Der blaugrüne Stein von Tamalon (Hanswalters Vorgeschichte)

  • [Gut versteckt in der Bibliothek von Professor Bloom befindet sich schon seit einigen Jahren die Vorgeschichte zu meinem Charakter Hanswalter. Als ich mit dem Schreiben begann, war noch geplant, dass sie einmal in dem Profil unter dem Punkt "Herkunft und Geschichte" veröffentlicht werden sollte. Ich wollte eigentlich nur einen kurzen Text schreiben und verzichtete daher auf einen vorherigen Entwurf. Die Ideen kamen mir alle während des Schreibens und es wurden immer mehr. Der Umfang der Geschichte nahm schnell zu und schon bald musste ich erkennen, dass sie wohl den Rahmen eines üblichen Profiltextes gesprengt hätte. Da entdeckte ich die Möglichkeit, die Geschichte in ein Buch im Spiel zu schreiben. Aus einem Buch wurden am Ende vier.


    Eigentlich hatte ich beabsichtigt, den Text ausschließlich als Spielelement bestehen zu lassen, doch ich denke, dass der Umstand, dass man sich mit seinem Charakter im Spiel in der Bibliothek aufhalten muss, um die Geschichte lesen zu können, dazu führt, dass sie kaum jemand liest. Daher und durch Anregung von Miriam Meernixe (siehe hier) habe ich nun beschlossen, sie auch hier im Forum zu veröffentlichen.


    Es würde mich freuen, wenn sich der eine oder andere Leser findet und vielleicht in dem Kommentar-Thread (siehe hier) etwas konstruktive Kritik hinterlässt.]

    Hanswalter öffnet einen Glückskeks und liest folgenden Spruch: Wer zuletzt lacht, hat es als letzter verstanden.


    Falls jemand Langeweile hat: In Professor Blooms Bibliothek steht ein Werk in 4 Bänden zu der Vorgeschichte Hanswalters.

    Einmal editiert, zuletzt von Hanswalter ()

  • Buch 1 - Tavernengeschichten


    „Kennt Ihr die Sage vom blaugrünen Stein von Tamalon?“, pflegte Broccolus Radicius seine Geschichte zu beginnen. Er verbrachte viele Abende in unserer Dorftaverne Zum Bohnernden Hamster und erzählte jedem diese Geschichte, den es interessierte und der ihm die edle Spende von ein, zwei Bierhumpen entgegenbrachte.
    Es mag gut zehn Jahre her sein, als ich ihn das erste Mal traf. Ich musste so um die fünfzehn Jahre alt gewesen sein. Es war abends, ich kam gerade von der Arbeit auf dem Getreidefeld meiner Eltern. Den ganzen Tag hatten wir das Korn geerntet und gedroschen und ich hatte beschlossen, dass ich mir einen Humpen verdient hatte. Im ganzen Königreich Aliquandor gab es kein besseres Bier, wie hier in Sonnental. Zumindest behauptete dies der Großteil der Einwohner dieses beschaulichen Dorfes.
    Broccolus saß neben mir an der Theke. Sechzehn Jahre älter wie ich, großer muskulöser Körper, mit lumpigen Klamotten und einem dunkelbraunen Umhang bekleidet. Kopfhaar und Vollbart waren schwarz und wirkten relativ gepflegt.
    Nach kurzer Zeit kamen wir ins Gespräch.
    „Broccolus Radicius“, stellte er sich vor. „Bergmann und Metallhändler aus Tamalon.“
    „Hanswalter Roggenfeld“, erwiderte ich. „Bauernsohn aus der Gegend.“
    „Erlauben deine Eltern dir denn, dich um diese Zeit noch in der Taverne herumzutreiben?“ Ein sympatisches Lächeln verriet, dass dies keine Mahnung sein sollte.
    „Die schlafen schon. Wenn ich vor dem Morgengrauen zurück bin, wird niemand etwas merken.“
    „Und du dachtest, es wäre eine gute Idee sich einfach davonzuschleichen. Was bewegt denn einen Jungen deines Alters in die Taverne?“
    „Ich denke ich bin alt genug. Ronald vom Nachbarhof hat mir erzählt, dass hier oft Händler und Reisende vorbeikommen, die viele interessante Geschichten aus fernen Ländern zu erzählen haben.“
    „Du möchtest also eine Geschichte hören? “
    „Habt Ihr eine zu erzählen?“
    „Allerdings. Doch ohne die entsprechende Ölung vermag meine Kehle nicht sie hervorzubringen.“
    Ich verstand. „Lasst mich zunächst wissen, wovon sie handelt.“
    „Kennst du die Sage vom blaugrünen Stein von Tamalon?“
    „Ja, davon hat mir mein Vater schon erzählt.“
    Natürlich kannte ich die Sage vom blaugrünen Stein von Tamalon. Wer kannte sie nicht?


    Der blaugrüne Stein von Tamalon, erschaffen durch die Erzmagierin von Aliquandor, Corianda Sativis, und benannt nach dem Ort seiner Entstehung, der Reichshauptstadt Tamalon, war faustgroß, kugelrund und hatte eine mittelgrüne mit königsblau marmorierte Färbung. Geplant hatte die Magierin, ihm Lebenskraft stärkende Eigenschaften zu verleihen, um ihn in ihrem umfangreichen Gemüse- und Kräutergarten als Ersatz für das viele teure Düngemittel einzusetzen. Doch die Verzauberung ging schief. Auffallend war, dass der Stein entgegen Coriandas Erwartung weich wie ein Stoffball geworden war, seine äußerliche Erscheinung aber beibehalten hatte. Er war viel leichter als zuvor. Man konnte ihn beliebig zusammendrücken, nach dem loslassen nahm er immer wieder seine Ursprungsform an. In umfangreichen Testreihen vermochte er nicht seine ursprüngliche Bestimmung zu erfüllen. Überhaupt schien er keinen außergewöhnlichen Nutzen zu haben. So landete er schließlich in der Spielzeugkiste von Norbert, Coriandas stubenreinen Wolf, den sie sich als Haustier hielt.
    Doch einige Tage später, als die Magierin Norbert sein inzwischen liebgewonnenes Spielzeug apportieren ließ, zeigte der Stein seine Fähigkeit, die ihm den sagenwürdigen Ruf verschaffte. Norbert war ihm wieder einmal nachgejagt, nachdem Corianda ihn quer durch ihr geräumiges Wohn- und Arbeitszimmer geworfen hatte, und hatte ihn sanft vom Boden aufgehoben. Dann stand er da, sabberte ihn voll und kaute darauf herum. Als er dann auch noch anfing, ihn wie ein frisch erlegtes Kaninchen hin und her zu schütteln, erstrahlte der Stein in einem hellen blauen Leuchten. Eine ähnlich texturierte Kugel bildete sich auf seiner Oberfläche und breitete sich aus, bis der ganze Wolf in einer riesigen Seifenblase zu stehen schien. Plötzlich war sie wieder verschwunden und mit ihr Norbert. Wie fallen gelassen schlug der Stein herrenlos auf Coriandas Teppichboden.
    Die Magierin war zunächst schockiert. Doch dann machte sie sich daran, herauszufinden, was mit Norbert geschehen war. Einige Wochen später kannte sie die Antwort: der Stein hatte ein Portal zu einer anderen Welt geschaffen und den Wolf aller Wahrscheinlichkeit dorthin transportiert. Wenig später fand Corianda auch heraus, mit welcher Bewegungsabfolge, die Norbert zufälligerweise erraten hatte, sich das Tor öffnen ließ. Sie öffnete das Portal erneut und eilte ihrem Haustier hinterher, um es vor möglichen Gefahren zu retten und bei der Gelegenheit auch die unbekannte Welt zu erkunden. Seitdem wurden Corianda und Norbert nicht mehr gesehen.
    Irgendwann fand eine Bedienstete das Protokollbuch, in dem die Magierin ihre Forschungsergebnisse zu dem Stein festgehalten hatte, und musste gleich ihren Freundinnen und Nachbarinnen davon erzählen. Der übliche Weg, wie Gerüchte und Sagen entstanden.

    Hanswalter öffnet einen Glückskeks und liest folgenden Spruch: Wer zuletzt lacht, hat es als letzter verstanden.


    Falls jemand Langeweile hat: In Professor Blooms Bibliothek steht ein Werk in 4 Bänden zu der Vorgeschichte Hanswalters.

