Abstieg war jetzt zu gefährlich. Außerdem wusste sie, dass sich im Westen eine karge, wenig besiedelte Landschaft anschloss. Und so suchte die Meernixe ihr Seelenheil in der Flucht.

  • "Vergiss nie, dass die Göttin der Hoffnung, Elpida, die Geliebte des Kairos ist."


    Es gab einen Grund, warum Gebiete nur spärlich bewohnt waren! Miriam fluchte, weil sie seit mehreren Tagen über Geröllhänge kletterte, auf denen kaum etwas wuchs. Manchmal gab es eine kleine Quelle, von der sie trinken konnte, aber viel zu essen fand sie nicht. Sie kaute auf dem einen oder anderen Zweig, um den Hunger in ihrem Magen nicht so sehr zu spüren, aber die anstrengenden Tage und Nächte forderten ihren Tribut. Ihr Kopf war leer und die Beine wollten ihr nicht mehr gehorchen. Erschöpft sah sie vor ihrem inneren Auge erneut die furchtbaren Bilder der Schreckensnacht. In diesem Moment rutschte das Geröll unter ihr weg, und sie verlor den Halt. Miriam hatte nicht die Kraft, sich aufzufangen und schlitterte ein gutes Stück den Hang hinab. Als sie sich aufsetzen wollte, fuhr ein stechender Schmerz durch ihren Knöchel. Sie hatte an zahlreichen Stellen Abschürfungen, aber ihren Fuß schien es am schlimmsten getroffen zu haben. Sie versuchte, ihn zu bewegen. Es tat höllisch weh, aber es ging. Noch einmal versuchte sie, sich etwas besser hinzusetzen. Diesmal begann sich die ganze Erde zu drehen. Miriam fiel erneut, aber dieses Mal in eine angenehme Schwärze.

  • "Ganz selten bleibt der Kairos sogar stehen, damit du ihn staunend bewundern kannst, bevor er weiterläuft."


    Als Miriam erwachte, waren alle Schmerzen wieder da. Sie wusste nicht, wie lange sie bewusstlos gewesen war. Sie drehte den Kopf und erschrak: Neben ihr saß ein Panther und beobachtete sie lauernd. Jetzt war es endgültig vorbei, sie hatte weder den Willen noch die Kraft, sich noch einmal zu wehren. Und vermutlich war es auch besser, die Mahlzeit einer Wildkatze zu werden, als hier jämmerlich zu krepieren oder von Dämonen entseelt zu werden. So drehte sie nur müde den Kopf weg und zeigte dem Panther ihren bloßen Hals als Zeichen ihrer völligen Aufgabe. "Mach es schnell!" Miriams Stimme klang rau. Sie schloss in Erwartung des Schmerzes die Augen, doch dieser kam nicht. Stattdessen hörte sie eine Stimme. "Nicht so theatralisch. An Dirrr ist sowieso nicht mehr viel drrran! Ich beobachte Dich schon seit einer Weile und als Du gestürrzt bist, dachte ich, dass ich vielleicht helfen kann." Miriam drehte verblüfft den Kopf zurück. "Wer bist Du?" In diesem Moment verwandelte sich der Panther neben ihr in eine Frau. "Ich bin Prugra. ich bin eine Werkatze, seit meiner Jugend von den Menschen gejagt und verfolgt. Nun verbringe ich hier in der Einöde mein Leben. Ich bin nur noch selten in menschlicher Gestalt, da diese, wie Du selbst erkennen musstest, für dieses Gebiet völlig unbrauchbar ist. Doch genug von mir: lass mich Dir helfen." Miriam nickte dankbar und zog vorsichtig ihren Stiefel aus.

  • Man kann die Geschenke des Kairos teilen, ohne sie zu schmälern.


    Prugra verband und schiente Miriams Knöchel sorgfältig. Sie half ihr zu einer geschützten Stelle, und zusammen errichteten sie ein notdürftiges Lager. Die Werkatze ging jagen. Abends saßen sie an einem kleinen Feuer zusammen und grillten das Fleisch. Bei dieser Mahlzeit redeten sie sehr viel, bzw. Miriam erzählte und Prugra hörte zu. Die Werkatze war ein scheues Wesen und nicht gewohnt, mit anderen zusammen zu sein. Und so erzählte Miriam ausgiebig aus ihrem Leben. Als Prugra erfuhr, dass auch die Andere kein Mensch war, wurde sie im Umgang etwas entspannter. Zuletzt berichtete sie aber auch von der aktuellen Reise und den schrecklichen Dämonen. Das erschreckte Prugra zutiefst. "Es gibt eine kleine versteckte Siedlung, weiter im Westen nahe der Küste. Dort leben viele Wesen, die es unter den Menschen nicht leicht haben, es ist wie ein Bergfried vor der Verfolgung durch die Menschen. Ich habe dort auch eine Zeit lang gelebt, aber mir waren dort zu viele. Wenn jetzt die Dämonen nach Beute suchen, dann müssen wir sie warnen. Wir sollten aufbrechen, sobald Du etwas zu Kräften gekommen bist." Nachdem Prugra die ganze Zeit so verschlossen gewesen war, merkte Miriam sofort, dass dieses Anliegen der Werfrau wichtig war. Deshalb nickte sie. Zu später Stunde legten sie sich hin, um noch ein wenig zu schlafen.

  • "Kairos ist wankelmütig und unvorhersehbar in seiner Gunst."


    Sie hatten Miriam einen weiteren Tag Ruhe gegönnt und ihr eine Krücke gebaut. Am darauffolgenden Tag brach sie zusammen mit Prugra auf. Sie kamen nicht besonders schnell voran, da Miriam mehr humpelte denn ging. Die Werkatze nutzte diese Zeit, um zu jagen und nach einem guten Platz für ein Lager zu suchen. Bereits am zweiten gemeinsamen Reisetag fielen die beiden in eine Routine. Miriams Knöchel ging es langsam besser, und so wurden die Tagesstrecken auch immer länger. Die Zusammenarbeit funktionierte so gut, dass man denken konnte, dass sie schon seit Monaten zusammen reisten. Miriam hatte aufgehört, die Tage zu zählen, und irgendwann sagte Prugra, dass sie abends Matala erreichen müssten. Das Dorf drängte sich zum Schutz an einem Berghang, und auf der anderen Seite des Berges lag das Meer. So verbarg er die Siedlung vor neugierigen Blicken. Und tatsächlich sahen sie am späten Nachmittag etwas vor sich, doch es war nicht das, was Prugra erwartet hatte. Diese fing sofort an zu laufen und lief Miriam davon. Doch auch die Meernixe mobilisierte all ihre Kräfte und hastete der Werkatze hinterher. Es dauerte eine Weile, bis sie Prugra fand: Sie lag in ihrer menschlichen Gestalt zwischen den verkohlten Resten des niedergebrannten Dorfes und weinte bitterlich.