Zeiten, die das Leben verändern

  • "Sei wachsam! Halte den Karios nicht deswegen für einen Bettler, weil er sich einen schmutzigen Umhang umgelegt hat."


    Miriam hockte sich neben die Werkatze und umarmte sie, um der anderen ein wenig Trost zu spenden. Sie schaute sich um und entdeckte keine Leichen. Sie überlegte, was das zu bedeuten haben könnte. Erst wollte sie es Prugra sagen, damit sie daraus Trost fassen könne, aber dann erinnerte sie sich an die schaurige Nacht und es beschlich sie die Angst, dass den Bewohnern etwas Schlimmeres als der Tod widerfahren sein könnte.
    Plötzlich hörten sie etwas rascheln. Instinktiv verwandelte sich Prugra wieder in einen Panther und Miriam zog ihre Waffe aus dem Stiefel. In dem Moment trat ein kleiner Troll aus den Ruinen hervor. "Frieden, Prugra", sagte er mit angenehmer Stimme. "Joninn! Was ist hier nur passiert? Waren es die Dämonen?" Prugra war auf das kleine Wesen voller unterdrückter Wut losgeschossen und hatte dieses fast umgerissen. "Gemach, meine Dame, dies ist eine Finte, um den Feind zu täuschen. Grono hatte vor einigen Wochen eine Vision von einem Heer von Dämonen, die das Land verwüsten. Wir sind daraufhin in die unterirdischen Höhlen gezogen, die wir ja schon als Versteck gegen die Menschen eingerichtet hatten. Zur Tarnung vor dem Feind haben wir die alten Hütten niedergebrannt. Heute hat Grono mich hierher geschickt. Er hat vermutlich gesehen, dass ihr kommen würdet." Der Troll blickte skeptisch zu Miriam. Prugra übernahm die Vorstellung: "Das ist Miriam. Sie ist eine Halbnixe und wäre beinahe von Dämonen getötet worden. Sie hat furchtbare Neuigkeiten mitgebracht, die sie Euch erzählen muss." Joninn nickt. "Dann sollte ich Euch zu Grono bringen. Er wird wissen, was zu tun ist. Folgt mir." Dankbar, dass sie endlich wieder unter Gleichgesinnte kommen sollten, folgten sie dem Troll.

  • "Manchmal müssen wir innehalten, damit der Kairos uns finden kann."


    Joninn führte sie durch einen Spalt im Fels in ein Gangsystem. Er hatte eine Fackel dabei, und Miriam war froh, dass er so zielstrebig den Weg vorgab, da sie die engen Tunnel sehr beklemmend empfand. Doch nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete sich der Gang in eine große Höhle. In der Höhle waren mehrere Gruppen von Wesen, die um einzelne Feuer saßen oder arbeiteten. Es war eine enorme Anzahl von verschiedenen Wesen: Miriam sah Bärenmenschen, Werwölfe, Feen, Zwerge, Trolle und andere Wesen. Eine solche Vielfalt hatte sie an einem einzigen Ort noch nie gesehen. Es beeindruckte sie, wie friedlich alles wirkte. Auch wenn sie im Inneren eines Berges war, hatte sie fast das Gefühl, all das Furchtbare der letzten Wochen wäre nicht passiert.
    Joninn strebte in den hinteren Teil der Höhle, und Prugra und Miriam folgten ihm.
    Dort saß in einer Nische im Fels ein kleiner Drache, alles in allem etwa einen Meter lang. Trotz dieser geringen Körpergröße wirkte er königlich. Joninn stellte ihn Miriam vor: "Das ist Grono. Er ist das Oberhaupt dieser Siedlung und ein großartiger Hellseher. Er hat den Einfall der Dämonen vorher gesehen und er hat auch gewusst, dass ihr heute ankommen würdet." Der Drache begrüßte die beiden. "Setzt Euch zu uns und esst. Danach schlaft Euch aus. Morgen ist dann noch genug Zeit, sich auszutauschen, jetzt aber solltet ihr Euch von Eurer Reise erholen." Miriam war dankbar über diese Einladung. Und so genoss sie den Abend in der friedlichen Atmosphäre, die ihr einiges an verlorener Kraft zurückgab.

  • "Den Kairos zu ergreifen kann uns ebenso zu unserem Schicksal führen wie ihn zu verpassen."


    Während Prugra am nächsten Morgen alle Wesen besuchte, die sie aus ihrer früheren Zeit kannte, setzte sich Miriam zu Grono und berichtete ausführlich von ihrer Reise. Immer wieder unterbrach ihre Erzählungen und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Der Schrecken des Erlebten hatte sich tief in ihr festgesetzt. Grono wartete geduldig und spendete wortlosen Trost. Das half der Meernixe, ihren ihren Bericht zu Ende zu bringen. "Und jetzt kann ich mich bei Euch verstecken, bis Lord Akuma mit seinen Truppen das Land verlassen hat?" fragte sie hoffnungsvoll.
    Grono schüttelt traurig den Kopf: "Das wird er nicht. Er wird ganz Noröm knechten. Viele sind gestorben in den letzten Wochen, noch mehr versklavt, es gibt noch einige Verstecke wie dieses, aber wir werden alle um unsere Freiheit kämpfen müssen. Ich habe Deine Zukunft gesehen. Sie liegt nicht hier, so gerne wie ich Dich hier habe, Miriam. Deine Zukunft liegt anderswo. Zunächst musst Du da draußen versuchen, den anderen zu helfen. Du bist eine Kämpfernatur. Wenn Du Dich dem Kampf nicht stellst, dann werden wir mehr Seelen an die Dämonen verlieren. Ich mache Dir nichts vor, dieser Kampf wird nicht einfach und er wird leidvoll. Aber ich habe in Deiner Zukunft auch gesehen, wie Du eines Tages friedlich und in aller Seelenruhe im Wald unter einem Blaubeerbusch schlafen wirst, während ein Reh neben Dir grast. Ist das keine Aussicht, für die es sich zu kämpfen lohnt?"

  • "Der Kairos ist vieles auf einmal: Der Unerreichbare, der Unbekannte und der Chancenbereiter."


    Miriam saß am Meer und dachte nach. Sie war jetzt seit einer Woche im verborgenen Dorf und hatte sich gut erholt. Ihr Knöchel schmerzte sie nicht mehr und der bohrende Hunger war schon längst gestillt. Im Grunde hatte Grono nur das bestätigt, was sie auch in ihrem Inneren fühlte:
    Sie war nur auf der Durchreise. Der Frieden hier täuschte, denn der Rest von Noröm war in Aufruhr und in Gefahr. Und so freundlich sie hier auch aufgenommen wurde, vermisste sie doch diejenigen, die ihrem Herzen am nächsten waren. Miriam musste zumindest versuchen, ihre Mutter und ihre Tanten im Reich der Nixen zu finden und sie warnen oder ihnen helfen, sich vor den Dämonen zu verstecken. Sie musste an Noreia denken, an Madanja und die anderen des großen Zirkus'.
    Die Welt war anders geworden, aber wenn sie sich hier verkroch, könnte sie sich nicht mehr selbst in die Augen schauen. Noröms Widerstand wartete auf sie, und Grono hatte ihr nur den Anschub gegeben, den sie brauchte. Trotzdem bedauerte sie, diese Oase hinter sich zu lassen. Aber dies war nicht der rechte Augenblick, zu verweilen. Sie würde jetzt am besten zurückgehen, sich von allen verabschieden und morgen in aller Frühe aufbrechen. Sie wusste, das war, was der Kairos von ihr wollte.