  • Die Geschichte war eine reine Erfindung. Wie konnte so etwas wahr sein? Viele Leute, die ich kannte, hatten sie schon gehört, alle in einer anderen Variante. Doch Broccolus machte Andeutungen, noch einiges mehr über den blaugrünen Stein von Tamalon und Corianda Sativis zu wissen. Also beschloss ich, sein Angebot anzunehmen und seine Kehle mit einem Humpen Bier auf die bevorstehenden Strapazen vorzubereiten.
    „Wie bei solchen Geschichten üblich, wurde auch hier im Verlauf der Weitererzählung einiges hinzugedichtet“, sagte Broccolus, als Hendrik der Wirt ihm den Humpen auf die Theke gestellt hatte. „Aber der Kern der Geschichte ist wahr.“ Mit einer bedeutungsvollen Pause und einem ernsten Blick aus seinen dunkelbraunen ausdrucksstarken Augen schaffte er es, eine spannende, fast mysteriöse Stimmung zu erzeugen. „Ich selbst habe den Stein verwendet.“
    Ich hegte leise Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit, doch es versprach eine gute Geschichte zu werden, weshalb ich es vorzog, ihn nicht zu unterbrechen.
    „Du kannst dir vorstellen, dass das Dienstmädchen, das das Protokollbuch gefunden hatte, nicht lange widerstehen konnte, den Stein selbst auszuprobieren.“ fuhr Broccolus fort. „Ihr Name war Giselle, sie lebte auch in Tamalon. Eines Tages entwendete sie Stein und Buch, um sich zu Hause näher damit beschäftigen zu können. Es dauerte auch nicht lange, bis sie den Dreh raus hatte. Fasziniert begann sie, regelmäßig die Parallelwelt zu besuchen, bis sie schließlich jede freie Minute dort verbrachte. Und Zeit hatte sie ja genug, nach dem Verschwinden ihres Arbeitgebers. Doch allmählich fing sie an, ihre Familie zu vernachlässigen, der sie von dem Stein nichts erzählt hatte. Irgendwann stellte sie ihr Gemahl Horst zur Rede und Giselle packte aus. Sie erzählte ihm und ihrer sechsjährigen Tochter Alisa die ganze Geschichte, wie sie den Stein gefunden und seinen Zweck herausgefunden hatte und dass sie nun fast jeden Tag große Teile ihrer Zeit in einer anderen Welt verbrachte. Sie beschrieb ihnen, wie schön es in der Parallelwelt wäre und das die hiesige Welt dagegen trostlos sei. Horst wollte sich selbst davon überzeugen, ließ seine Frau das Portal öffnen und schritt mit ihr hindurch. Alisa ließen sie zurück.“
    Mitleid legte sich auf Broccolus‘ Gesicht. „Das arme Mädchen wartete und wartete, dass die Eltern bald zurückkommen würden. Erst Stunden später begriff sie, dass sie sie zum letzten Mal gesehen hatte. Halb verhungert wurde sie einige Tage später von den Nachbarn in dem Haus aufgefunden. Von da an wuchs Alisa bei ihnen auf. Immer wieder versuchte sie ihren Zieheltern davon zu überzeugen, dass ein kleiner grüner Ball ihre Eltern gefressen habe. Doch natürlich wurden diese Äußerungen der kindlichen Fantasie zugerechnet und nicht weiter beachtet. So kam es, dass das Mädchen ihre Überzeugungsversuche irgendwann aufgab. Sie kam über das Verschwinden ihrer Eltern hinweg, setzte ihr normales Leben fort und beschloss, nie mehr über den Vorfall zu reden. Während sie bei ihren Zieheltern zu einer hübschen jungen Frau heranwuchs, geriet die Sache immer mehr in Vergessenheit.“
    Der Erzähler nahm einen großen Schluck von seinem Bier. In dieser Redepause fiel mir eine Unklarheit an der Geschichte auf.
    „Wie kommt es“, fragte ich, „dass Ihr davon wisst, wenn das Mädchen beschlossen hatte, nicht mehr davon zu sprechen?“
    Broccolus wischte sich Bierschaum aus dem Bart und lächelte. „Du musst wissen, dass die Sage vom blaugrünen Stein von Tamalon längst nicht so alt ist, wie sie zu sein scheint. Ehrlich gesagt, hatte ich selbst sie auf ein paar Jahrhunderte geschätzt. Den Namen Corianda Sativis hatte ich vorher noch nie gehört. Die letzten Inhaber des Erzmagieramtes waren fast alle männlich. Corianda war bis zu ihrem Verschwinden erst drei Monate im Amt gewesen und daher eher unbekannt. Sie war die direkte Vorgängerin des aktuellen Amtsinhabers Phaseolus Coccineo. Das kleine Mädchen von damals, Alisa, ist heute zweiunddreißig Jahre alt. Sie ist meine Frau.“
    Ich rechnete kurz. „Soll das heißen, dass die Geschichte gerade erst sechsundzwanzig Jahre her ist?“
    „So ist es.“
    „Dann hat Eure Frau Euch die Geschichte also doch erzählt?“
    „Tja, wie du weißt, kommt eine Beziehung irgendwann an einen Punkt, da die Frau meint, man dürfe keine Geheimnisse mehr voreinander haben...“
    „Ich bin fünfzehn. Woher soll ich das wissen?“
    Mit einem schiefen Blick musterte mich mein Gegenüber einen Moment, als sei ihm erst in diesem Moment mein relativ junges Alter aufgefallen.
    „Jedenfalls“, fuhr er fort, „hatte mich Alisa auch eines Tages nach irgendwelchen dunklen Einzelheiten meines Lebens ausgefragt. Du willst nicht wissen, was für Fragen ich beantworten musste...“
    „Mein Vater sagt immer, dass es besser ist, wenn man ehrlich ist.“
    Er lachte wissend. „Ja, in der Tat erst fünfzehn.“
    Damals hatte ich wirklich noch keine Ahnung, was er meinte.

    Hanswalter öffnet einen Glückskeks und liest folgenden Spruch: Wer zuletzt lacht, hat es als letzter verstanden.


    Falls jemand Langeweile hat: In Professor Blooms Bibliothek steht ein Werk in 4 Bänden zu der Vorgeschichte Hanswalters.

  • Broccolus nahm noch einen Schluck. „Wie dem auch sei. Im Verlauf der Unterhaltung erzählte mir Alisa nicht nur von dem Stein, sie zeigte ihn mir auch. Sie hatte ihn all die Jahre aufbewahrt, getarnt als Ball zwischen ihren alten Spielsachen. Auch das Buch hatte sie noch. Ich war ähnlich misstrauisch wie du jetzt, aber sie erzählte mir die Geschichte von dem Verschwinden ihrer Eltern in allen Einzelheiten. Um die letzten Zweifel auszuräumen, bat ich sie den Stein zu aktivieren. Doch sie war dagegen. Sie meinte, es reiche, dass er ihre Eltern auf dem Gewissen habe. Sie wolle mich nicht auch noch verlieren. Ich schaffte es aber dennoch, sie dazu zu überreden, unter den Bedingungen, dass es nur bei diesem einen Mal blieb und sie mich begleiten durfte. So öffnete sie das Portal und wir gingen hindurch.“
    Er machte eine spannungssteigernde Pause.
    „Oh, mein Bier ist ja leer.“
    Dieser Wink mit dem Zaunpfahl glich schon eher einer Tracht Prügel mit selbigem. Ich wollte gerade der unausgesprochenen Forderung nachkommen und Hendrik heranwinken, als mir ein in einen schwarzen bis zum Boden reichenden Mantel gekleideter Mann mit schulterlangen schwarzen Haaren zuvor kam und gleich eine Runde für uns drei bestellte.
    „Entschuldigt“, sagte er, „ich habe Eure Geschichte zufällig mitbekommen.“
    Der Mann hatte ein freundliches Lächeln. Seine funkelnden silbergrauen Augen waren Spiegelbilder seiner offensichtlichen Intelligenz und Scharfsinnigkeit, aber auch einer berechnenden Aufmerksamkeit.
    „Ihr seid ein außergewöhnlicher Erzähler. Habt Ihr etwas dagegen, wenn ich mich zu Euch setze?“
    Broccolus lächelte bescheiden. „Nein, nein. Nehmt ruhig Platz.“
    Der Mann nahm sich einen freien Barhocker und setzte sich zu uns. „Ich habe mich noch nicht vorgestellt. Mein Name ist Johannes Broth. Ihr könnt mich aber einfach Hannes nennen.“
    Wir stellten uns ihm ebenfalls vor.
    „Nun wo war ich stehen geblieben?“, fragte Broccolus. „Ach ja, das Portal. Wir waren also hindurch gegangen. Eigentlich trifft es gehen nicht ganz recht. Wir standen einfach da, Alisa hatte mit dem Stein in der Hand einige Verrenkungen gemacht und schon bildete sich eine leuchtende Blase um uns herum. Als sie kurz darauf wieder verschwunden war, fanden wir uns an einem fremden Ort wieder. Meine Frau hatte den Stein noch in der Hand. Offenbar war bei seiner Erschaffung auch in der anderen Welt ein Exemplar entstanden. Anders kann ich es mir nicht erklären, denn bei den vorherigen Öffnungen des Portals war der dazu verwendete Stein immer in unserer Welt verblieben. Jedenfalls klärte sich somit auch gleich meine Frage, wie wir zurückkehren könnten.“
    „Wie war es denn nun auf der anderen Seite?“, fragte ich ungeduldig.
    „Es war durchaus eine Reise wert. Als wir ankamen, standen wir in einem riesigen Weizenfeld. Der Farbe nach war das Getreide erntereif. Es war angenehm warm. Die Sonne stand irgendwo auf Nachmittag und ließ das ganze Feld golden leuchten. In einiger Entfernung sahen wir eine Gruppe von Gebäuden, einen Bauernhof. Es waren gut gepflegte Fachwerkhäuser, die den Eindruck erweckten gerade erst gebaut worden zu sein. Als wir darauf zugingen, erkannten wir weitere Einzelheiten. Die Häuser waren ringförmig um einen gepflasterten Platz angeordnet. Außen herum verlief eine fast zwei Meter hohe Steinmauer. Die Gebäude dienten unterschiedlichen Zwecken. Zwei davon waren Wohnhäuser, zwei waren Ställe, eines war der Kornspeicher und ein weiteres diente wohl als Geräteschuppen. Eines hatten sie alle gemeinsam: auf ihren Dächern waren hölzerne Plattformen mit Bretterwänden angebracht, die hufeisenförmig über Brücken miteinander verbunden waren. Die Mauer war zu unserer Seite hin durch ein breites offenstehendes Tor unterbrochen, durch das die Zufahrtsstraße führte. Wir gingen darauf zu, um uns auf dem Hof umzusehen. Scheinbar war niemand anwesend, doch wie wir kurz darauf feststellen mussten, war er keineswegs verlassen.“
    Broccolus machte eine dramatische Pause, in der er sich wieder seinem Humpen zuwandte. „Wir traten gerade durch das Tor, als uns plötzlich ein mannshohes Ungeheuer gegenüberstand. Es glich einem mageren Mann mit überlangen Armen. Meine Güte, waren das Arme. Ich wette, er hätte sich im Stehen die Socken hochziehen können, wenn er welche getragen hätte. Überhaupt war er sehr spärlich bekleidet. Nur eine lumpige kurze Hose und ein Paar abgenutzte Lederschuhe bedeckten seine blasse violette Haut. Er grummelte irgendetwas Unverständliches. Mein erster Gedanke war: lauf weg. Aber in dem Moment kam auch schon ein Mensch angelaufen, also so ein richtiger mit normalen Proportionen und Farbtönen. Er sagte uns, wir sollen keine Angst haben, dieser lila Affe, der offenbar auf den Namen Kunibert hörte, würde uns nichts tun, er wolle nur spielen. Der Hinzugekommene stellte sich uns als Herman vor. Er schickte Kunibert davon, irgendwelche Aufgaben erledigen und lud uns in sein Haus ein.“
    „Welche Art Kreatur war denn Kunibert?“, fragte ich interessiert. „Nichts, was ich kenne, passt auf die Beschreibung.“
    „Das erklärte uns Herman bei Tee und Gebäck in seinem Haus. Seine Frau Sieglinde macht übrigens hervorragende Butterkekse. Die hättet Ihr probieren müssen. Es fiel mir schwer, die Etikette zu wahren und nicht umgehend die Schüssel leerzufuttern.“ Broccolus lachte. „Alisa stieß schon dauernd ihr Knie gegen meins und warf mir tadelnde Blicke zu, wenn Sieglinde und Herman gerade nicht hinsahen.“
    Hannes lachte aus Höflichkeit mit.

    Hanswalter öffnet einen Glückskeks und liest folgenden Spruch: Wer zuletzt lacht, hat es als letzter verstanden.


    Falls jemand Langeweile hat: In Professor Blooms Bibliothek steht ein Werk in 4 Bänden zu der Vorgeschichte Hanswalters.

  • „Also“, fuhr Broccolus fort, „dieses Ungeheuer war ein Servator, wie uns Herman dann erklärte.“
    „Servomotor?“, fragte ich. „Hört sich irgendwie nach dem Namen eines Königreichs an.“
    „Oder nach einer Biersorte“, sagte Broccolus erheitert. „Das war zumindest mein erster Gedanke.“
    Wer hätte das Gedacht?
    „Klingt eher nach einer Apparatur, die mir hilft meine Kutsche zu lenken“, scherzte Hannes.
    Was für ein Unsinn.
    „Nun, es war kein Servomotor, sondern ein Servator“, stellte Broccolus richtig. „Herman erklärte uns, dass die Servatoren Nutztiere allererster Güte seien. Sie nähmen den in seiner Welt lebendenden Menschen große Teile der alltäglichen Arbeit ab und hätten viele der Grundfähigkeiten der Menschen, doch mangle es ihnen deutlich an Intelligenz. Dennoch könnten sie mit ihren magischen Fähigkeiten viele Aufgaben wesentlich schneller erledigen wie ein Mensch.“
    „Mangelnde Intelligenz und magische Kräfte zugleich?“, fragte ich. „Das ist doch eigentlich ein Widerspruch.“
    „Das dachten wir auch zunächst. Herman erklärte das so, dass die Servatoren ihre Kräfte wohl eher instinktiv einsetzen. Er forderte uns auf, ihm nach draußen zu folgen, wo er uns seine Herde vorführen wollte. Natürlich kamen wir interessiert der Aufforderung nach. Vor der Tür wurden wir auch schon von dem Gesellen erwartet, der uns am Tor empfangen hatte. Herman zeigte auf die Mauer, die den Hof umfasste und erklärte uns, dass Kunibert und ein Artgenosse sie an nur einem Tag errichtet hätten, zuzüglich zwei weiterer Tage, die sie mit der Materialbeschaffung beschäftigt gewesen seien. Das fand ich dann doch schon sehr beeindruckend. Noch beeindruckender war allerdings, als Herman Kunibert aufforderte, zwei Säcke Korn vom Feld zu ernten, zu verarbeiten und in den Kornspeicher zu bringen. Ich weiß nicht, was du heute geschafft hast, Hanswalter, aber gegen Kunibert hättest du alt ausgesehen. Der Servator ging wortlos in den Geräteschuppen, holte sich zwei Macheten und stellte sich vors Feld. Er ging in die Hocke und fuchtelte mit den Messern herum, dass man lieber nicht daneben gestanden hätte. Ich hätte nicht gedacht, dass sich ein Lebewesen dieser Größe derartig schnell bewegen kann. Dann verschwand Kunibert im Getreide. Nur die Fontänen herumfliegender Getreidehalme ließen ahnen, wo er gerade wütete. Wenige Minuten später hatte er eine ordentliche Klinke in das vorher so beschauliche Feld gefräst. Er rannte zurück in den Schuppen und tauschte die Messer gegen zwei leere Getreidesäcke. Wieder auf dem Feld, stellte er sich mitten auf die nun freigemähte Fläche, legte die Säcke ab und hob beschwörend die Arme gen Himmel, wobei es mich bei diesen Armen nicht gewundert hätte, wenn er ihn auch erreicht hätte. Die herumliegenden Weizenhalme fingen an zu zittern, dann bewegten sie sich langsam auf ihn zu. Sie wurden immer schneller, bis sie schließlich aus allen Richtungen auf ihn einschossen. Am Ende befand sich dort, wo er gestanden hatte, ein riesiger Strohhaufen.“
    Broccolus leerte seinen Humpen und schaute abwechselnd Hannes und mich erwartungsvoll an, sagte aber nichts. Ich tat so, als hätte ich nichts gesehen und Hannes fragte schnell, was Kunibert als nächstes getan hatte.
    Glücklicherweise setzte Broccolus die Geschichte unmittelbar fort. „Kunibert tauchte wieder aus dem Haufen hervor, hustend und sich die Pflanzenreste vom Körper streifend. Er zog die immer noch leeren Säcke hinter sich her und spie einige Strohalme aus. In diesem Moment zweifelte ich weder an seinen magischen Fähigkeiten, noch an seiner Dummheit. Aber auch diesmal schaffte er es, mich zu überraschen. Plötzlich bebte die Erde. Kunibert wandte sich dem Haufen zu und hielt die beiden Säcke hoch. Wie ein Schwarm Hornissen kamen die Weizenkörner aus dem Haufen herausgeflogen. Nachträglich meine ich, mich sogar an ein ohrenbetäubendes Summen zu erinnern. Der Weizenkornschwarm teilte sich vor Kunibert und flog direkt in die Säcke zu beiden Seiten. Dann wurde es wieder ruhig. Der Servator verschloss die Säcke, schwang sie sich über die Schultern und machte sich seelenruhig in Richtung Kornspeicher davon. Erst da fiel mir auf, dass überall leere Getreidehülsen herumlagen. Das Dreschen hatte Kunibert wohl nebenbei erledigt, quasi wie im Fluge.“
    Broccolus lachte über seinen Wortwitz.
    „Als nächstes führte Herman uns zu einem der Ställe. Es war verdächtig dunkel und ruhig darin. Die einzelnen Boxen waren mit Stroh ausgelegt, von Tieren wie Kühen oder Schweinen fehlte aber jede Spur. Dann fiel mir eine Ansammlung von blauen und rosafarbenden Eiern in einer der Boxen auf. Es waren vier oder fünf Stück, alle so hoch wie Melkschemel. Zwei Servatoren saßen daneben und bewachten sie offenbar. Herman erklärte uns, dass aus den Eiern einmal junge Servatoren schlüpfen würden, Weibchen aus den rosafarbenden und Männchen aus den blauen, und dass die beiden ausgewachsenen daneben die Elterntiere seien. Der Stall diente den auf dem Hof gehaltenen Servatoren als Unterkunft. Hier verbrachten sie die Zeit, die sie nicht mit Arbeiten beschäftigt waren. Auf Alisas Anfrage versicherte uns Herman, dass die Servatoren artgerecht gehalten würden und eigentlich ein glückliches Leben führen konnten. Ich denke, meine Frau hatte die Frage gestellt, weil sie dies stark bezweifelte. Mir ging es nicht anders. Doch zumindest schienen die Servatoren alles zum Leben notwendige zu haben.“
    Sein wehmütiger Blick in den leeren Humpen ließ den letzten Satz wie eine Anspielung klingen. Hannes, der seinen Humpen gerade auch geleert hatte, gab schließlich nach und orderte eine neue Runde.

    Hanswalter öffnet einen Glückskeks und liest folgenden Spruch: Wer zuletzt lacht, hat es als letzter verstanden.


    Falls jemand Langeweile hat: In Professor Blooms Bibliothek steht ein Werk in 4 Bänden zu der Vorgeschichte Hanswalters.

  • „Warum haben sich die Servatoren das denn gefallen lassen?“, fragte ich. „Mit ihren Fähigkeiten wären sie doch in der Lage gewesen den Menschen zu entkommen und ein eigenständiges, besseres Dasein zu fristen.“
    „In der Tat wäre es ihnen möglich gewesen den Menschen zu entkommen, wenn es nicht die Halterringe gegeben hätte.“
    „Was ist denn das?“
    „Ein Magier namens Solanus Lycopersa hatte sie einige Jahrzehnte zuvor erfunden. Jeder neugeborene Servator bekommt einen solchen Ring in die Brust gedrückt, von wo aus er bis zum Herz wandert und auf magische Weise damit verschmilzt. Der Halter des jeweiligen Servators besitzt einen gleichen Ring, der das Gegenstück darstellt. Mit ihm hat er die Kontrolle über das Wesen. Für den Servator ist es unmöglich den Ring aus dem Herz zu entfernen, ohne sich selbst dabei zu töten. Auch der Versuch einen Menschen zu töten, wie zum Beispiel den Halter, würde sich sofort tödlich für den Servator auswirken, genauso wie der Versuch den Ring des Halters zu stehlen. Herman zeigte uns einen Schlüsselbund, an dem die Ringe seiner derzeit vier Servatoren hingen.“
    „Das ist ja schon fast Sklaverei.“
    „Nicht nur fast. Doch für die Menschen auf der anderen Seite des Portals war das völlig normal. In den Anfängen mochte das Volk noch geteilter Meinung gewesen sein, aber der größte Teil ließ sich schnell von den Vorteilen, einen oder mehrere Sklaven zu besitzen, überzeugen. Und die Anhänger jüngerer Generationen, wie Herman, waren damit aufgewachsen und kannten es nicht anders. Für Alisa und mich war es hingegen ähnlich schockierend, wie jetzt für dich.“
    „Gab es denn keinerlei Widerstand?“, fragte Hannes.
    „Doch, aber weniger durch die versklavten Servatoren. Die waren ja, wie gesagt, nicht gerade mit Intelligenz gesegnet. Obwohl es, wie uns Herman verständnislos berichtete, auch Fälle gegeben haben soll, in denen Servatoren den Freitod der Sklaverei vorgezogen hätten.“
    Broccolus pausierte, um sich seinem frischen Bier zu widmen.
    „Nachdem wir uns bei Herman nach eventuellem Widerstand erkundigt hatten, wurde er zusehends misstrauischer. Er fragte uns, wo wir herkämen, denn ihm wäre völlig unverständlich, dass jemand noch nie etwas von Servatoren gehört hätte. Ich zog es vor, ihm die Sache mit dem Portal zu verschweigen und nannte schnell Tamalon als Heimat, bevor Alisa etwas sagen konnte. Herman konnte damit erwartungsgemäß nicht viel anfangen und gab sich mit der Aussage zufrieden, dass es eine weit entfernte Stadt sei, was ja im Prinzip nicht einmal gelogen war.“
    „Wie äußerte sich der Widerstand denn dann, wenn die Servatoren nicht dazu in der Lage waren?“, hakte Hannes nach.
    „Nur die versklavten Servatoren waren nicht dazu in der Lage, die wenigen frei lebenden jedoch schon. In der Freiheit konnten sie sich wesentlich besser entwickeln. Die Natur hatte einige von ihnen mit höherer Intelligenz ausgestattet wie die gefangen lebenden Artgenossen. Sie hatten sich in Stämmen organisiert und lebten in entlegenen Gegenden des Landes. Einige dieser Stämme waren der Ansicht ihre Gefangenen Schwestern und Brüder befreien zu müssen. Es hatte schon zahlreiche Übergriffe auf menschliche Siedlungen gegeben, mit Verlusten auf beiden Seiten und nur mäßigem Erfolg. Doch die Botschaft war eindeutig: die Menschen konnten nicht sicher sein, solange sie Servatoren als Sklaven hielten. Herman erzählte uns, wie sein Hof auch schon einige Male Ziel dieser Befreiungsaktionen geworden wäre. Bisher hätte er seinen Hof immer erfolgreich verteidigen können.“
    „Deshalb die Mauer?“, fragte ich.
    „Ja. Und die Plattformen auf den Dächern. Herman erzählte, dass es auf seinem Hof nicht einen Toten gegeben hätte. Vierundzwanzig Jahre zuvor, also heute vor etwa sechsundzwanzig Jahren, hätte sein Vater allerdings die Leichen einer Frau und eines Mannes im Feld gefunden. Der Mangel an äußeren Verletzungen ließe auf Tötung durch Magie schließen. Alisa und mir war sofort klar, dass es sich dabei gut um Giselle und Horst handeln konnte. Das würde auch erklären, wie Coriandas Stein in das Feld geraten war, wo wir hin teleportiert worden waren. Doch sicher war das nicht. Jedenfalls schien Alisa ab diesem Moment überzeugt zu sein, dass ihre Eltern sie damals nicht einfach im Stich gelassen hatten, wie ein Teil von ihr in der Ungewissheit immer gedacht hatte, sondern dass sie in der anderen Welt zu Tode gekommen waren. Das war natürlich nur bedingt trostspendend. Die ganze Wahrheit über den Verbleib ihrer Eltern haben wir jedoch nie erfahren. Was wir aber erfahren haben, war, wie die beiden Menschen auf dem Feld wohl gestorben waren, ob es nun Giselle und Horst waren oder nicht.“
    Hannes und ich sahen Broccolus erwartungsvoll an. Doch der grinste nur.
    „Ich habe drei Biere getrunken. Die Natur ruft“, verkündete er und erhob sich. „Wie es weitergeht erfahrt Ihr nach einer kurzen Unterbrechung.“
    Eine Unterbrechung an einer spannenden Stelle. Sie ist irgendwie nervig, aber man kann auch nicht einfach fortgehen, weil man unbedingt wissen möchte, wie es weitergeht. Ich war wie gefangen auf meinem Barhocker. Hendrik nutzte die Gelegenheit und versuchte, uns seine neuen Schnapssorten anzudrehen. Hatte er sich etwa mit Broccolus abgesprochen? Vielleicht bekam der Erzähler auch noch Geld dafür, dass er die Leute an der Theke hielt und die Umsätze des Wirtes steigerte. Hannes hatte offenbar nichts Besseres zu tun, als auf die Angebote einzugehen. Er genehmigte sich zwei Gläschen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass so eine Unterbrechung noch eine große Zukunft in der Unterhaltungsbranche haben würde.

    Hanswalter öffnet einen Glückskeks und liest folgenden Spruch: Wer zuletzt lacht, hat es als letzter verstanden.


    Falls jemand Langeweile hat: In Professor Blooms Bibliothek steht ein Werk in 4 Bänden zu der Vorgeschichte Hanswalters.

  • Nach gefühlten fünf Stunden kehrte Broccolus endlich zurück. Mit zufriedenem Gesichtsausdruck setzte er sich wieder zu uns und ließ Hendrik ein neues Bier bringen.
    Plötzlich fiel mir eine Frage zu der Geschichte ein, die ich gleich an den Erzähler richtete. „Wie hieß eigentlich die andere Welt, in die das Portal führte?“
    „Wie die Welt hieß, weiß ich nicht, aber Coriandas Buch zufolge hieß das Land, in dem wir gelandet waren, Amoenor.“
    „Weiß man denn, was aus der Magierin geworden ist?“, fragte Hannes. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie auch den Servatoren zum Opfer gefallen ist.“
    „So dumm die versklavten Servatoren auch aussehen mögen, die intelligente Sorte sollte man nicht unterschätzen.“
    Hannes gab sich mit dieser Antwort zufrieden.
    Broccolus überlegte kurz und nahm dann den Faden wieder auf. „Wir waren also in dem Stall auf Hermans Hof, wo er uns seine Servatorenzucht gezeigt hatte. Als wir wieder heraustraten, wurde es schon langsam dunkel und Herman bot uns an, bei ihm zu übernachten. Ich wusste, dass mein eigenes Bett kaum mehr als eine Handbewegung meiner Frau entfernt war, doch da konnte ich nicht hin. Ich hatte Alisa ja versprochen, nur ein einziges Mal durch das Portal zu reisen. Ich wollte aber unbedingt noch mehr über Amoenor und seine Bewohner herausfinden. Also konnte ich die Reise zu diesem Zeitpunkt unmöglich beenden. So beschlossen wir, ich freudig, Alisa widerwillig, Hermans Angebot anzunehmen.“
    „Wie waren denn nun die beiden Menschen auf dem Feld umgekommen?“, fragte ich, gespannt darauf wartend, dass Broccolus endlich seiner Ankündigung von vor der Klopause nachkam.
    „Alles der Reihe nach. Zunächst aßen wir zu Abend und bezogen das Gästezimmer, welches Sieglinde für uns fertig hergerichtet hatte. Sie hatte uns auch noch eine paar von ihren Butterkeksen bereitgestellt. Hatte ich eigentlich schon erwähnt, dass diese Frau wunderbare Butterkekse macht?“
    „Ja, das erwähntet Ihr bereits“, antwortete Hannes.
    „Nun ja. Wir hatten also das Zimmer bezogen. Da es schon spät war, beschlossen wir schlafen zu gehen. Das Bett war äußerst bequem und ich schlief sofort ein. Doch lange hielt mein Schlaf nicht. Irgendwann in der Nacht weckte mich Alisa. Sie hatte irgendein Geräusch vor der Zimmertür gehört und wollte, dass ich mal nachsehen gehe. Eher widerwillig verließ ich das Bett, zog mich an und ging aus dem Zimmer. Trotz der nachtschlafenden Uhrzeit brannte Licht im Haus. Neugierig ging ich die Treppe hinunter in den Koch- und Wohnraum. Am Tisch saßen Herman und drei Männer, die ich nicht kannte, mir dann aber als seine Söhne Torben, Heinz und Malte vorgestellt wurden. Sieglinde stand in der Zimmerecke und kramte in irgendeiner Kiste. Dann ging die Haustür auf und die beiden Hofknechte, die sich als Kevin und Cedric vorstellten, betraten den Raum. Ich fragte, was denn der Anlass der Versammlung sei. Kevin antwortete, dass wohl ein dritter Knecht namens Sören verdächtige Bewegungen im Kornfeld entdeckt habe. Man wolle sich nun bewaffnen und die Verteidigungspositionen einnehmen. Mir fiel auf, dass Kevin und Cedric bereits bewaffnet waren. Über ihren Schultern trugen sie Langbögen und auf ihren Rücken Köcher mit Pfeilen. Sieglinde kam von der Kiste zum Tisch und legte ein paar Fackeln darauf. Die vier sitzenden Männer standen auf, nahmen sich je eine Fackel und gingen zu einem Schrank hinüber, dem sie Armbrüste und Köcher mit Bolzen entnahmen. Herman fragte mich, ob ich mit einer Armbrust umgehen könne und ob ich bereit wäre, unter Umständen in dieser Nacht davon Gebrauch zu machen. Ich hatte zwar noch nie zuvor eine Waffe einsetzen müssen, versicherte aber meine Bereitschaft, mein Leben und das meiner Frau zu verteidigen. Außerdem bot sich so die Gelegenheit, sich für die hervorragende Gastfreundschaft zu revanchieren. Ich ließ mir also eine Armbrust aushändigen und die Bedienung erklären, während die Söhne und die Knechte schon einmal vorgingen. Inzwischen war auch Alisa die Treppe heruntergekommen. Sieglinde bot ihr an, sich mit ihr im Vorratsraum zu verstecken, bis alles vorbei sein würde. Der Vorratsraum lag hinter der Küche und hatte eine zweite Tür, die direkt nach draußen führte. Vor der Tür standen einige Büsche, die bei Bedarf eine heimliche Flucht erleichtern könnten. So versteckten sich die beiden Frauen im Vorratsraum und Herman und ich folgten den anderen Männern. Im Hof standen die vier Servatoren, alle mit je zwei Macheten ausgerüstet. Herman befahl ihnen sich hinter dem geschlossenen Tor bereitzuhalten, während wir Menschen von oben erst einmal beobachten würden, was geschieht. Über eine Leiter an der Hauswand gelangten wir auf den Wehrgang, der über die Dächer aller Gebäude führte. Wir stellten uns zu den Anderen hinter die Bretterbrüstung und sahen in die Richtung, in der die Bewegungen beobachtet worden waren. Die Fackeln hatten wir noch nicht entzündet, um uns nicht zu verraten.“
    Broccolus senkte die Stimme. „Wisst Ihr, es kann ziemlich unheimlich sein, wenn man in beinah völliger Dunkelheit auf mögliche Angreifer wartet. Niemand sagte etwas. Man konnte die Anspannung der Anwesenden förmlich spüren. Aber es schien, als wären wir die einzigen Lebewesen in der Gegend. An der Stelle, auf die Sören gezeigt hatte, war absolut nichts Ungewöhnliches zu sehen. Im ganzen Feld waren nicht einmal abgeknickte Weizenhalme zu erkennen, außer dort, wo Alisa und ich am Nachmittag hergelaufen waren.“

    Hanswalter öffnet einen Glückskeks und liest folgenden Spruch: Wer zuletzt lacht, hat es als letzter verstanden.


    Falls jemand Langeweile hat: In Professor Blooms Bibliothek steht ein Werk in 4 Bänden zu der Vorgeschichte Hanswalters.

  • Die Stimme des Erzählers wechselte in einen dramatischen Klang. „Doch dann sah ich eine Bewegung in eben diesen von uns angelegten Pfad. Es war nur ein flüchtiger Schatten. Man konnte nichts Genaueres erkennen. Ich klopfte Herman, der links neben mir stand, an die Schulter, um ihn darauf aufmerksam zu machen. Aber hatte es bereits selbst entdeckt. Plötzlich glaubte ich, für einen kurzen Moment einen schwachen Blitz gesehen zu haben. Etwas zischte an meinem rechten Ohr vorbei. Reflexartig duckte ich mich hinter die Brüstung. Rechts neben mir fuhr auch Kevin herunter. Doch anders als bei mir, begleitete seine Bewegung ein dumpfes Poltern. Ich dachte noch, was für ein Depp, der wird uns noch alle verraten. Dann sah ich aber, dass er offenbar nicht freiwillig zu Boden gegangen war. Er lag da in einer eigenartigen Verrenkung auf dem Rücken und starrte in den Nachthimmel. Ich begriff, dass er tot war. Aber was hatte ihn getötet? Ein Pfeil oder Bolzen schien mir die einzige Erklärung zu sein, aber davon fehlte jede Spur. Kevin hatte nicht einmal eine Verletzung. Herman versuchte noch, seinen Knecht wieder aufzuwecken, aber er musste schließlich einsehen, dass da nichts mehr zu machen war.“
    „War Kevin von einem Servator getötet worden?“, fragte ich.
    „Ganz recht. Auch Herman erkannte es. Er ließ zwei Leute die Fackeln entzünden und an der Brüstung verteilen, während die übrigen das Feuer erwiderten. Auch ich lud meine Armbrust und reckte mich vorsichtig ein kleines Stück, bis ich gerade über die Brüstung schauen konnte. Von den Angreifern war natürlich nichts mehr zu sehen. Dennoch schoss ich auf Verdacht den soeben geladenen Bolzen auf die Stelle, wo ich die Bewegung gesehen hatte. Die anderen feuerten auch dorthin. Die Bogenschützen verwendeten Feuerpfeile, die sie an den Fackeln entzündeten. Dadurch kam mehr Licht ins Feld. Viel mehr Licht, denn der Weizen fing Feuer.“
    „Habt Ihr die Angreifer ausgeräuchert?“
    „Es liegt nahe, anzunehmen, dass dies der Zweck der Feuerpfeile gewesen sei. Aber wenn Du das Feld gesehen hättest... Es war wirklich riesig. Um schnell genug ein erfolgversprechendes Feuer zu legen, hätte man mit hunderten von Schützen ganze Wagenladungen an Feuerfeilen hineinsemmeln müssen. Aber auch so hätte man aufgrund der begrenzten Reichweite vom Hof aus nicht das gesamte Feld erreichen können. Nein, die Feuer hatten nur den Zweck der Beleuchtung.“
    Broccolus wechselte wieder zu seiner dramatischen Erzählerstimme. „Herman rief nun seinen wartenden Servatoren den Befehl zu, das Feld zu durchkämmen und alle Feinde zu töten. Die Servatoren begannen auch gleich mit der Aufgabe, blieben aber erfolglos. Nur wenig später hörte ich ein lautes Krachen und schreiende Menschen. Einige Meter rechts von mir klaffte eine schrittgroße Lücke im Wehrgang. Die Brocken flogen noch durch die Luft. Dazwischen erkannte ich auch Sören. Im Sturz fiel er auf das Ziegeldach des Nachbargebäudes, rollte hinunter und schlug unten im Hof auf, wo er regungslos liegen blieb. Die Angreifer hatten nun offenbar schwereres Geschütz aufgefahren. Ich wandte meinen Blick wieder dem Feld zu und sah plötzlich etwas, das nur der Verursacher für diese Attacke sein konnte. Es war ein Servator. Er stand im Schein der umliegenden Feuer. Ich konnte eine eigenartige Kriegsbemalung an seinem spärlich bekleideten Körper erkennen. Die Arme hatte er noch auf das Gebäude gerichtet. Erst einen Moment zuvor hatte ich meine Armbrust nachgeladen. Ich zielte so sorgsam, wie es die Zeit zuließ, und drückte ab. Noch bevor der Servator sich wieder im Feld verstecken konnte durchbohrte mein Bolzen seine Schulter. Mehr oder weniger ein Glückstreffer.“
    Broccolus lachte. „Wenn die Viecher nicht so lange Arme hätten, hätte ich ihn wahrscheinlich nicht einmal gesehen.“
    Er wurde wieder ernst. „Natürlich habe ich nicht gerne auf ihn geschossen, aber was sollte ich machen? Sie haben uns schließlich angegriffen.“
    „Durchaus verständlich“, sagte Hannes.
    „Die fanden das weniger verständlich“, fuhr der Erzähler fort. „Ihre Attacken wurden immer verheerender für uns. Weitere magische Geschosse schlugen in das Wohngebäude unter uns und brachten Teile des Daches zum Einsturz. Der verbleibende Knecht Cedric kam dabei ums Leben. Aus dem Haus hörte ich die Schreie der beiden Frauen. Erst da sah ich, dass ein großer Teil der Mauer fehlte. Mit Herman und seinen Söhnen eilte ich die Leiter hinunter und durch die Tür ins Haus. Sieglinde und Alisa kamen uns entgegen. Sie sagten, sie hätten einen bunt bemalten Servator vor dem Fenster des Vorratsraums vorbeilaufen sehen. Herman wollte mit Heinz, Torben und Malte der Sache auf den Grund gehen und verschwand mit ihnen im Vorratsraum. Sie waren kaum fort, als ein Balken vom Dach herabfiel und unmittelbar neben Sieglinde auf den Dielenboden schlug. Sie bekam Panik und rannte den Anderen hinterher. Meine Frau und ich blieben allein zurück. Aber wir blieben nicht lange allein. Plötzlich schlug die vordere Tür auf und ein Servator kam herein. Erleichtert stellten wir jedoch fest, dass es Kunibert war. Er deutete mit einem Finger auf uns, als wollte er uns etwas mitteilen. Aber offenbar galt dieses Handzeichen nicht uns, sondern den beiden Servatoren, die nach ihm durch die Tür kamen. Sie waren keine Sklaven.“

    Hanswalter öffnet einen Glückskeks und liest folgenden Spruch: Wer zuletzt lacht, hat es als letzter verstanden.


    Falls jemand Langeweile hat: In Professor Blooms Bibliothek steht ein Werk in 4 Bänden zu der Vorgeschichte Hanswalters.

  • „Wie seid Ihr aus dieser Situation entkommen?“, fragte ich wissbegierig.
    „Gar nicht“, sagte Broccolus. „Die beiden Servatoren nahmen Alisa und mich gefangen und verließen mit uns den Hof. Sie führten uns in ein nahegelegenes Waldstück, wo sie uns in einen Planwagen steckten und abtransportierten. Am Ende der Fahrt fanden wir uns an einem völlig fremden Ort wieder. Es war ein Dorf voller primitiver Hütten und bunt bemalter Zelte. Überall liefen Servatoren herum. Menschen waren dort nicht zu sehen. Wir wurden in einen großen steinernen Turm geführt. Zunächst dachten wir, es würde sich dabei um ein Gefängnis handeln, aber die edle Möblierung und der flauschige Teppich sprachen dagegen. Aus dem Halbdunkel der Fackelbeleuchtung erschien vor uns eine Frau wie aus dem nichts. Lange blonde Haare, ein weißes, aufwändig besticktes aber dennoch schlicht wirkendes Kleid mit langen Ärmeln, das eher wie eine Robe aussah - vielleicht war es auch eine - und ernste tiefblaue Augen. An ihrer Seite ging ein großer grau befellter Wolf, der Alisa und mich unentwegt anstarrte, aber völlig ruhig blieb.“
    „Corianda Sativis?“, fragte ich.
    „Und Norbert.“
    „Sie hatte also ihren Wolf wiedergefunden?“
    „Ganz genau.“
    „Sagtet Ihr nicht, dass Ihr erst vor zwei Jahren dort gewesen seid?“, fragte Hannes.
    „Ja.“
    „Wie kommt es denn, dass der Wolf dann noch gelebt hat?“
    „Wahrscheinlich aus dem gleichen Grund, warum Corianda noch blonde Haare hatte“, entgegnete Broccolus. „Die Frau ist Magierin. Sie beherrscht Methoden zur Körperverjüngung, von denen andere Frauen nur träumen können.“
    „Was hat sie mit Euch gemacht?“, fragte ich.
    „Nichts Schlimmes. Im Gegenteil. Sie war eigentlich recht freundlich, wie auch Norbert. Der Wolf stupste ständig mit der Schnauze an Alisas Bein. Ihr müsst wissen, meine Frau hatte Angst vor großen Hunden und wurde schon etwas nervös. Aber Corianda erklärte uns, dass er nur an den Ohren gekrault werden wollte. Sie wunderte sich nur, dass er diesen Wunsch sofort bei Alisa geäußert hatte. Normalerweise möge er keine Fremden Leute. Sie mutmaßte, dass es entweder damit zusammenhinge, dass sie ziemliche Ähnlichkeit mit einer ehemaligen Bediensteten hätte oder dass wir Spuren ihrer Magie an uns tragen würden, was auch der Grund sei, warum uns die Servatoren zu ihr gebracht hatten. Sie fragte uns, wo wir herkämen. Also erzählten wir ihr, dass Giselle Alisas Mutter war und sie dadurch an ihren Teleporterstein gekommen war, den wir dann benutzt hatten. Sie wirkte sehr interessiert und fragte, wo sich die Steine jeweils in den beiden Welten befänden. Auch darauf antworteten wir wahrheitsgemäß.“
    „Hätte sie ihre eigene Magie nicht selber aufspüren können?“, fragte Hannes.
    „Diese Frage stellte ich ihr auch. Sie meinte aber, dass sie bei ihrer Ankunft in Amoenor von einer Überzahl feindseliger Magier angegriffen worden sei. Sie hätte entkommen können, hätte dabei aber den Stein verloren. Als sie später nochmal zurückgekehrt sei, wäre der Stein nicht mehr auffindbar gewesen. Einer der Magier müsse ihn wohl an sich genommen haben.“
    „Wie ist er dann in das Feld gelangt?“, fragte ich.
    „Die einzige Erklärung ist, dass meine Schwiegermutter ihn nach ihrer Teleportation bei dem betreffenden Magier gefunden hatte und unbemerkt entwenden konnte.“
    Broccolus leerte seinen Humpen und ließ sich einen neuen bringen.
    „Nachdem wir also Corianda von dem Verbleib ihrer Steine berichtet hatten“, setzte er die Geschichte fort, „bat sie die beiden Servatoren, die uns hergebracht hatten, nach dem Stein im Feld zu suchen und ihn zu ihr zu bringen. Sie erklärte uns, dass die Severatoren in dem Dorf freie Verbündete wären und sie ihnen keine Befehle erteile, sondern sie um die Erledigung von Aufgaben bitten würde. Im Gegenzug helfe sie ihnen, ihre versklavten Artgenossen zu befreien. Sie hatte wohl einen Weg gefunden die Halterringe verletzungsfrei aus den Herzen zu entfernen. Die Dorfbewohner entführten also die Sklaven aus den menschlichen Siedlungen und brachten sie zu Corianda Sativis. Nur zu gerne entfernte sie die Ringe, denn auch sie hielt nicht viel von Sklaverei. Während unserer Unterhaltung wurden Kunibert, seine Kumpels und die Eier aus dem Stall hereingebracht. Corianda ließ sie in einen benachbarten Raum bringen, wo sie sich dann um sie kümmern würde. Etwas später kehrten auch die Servatoren zurück, die sich der Suche nach dem Stein angenommen hatten. Da hörte ich zum ersten Mal einen von ihnen sprechen. Mit einer tiefen grollenden Stimme verkündete er, den Stein gefunden zu haben.“
    „Corianda hat also den Stein wieder in ihrem Besitz?“, fragte Hannes.
    „Ja, der müsste jetzt irgendwo in dem Turm liegen.“
    „Hat sie ihn auch wieder benutzt?“
    „Ja. Nachdem sie sich um Hermans Servatoren gekümmert hatte, begleitete sie Alisa und mich wieder in diese Welt. Bevor sie sich verabschiedete, erzählte sie uns, dass sie mit dem Gegenstück des Steins in dieser Welt zum Magierturm in Tamalon gehen würde, wo ihr Nachfolger ihn sicher verwahren solle, sobald sie wieder nach Amoenor zurückgekehrt sei.“
    „Also liegt der blaugrüne Stein von Tamalon nun wieder am Ort seiner Entstehung“, schloss Hannes.
    „Warum hat Corianda sich entschieden nach Amoenor zurückzukehren und die Steine zu verstecken?“, wollte ich wissen.
    „Sie meinte, dass sie dort mehr gebraucht würde als hier“, sagte Broccolus. „Mit der sicheren Verwahrung der Steine wolle sie verhindern, dass weitere Menschen oder auch Servatoren von einer Welt zur anderen gelangen können. Es hätte unvorhersehbare Folgen und würde die beiden Welten zu sehr beeinflussen.“
    „Beeinflusst sie mit ihrer Anwesenheit die andere Welt nicht auch?“
    Broccolus zuckte mit den Schultern. „Sie sagte nur, sie wisse was sie tut.“

    Hanswalter öffnet einen Glückskeks und liest folgenden Spruch: Wer zuletzt lacht, hat es als letzter verstanden.


    Falls jemand Langeweile hat: In Professor Blooms Bibliothek steht ein Werk in 4 Bänden zu der Vorgeschichte Hanswalters.

  • „Was geschah dann? Seid Ihr nicht mehr nach Amoenor gereist?“
    „Nein.“
    „Was ist denn mit den Servatoren geschehen?“
    „Ich vermute mal, dass sie noch immer um ihre Freiheit kämpfen. Genaueres kann ich dazu leider nicht sagen. Meine Frau und ich leben wieder friedlich in Tamalon und gehen unserer alltäglichen Arbeit nach. Ich bin gerade auf dem Rückweg dorthin. Ich war in einigen Städten südlich von hier und habe Eisen verkauft. Alisa hat die Stelle ihrer Mutter übernommen und arbeitet für den aktuellen Erzmagier.“
    Ich erinnerte mich, dass Broccolus sich als Bergmann und Metallhändler vorgestellt hatte. Ein sehr interessanter Beruf. Schon als Kind hatte ich davon geträumt, in entlegenen Gegenden nach seltenen Edelmetallen zu suchen und damit viel Geld zu verdienen. Früher war ich oft mit Ronald in einer verlassenen Kupfermine in der Nähe von Sonnental gewesen. Wir wollten dort unser Glück versuchen, aber bis auf ein paar Kupfererzbrocken haben wir dort nichts Besonderes gefunden. Nun bot sich mir möglicherweise die Gelegenheit, ein richtiger Bergmann zu werden. Mein Vater, Hans Roggenfeld, drängte mich schon dauernd, endlich eine ordentliche Ausbildung zu beginnen. Ich sollte zwar später den Hof übernehmen, aber er meinte, dass es besser wäre, auch eigenständig etwas zu erreichen.
    Also ergriff ich die Gelegenheit beim Schopfe.
    „Ihr sucht nicht zufällig noch einen Lehrling“, fragte ich Broccolus.
    „Ich könnte in der Tat eine helfende Hand gebrauchen“, sagte er und musterte mich. „Du siehst so aus, als könntest du eine Spitzhacke heben.“
    „Das heißt, Ihr würdet mich als Euren Lehrling annehmen?“
    „Wenn du interessiert bist. Ich reise morgen früh weiter. Erledige, was du hier noch zu erledigen hast und sei morgen früh wieder hier, dann nehme ich dich mit.“
    Ich kehrte sofort heim, weckte meine Eltern und erzählte Ihnen von Broccolus und seinem Angebot.
    „Broccolus?“, fragte mein Vater. „Meinst du den Typen, der gelegentlich im Bohnernden Hamster residiert und immer diese Geschichte über einen Stein erzählt?“
    Ich bejahte.
    Mein Vater meinte darauf, dass ich diesem Bergmann seine Geschichten nicht unbedingt glauben solle. Doch ansonsten hielt er ihn für einen aufrichtigen Menschen, der etwas von seinem Handwerk verstehe. Er freute sich, dass ich bei ihm eine Lehre beginnen wollte. Ich könne Einiges von ihm lernen, auch außerberuflich.
    Meine Mutter Waltraud schien hingegen weniger erfreut zu sein, eher besorgt. Sie sagte dauernd solche Dinge wie „Bist du dir wirklich sicher?“, „Du bist doch noch zu jung, um so weit weg zu gehen.“ und „Wer soll sich denn um dich kümmern, wenn mal was ist?“.
    Doch mein Vater beruhigte sie. Ich sei alt genug, um eigene Erfahrungen zu sammeln.
    Ich war sehr aufgeregt und schlief in dieser Nacht nur wenige Stunden.
    Meine Mutter schien hingegen gar nicht geschlafen zu haben, als ich mich am folgenden Morgen von meinen Eltern verabschiedete. Ich hatte meinen großen Rucksack und meinen Reisebeutel mit allem Wichtigen gepackt, aber meine Mutter bestand darauf, noch diverse Lebensmittel hineinquetschen zu müssen. Bevor sie mich gehen ließ, musste ich ihr mehrfach versprechen regelmäßig zu schreiben.
    Mein Vater gab mir zum Abschied einen Beutel, gefüllt mit ein paar Münzen, und einen alten Kompass mit, den er vor einiger Zeit erworben, aber eigentlich nie gebraucht hatte. Möglicherweise könne ich mehr damit anfangen.
    Ich bedankte mich und machte mich auf den Weg zur Taverne.

    Hanswalter öffnet einen Glückskeks und liest folgenden Spruch: Wer zuletzt lacht, hat es als letzter verstanden.


    Falls jemand Langeweile hat: In Professor Blooms Bibliothek steht ein Werk in 4 Bänden zu der Vorgeschichte Hanswalters.

  • Buch 2 - Die dunkle Bedrohung


    Vor der Taverne wartete Broccolus bereits auf mich.
    „Da bist du ja“, sagte er.
    Er saß auf einem vierrädrigen Planwagen und hielt die Zügel des Zugpferdes in den Händen. Es war ein eigenartiges Tier. Ich hatte noch nie ein Pferd gesehen, das am ganzen Körper schwarz-weiß gestreift war.
    „Das ist Bruno“, meinte Broccolus, als er meine verwunderten Blicke bemerkte. „Er ist mir in der Nähe der großen Steppe südlich von hier, der Arida-Ebene, zugelaufen.“
    Ich stieg auf den Wagen und nahm neben meinem baldigen Meister Platz.
    Dieser bewegte Bruno mittels Zügel dazu sich fortzubewegen.
    „Wenn wir gut durchkommen, sind wir morgen Nachmittag schon in Tamalon“, prognostizierte er.
    Als ich meine Sachen hinter mir im Laderaum verstaute, bemerkte ich dort ein kleines Bierfass, welches Hendriks Namen trug.
    „Reiseproviant“, meinte Broccolus grinsend.
    Der Weg nach Tamalon führte in Richtung Norden über unzählige Getreidefelder aus dem Sonnental heraus. Danach folgten einige Hügelwiesen und ein großer dunkler Wald. Am anderen Ende des Waldes lag ein kleines Holzfällerdorf, welches wir pünktlich zum Einbruch der Dämmerung erreichten. Wir übernachteten Dort und setzten unsere Reise erst bei Sonnenaufgang fort. Die Straße, die wir entlangfuhren, führte uns an der Stadt Rübenhagen vorbei, der nächstgrößeren Ansiedlung außerhalb meines Dorfes. Die hohen Gebäude, die über die Stadtmauer hinaus zu sehen waren, machten einen imposanten Eindruck. Broccolus meinte jedoch, dass dies nichts wär, im Vergleich zu Tamalon.
    Hinter Rübenhagen wurde die Landschaft immer felsiger. Eigenartige weiße Vögel kreisten in der Luft, die allmählich salzig zu riechen begann. Nachdem wir einen großen Felsbogen passiert hatten, waren ein tiefes Grollen und Rauschen zu hören. Nach der nächsten Kurve sah ich dann die Ursache.
    Die Straße führte eine hohe Klippe entlang, unterhalb der die Wellen des Ozeans an steinigen Felsen brandeten. Ich hatte noch nie zuvor das Meer gesehen. Bis zum westlichen Horizont gab es nichts als Wasser. Es war ein eindrucksvoller Anblick.
    Eine ganze Weile fuhren wir diese Klippe entlang, bis die Straße wieder weiter ins Landesinnere führte. Von da an lag eine kleinere zerklüftete Gebirgskette zwischen uns und dem Meer.
    Am Nachmittag kam schließlich Tamalon in Sichtweite. Broccolus hatte Recht gehabt. Rübenhagen war winzig dagegen. Wie eine Festung ragte die Hauptstadt vor uns auf, eingebettet in die Gebirgskette. Die baumhohe Stadtmauer schloss links und rechts an die Berge an und glich so den Einschnitt in die Felsen ein wenig aus. Hinter der Mauer waren nur ein paar der größeren Gebäude zu sehen. Der Rest wurde offenbar schlichtweg von ihr verborgen. Doch auch auf den angrenzenden Bergen standen einige Gebäude. Eines davon war ein solider runder Turm auf einem Plateau in den Bergen links von der Stadt. Seine Spitze war ein leicht über den Grundriss ragendes sechseckiges Gemäuer mit hohen Fenstern und einem Spitzdach. Broccolus erklärte mir, dass dies der Magierturm von Tamalon sei. In den Bergen rechts von der Stadt stand der Palast von König Optimus XVII. Er war riesig und prunkvoll. Doch obwohl er etwa auf gleicher Geländehöhe wie der Magierturm errichtet worden war, wurde er von diesem noch überragt.
    Broccolus steuerte den Wagen auf das gewaltige Stadttor zu. Auf den letzten paar Metern konnte man bereits in die Stadt hineinsehen. Eine breite gepflasterte Straße schien vom Tor aus bis zum anderen Ende der Stadt zu führen. Die Torwachen grüßten freundlich und ließen uns passieren.
    Das Kopfsteinpflaster in der Stadt war erstaunlich eben. Zu beiden Seiten der Straße standen gut gepflegte Fachwerkhäuser, die teilweise bis zu vier Etagen hoch waren. Wir fuhren weiter bis wir zum Marktplatz kamen. Hinter etlichen Marktständen stand zu unserer linken Seite das Rathaus und rechts eine eindrucksvolle Kathedrale. Dann führte die Straße auf das Hafenviertel zu. Einige Schiffe verschiedener Größen lagen vor der Kaimauer. Die Häuser in diesem Teil der Stadt waren wesentlicher kleiner und ungepflegter als die Häuser im Inneren Teil. Teilweise waren es nur baufällige Holzhütten. Offenbar lebten hier die Bürger, die mit geringeren finanziellen Mitteln auskommen mussten.
    Aber unsere Fahrt führte nicht in den Hafen hinein. Broccolus bog vorher nach rechts in eine Seitenstraße ab. So kamen wir in eine ruhige Gegen der Stadt, in der offenbar einige Handwerker beheimatet waren. Hier fanden sich Schmieden, Tischlereien, Bäckereien und vieles mehr. Wir hielten vor einem dieser beschaulichen in Fachwerk-Bauart errichteten Häuser, über dessen Tür ein Schild mit der Aufschrift „Broccolus‘ Metallhandel“ hing.
    „Da wären wir“, sagte Broccolus.

    Hanswalter öffnet einen Glückskeks und liest folgenden Spruch: Wer zuletzt lacht, hat es als letzter verstanden.


    Falls jemand Langeweile hat: In Professor Blooms Bibliothek steht ein Werk in 4 Bänden zu der Vorgeschichte Hanswalters.

    Einmal editiert, zuletzt von Hanswalter ()

  • Die Tür des Hauses ging auf und eine schwarzhaarige junge Frau mittleren Alters trat freudestrahlend heraus. Das orange-rote Gewand, das sie trug, stand ihr ausgezeichnet und hob ihre natürliche Schönheit hervor.
    „Alisa!“, rief Broccolus fröhlich, ging zu ihr herüber und umarmte sie. „Das ist meine Frau Alisa“, stellte er sie mir vor. „Alisa, das ist mein neuer Lehrling Hanswalter.“
    „Ihr kommt gerade Recht“, sagte Alisa am Ende dieser Begrüßungszeremonie, „die Kekse müssten jeden Augenblick fertig sein. Ich gehe mal eben nach ihnen schauen.“
    Doch anstatt zurück ins Haus zu gehen, machte sie sich auf den Weg zu einem kleinen Nachbargebäude rechts neben dem Haus.
    „Hast du schon wieder meinen Schmelzofen zum Backen benutzt?“, fragte Broccolus.
    Alisa lächelte entschuldigend. „Nun ja, der Ofen in der Küche ist zu klein für so viele Kekse. Du und Manfred futtert die Dinger ja, als ob wir sonst nichts zu essen hätten.“
    „Keiner macht Sieglindes Butterkekse so gut wie du, außer Sieglinde selbst.“
    Er wandte sich zu mir. „Sieglinde war die Bäuerin in Amoenor, von der ich dir erzählt hatte. Ihre Butterkekse waren einfach göttlich. Glücklicherweise hat sie Alisa das Rezept gegeben.“
    „Es würde Manfred und dir nicht schaden etwas mehr Obst und Gemüse zu essen“, sagte Alisa.
    „Äh... übrigens, Manfred ist mein Geselle“, klärte Broccolus mich auf, um vom Thema seiner Frau abzulenken. „Wo ist er eigentlich?“
    „Ich hab ihn zum Markt geschickt. Unsere Butter geht zur Neige.“
    Dem Wort Butter unterlag dabei eine besondere Betonung.
    Broccolus stöhnte auf „Alisa, ich habe den Mann eingestellt damit er Eisen schmilzt und nicht um die Einkäufe zu erledigen.“
    „Wer soll mir denn sonst im Haushalt helfen, wenn du nicht da bist?“ Alisa lächelte ihn herausfordernd an.
    Ratloses Schweigen.
    „Wo wir gerade beim Thema sind:“, fuhr sie fort, „du könntest gleich mal den Müll raustragen.“
    „Und du könntest mal deine Briketts aus meinem Ofen holen“, entgegnete er.
    „Meine was?“, fragte sie. Dann schlug sie die Hände an ihren Kopf und rief: „Aaah, meine Kekse!“
    Im Laufschritt verschwand sie in dem Nachbargebäude.
    „Ja!“, rief Broccolus triumphierend - aber leise, damit Alisa ihn nicht hören konnte - und machte die dazugehörige ruckartige Armbewegung mit geballter Faust.
    Ich hatte schon einige Streitereien miterlebt, aber diese Auseinandersetzung war einzigartig. Sie wirkte überhaupt nicht ernst gemeint. Es kam mir eher so vor, als würden sich die Beiden aus Spaß nur gegenseitig ein wenig ärgern wollen.
    „Lade schon einmal den Wagen ab“, sagte Broccolus. „Ich komme gleich zurück.“
    „Wo geht Ihr hin?“ fragte ich neugierig.
    „Was denkst du? Den Müll raustragen, natürlich.“
    Alisa kam wieder aus dem Gebäude, in dem sich offenbar der Schmelzofen befand. Mit dicken Handschuhen an den Händen und einem glücklichen Gesichtsausdruck trug sie ein Backblech vor sich her. Die Butterkekse hatten allem Anschein nach doch noch dem Hitzetod entkommen können.
    „Ich würde dir ja gerne welche anbieten“, sagte sie zu mir, „aber sie müssen erst etwas abkühlen.“
    Dann verschwand sie mit ihren Keksen im Haus.
    Beim Abladen der wenigen Dinge, die sich auf der Ladefläche befanden, fiel mir der Kompass meines Vaters in die Hände. Wie es aussah, hatte er die Fahrt nicht gut überstanden, denn ich musste feststellen dass er nun nicht mehr dahin zeigte, wo eigentlich Norden sein müsste. Er zeigte vielmehr in Richtung Südwest. Mit einem Schulterzucken steckte ich ihn wieder ein.
    Als mein Meister nach einer Weile zurückkehrte, griff er nach Brunos Zaumzeug und führte ihn samt Wagen zu einem kleinen Stall links neben dem Wohnhaus. Darin war genug Platz, um sowohl das Pferd, als auch den Wagen unterzubringen, natürlich getrennt voneinander.
    Anschließend zeigte mein Meister mir das Zimmer, in dem ich die nächsten Jahre wohnen würde. Es war nicht besonders groß, aber gemütlich. Ich packte direkt meine Sachen aus und richtete mich ein.
    Nach dem Abendessen, bei dem ich auch Manfred kennengelernt hatte, bot sich mir die Gelegenheit von Alisas Butterkeksen nach Sieglindes Rezept zu probieren. Ich konnte sofort Broccolus‘ Schwärmerei für dieses Gebäck nachvollziehen.
    Am nächsten Morgen begann dann meine Ausbildung. Broccolus fuhr mit mir in die nahegelegenen Berge zu seiner Eisenerzmine. Er zeigte mir, wie ich mit einer Spitzhacke das Erz aus den Felsen bekam. Gegen Mittag fuhren wir mit einem Eimer voll Eisenerz zurück zum Haus, wo wir erst einmal einen von Alisa bereiteten Imbiss genießen durften. Anschließend führte Broccolus mir vor, wie man das Erz zu kleinen Barren schmolz.
    Die Werktage der nächsten Monate verliefen in ähnlicher Weise. Wobei es aber oft auch etwas Abwechslung und immer etwas Neues für mich zu lernen gab. So zeigte mein Meister mir unter anderem auch, die Gewinnung und Verarbeitung anderer Metalle. Mehrere Male fuhr er mit mir in andere Städte, um seine Metalle zu verkaufen, die er in Tamalon nicht loswurde. Auf diese Weise lernte ich einige neue Ecken von Aliquandor kennen. Natürlich schrieb ich regelmäßig meinen Eltern, wie ich es versprochen hatte und besuchte sie gelegentlich. Sie freuten sich, dass ich einen Beruf gefunden hatte, der mir Spaß macht und dass ich bei so netten Menschen untergekommen sei.

    Hanswalter öffnet einen Glückskeks und liest folgenden Spruch: Wer zuletzt lacht, hat es als letzter verstanden.


    Falls jemand Langeweile hat: In Professor Blooms Bibliothek steht ein Werk in 4 Bänden zu der Vorgeschichte Hanswalters.

  • Meine Ausbildung dauerte vier Jahre. Danach entschied ich mich, bei Broccolus zu bleiben und sein Geselle zu werden. Mein Meister hatte inzwischen das Angebot seines Betriebs erweitert, indem er sich zum Schmied hatte weiterbilden lassen. Auch hier begann ich, mit großem Interesse in seine Fußstapfen zu treten. Später, wenn wir unseren Meistergrad in einem seiner Fachgebiete errungen hätten, wollte Broccolus Manfred und mich sogar zu seinen Partnern machen.
    Eigentlich verlief alles bestens und ich war glücklich und zufrieden.
    Bis zu diesem einen Tag, vor fast zwei Jahren.
    Am Morgen dieses Tages, als Alisa gerade zu ihrer Arbeitsstelle im Magierturm aufbrechen wollte, traf sie kurz vor der Haustür auf einen ihr unbekannten Mann in einem langen schwarzen Umhang.
    Broccolus, Manfred und ich saßen noch am Frühstückstisch, als wir sie draußen mit ihm reden hörten. Mein Meister stand auf und ging zur Tür hinaus. Ich folgte ihm.
    „Ah, Broccolus Radicius“, sagte der Mann. „Und Hanswalter, richtig? So sieht man sich wieder.“
    Ich erkannte den Mann erst, als Broccolus seinen Namen aussprach.
    „Johannes Broth?“, fragte er. „Was treibt Euch in diese Gegend?“
    „Ihr erinnert Euch vielleicht noch an die Geschichte, die Ihr vor einiger Zeit in einer kleinen Taverne in Sonnental erzählt habt.“
    „Die Geschichte von dem blaugrünen Stein von Tamalon?“
    „Genau. Ihr sagtet seinerzeit, dass der Stein sicher im Magierturm verwahrt werde.“
    „Das ist der Stand meiner Kenntnisse, ja.“
    „Nun, ich denke, er liegt jetzt schon lange genug dort drin.“ Ein unheilvolles Lächeln erschien auf Hannes‘ Lippen.
    „Ihr wollt ihn stehlen?“, fragte Broccolus überrascht. „Warum?“
    „Vor über vierunddreißig Jahren kam ich hierher. Es sollte eigentlich nur ein kurzer Besuch werden, aber als ich wieder abreisen wollte, war der Stein aus dem Magierturm verschwunden. Dank Eurer Geschichte weiß ich nun auch aus welchem Grund. Ich nutzte die Gelegenheit, mir Eure Welt etwas genauer anzusehen und habe viele interessante Dinge erfahren. Aber nun ist meine Arbeit hier beendet und es wird Zeit für mich, nach Hause zu zurückzukehren.“
    „Ihr kommt aus Amoenor?“, fragte ich.
    Hannes sparte sich die Antwort und lächelte nur finster.
    „Wie stellt Ihr Euch das vor?“, fragte Broccolus weiter. „Ihr könnt nicht einfach so in den Turm marschieren, als wäre er eine Taverne. Seitdem der Nachfolger der damaligen Erzmagierin im Amt ist, gibt es dort unzählige Sicherheitsmaßnahmen, um unerwünschte Eindringlinge fern zu halten.“
    „Aus diesem Grund bin ich hier.“ Hannes‘ Lächeln wurde immer breiter und mir immer unwohler. „Eure Frau hat Zugang zu dem Turm. Sie kann mich dort hineinbringen.“
    „Das werde ich aber nicht tun“, sagte Alisa entschieden. „Meine Loyalität diesbezüglich gehört allein Erzmagier Coccineo.“
    „Ich habe damit gerechnet, dass Ihr das sagen würdet, Weib.“ Hannes wandte sich zu Broccolus. „Ihr habt doch nichts dagegen, wenn ich Eure Frau eine Weile entführe?“
    Broccolus wurde langsam etwas ungehalten. „Ihr werdet schön Eure Finger von ihr lassen.“
    Hannes lachte auf. „Wollt Ihr mich etwa daran hindern?“
    Von einem Moment zum nächsten hatte Broccolus einen Schmiedehammer in der Hand und schritt damit auf Hannes zu.
    „Ihr verlasst sofort meinen Boden“, drohte er. „Und solltet Ihr es wagen, meiner Frau zu nahe zu kommen, werde ich Euch den Schädel einschlagen.“
    Es war ein eindrucksvoller Auftritt meines Meisters, der wohl jeden gewöhnlichen Ganoven veranlasst hätte, die Flucht zu ergreifen. Aber dieser schwarz gekleidete Mann war kein gewöhnlicher Ganove. Er lachte nur, rührte sich aber nicht.
    Als Broccolus nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war, streckte Hannes ihm seinen rechten Arm mit offener Handfläche entgegen. Wie von einem Pferd getreten wurde Broccolus plötzlich einige Meter zurückgestoßen. Als er an mir vorbeiflog spürte ich eine Druckwelle, die mich nötigte, es meinem Meister gleich zu tun und mich mit dem Rücken gegen die Hauswand prallen ließ.
    Hannes packte Alisa am Arm und zerrte sie davon.
    „Geh rein zu Manfred“, sagte Broccolus als er sich wieder aufgerappelt hatte. „Ihr bewacht das Haus während ich weg bin.“
    „Werdet Ihr Hannes und Alisa folgen?“, fragte ich.
    „Genau das habe ich vor.“ Er nahm seinen Hammer und eilte den beiden hinterher.
    Ich hätte gerne gesehen, wie mein Meister sich mit einem Magier anlegt, nur mit einem Hammer bewaffnet. Möglicherweise hätte ich ihm auch behilflich sein können. Doch nach seiner Aussage hatte das Haus wohl Bedarf, bewacht zu werden. Warum auch immer. Aber würde es nicht auch genügen, wenn nur einer von uns hier bliebe?
    Als ich zur Tür hineinging stieß ich fast mit Manfred zusammen, der offenbar gerade herauskommen wollte.
    „Was ist los?“, fragte er.
    „Alisa wurde entführt“, antwortete ich. „Der Meister und ich verfolgen den Entführer. Du sollst auf das Haus aufpassen.“
    „Alles klar. Viel Erfolg.“
    So nahm ich mir ebenfalls einen Schmiedehammer und lief in die Richtung, in die Broccolus verschwunden war.

    Hanswalter öffnet einen Glückskeks und liest folgenden Spruch: Wer zuletzt lacht, hat es als letzter verstanden.


    Falls jemand Langeweile hat: In Professor Blooms Bibliothek steht ein Werk in 4 Bänden zu der Vorgeschichte Hanswalters.

  • Um zum Magierturm zu gelangen, musste ich fast durch die ganze Stadt laufen und einen steilen Bergpfad zum Plateau hinaufsteigen. Als ich dann vor dem Turm stand, fiel mir sofort die offenstehende Vordertür auf. Es war niemand dort, außer mir. Die Anderen mussten wohl schon im Turm sein.
    Vorsichtig schritt ich durch die Tür und gelangte in eine dunkle steinerne Eingangshalle. Von einer Wendeltreppe an der Seite her hörte ich Stimmen. Sie kamen aus dem Keller. Eilig schlich ich die Stufen hinunter. Die Stimmen verstummten plötzlich. Den Griff des Hammers fest umklammert machte ich die letzten Schritte, die mich in das durch Fackeln beleuchtete Kellergewölbe führten.
    Ich erschrak als ich plötzlich einen Mann mit dunklem Umhang vor mir stehen sah. Auf den zweiten Blick bemerkte ich jedoch seine grauhaarige Frisur und den langen gleichfarbigen Spitzbart.
    „Seid... seid Ihr der Erzmagier...?“, fragte ich unsicher.
    „Phaseolus Coccineo, der bin ich“, sagte er, „und ich frage mich, was all die Menschen plötzlich in meinem Turm zu suchen haben. Vierunddreißig Jahre lang herrschten Frieden und Ordnung und jetzt kommt einer nach dem anderen hierher und vergreift sich an den Portalsteinen. Wollt Ihr Euch etwa auch durch den gelben Stein teleportieren?“
    „Ähm...also...“ Weiter kam ich nicht.
    „Man kann es den Leuten nicht oft genug sagen: Teleportersteine sind kein Spielzeug.“ Coccineo wirkte sehr aufgebracht. „Gegen einen harmlosen Spaziergang in eine andere Welt wäre ja nichts einzuwenden, wenn man dabei nur nicht die Signatur der heimischen Magie mit sich schleppen würde.“
    Er fuchtelte mit den Armen. „Nicht-Magier können sich überhaupt nicht vorstellen, welche Folgen es haben könnte, wenn man in der anderen Welt den falschen Leuten in die Hände fällt. Ein fähiger Magiekundiger mit dunklen Absichten, der in der Lage ist, die Wesenheiten der magischen Grundgerüste zweier Welten zu kombinieren, könnte mit diesem Wissen unvorhersehbaren Schaden in den betreffenden Welten anrichten.“
    Coccineo sah mich mahnend an, als wäre ich Schuld an allem. „Wisst Ihr, die ehrenwerte Magierin Sativis und ich arbeiten schon seit Jahren an einem wirksamen Schutz gegen diese Gefahr. Jetzt, wo wir endlich Fortschritte machen, kommen so ein paar Leute dahergelaufen und machen alles zunichte. Und als wäre das nicht genug klauen sie mir auch noch einen Teleporterstein.“
    „Ein Teleporterstein ist geklaut worden?“, fragte ich vorsichtig.
    „Allerdings. Meine Haushälterin hat den blaugrünen Stein mitgenommen. Ich kann jetzt hinterherrennen und versuchen, zu retten, was noch zu retten ist.“
    Coccineo ging zu einem Podest, auf dem eine faustgroße gelbe Kugel lag. Ein weiteres Podest daneben war leer. Er legte seine Hand auf die Kugel und sah zu mir herüber. „Fasst hier ja nichts an, während ich weg bin.“
    Er rieb an der Oberfläche der Kugel, woraufhin sich eine gelblich schimmernde Blase um ihn herum bildete. Dann waren er und die Blase plötzlich verschwunden.
    Ich stand eine Weile ratlos da, den Hammer noch immer fest umklammert. Was sollte ich nun tun? Alisa und Broccolus könnten möglicherweise meine Hilfe benötigen. Davon abgesehen, wollte ich schon gerne wissen, wie die Welt hinter dem gelben Stein aussah.
    So ging ich zu dem Podest hinüber und rieb in gleicher Weise an dem Stein, wie ich es beim Erzmagier beobachtet hatte. Auch ich wurde daraufhin von einer gelben Blase umfasst. Ich hatte ein mulmiges Gefühl. Alles um mich herum schien zu verschwimmen. Doch dann normalisierte sich die Umgebung wieder, nur dass es nun nicht mehr dieselbe war. Ich fand mich in einer flachen Wiesenlandschaft wieder. Unsicher schaute ich mich um. Unmittelbar neben mir stand Hannes. Erschrocken machte ich einen Satz in die entgegengesetzte Richtung und ließ dabei eine gelbe Kugel fallen, die ich mysteriöserweise in der Hand gehalten hatte. Es musste sich dabei wohl um das Gegenstück des Teleportersteins in dieser Welt handeln.
    Hannes bückte sich und hob die Kugel auf.
    „Besten Dank“, sagte er finster grinsend.
    „Lasst sofort den Teleporterstein fallen!“, rief Coccineo. Er stand nur ein paar Meter neben mir.
    Auch Alisa und Broccolus waren hier. Sie standen ein Stück weit entfernt und Alisa wedelte mit einer grünlichen Kugel herum, offenbar der blaugrüne Stein aus dem Magierturm.
    Ich lief auf sie zu und rief ihre Namen. Doch in dem Moment, als sie auf mich aufmerksam wurden, bildete sich eine blau und grün schimmernde Blase um sie herum und verschwand mit ihnen im Nichts. Der Stein fiel in die Wiese.

    Hanswalter öffnet einen Glückskeks und liest folgenden Spruch: Wer zuletzt lacht, hat es als letzter verstanden.


    Falls jemand Langeweile hat: In Professor Blooms Bibliothek steht ein Werk in 4 Bänden zu der Vorgeschichte Hanswalters.

  • Hannes, der das Geschehen wohl beobachtete hatte, lief mit großen Schritten auf die betreffende Stelle zu. Bevor er sie jedoch erreichte, schlug ein lodernder Feuerball direkt vor seinen Füßen in den Rasen und hinterließ dort einen großen schwarzen Brandfleck mit rauchenden Resten ehemals grüner Grashalme.
    Hannes drehte sich um. „Mit euren jämmerlichen Zaubertricks könnt Ihr vielleicht Kleinkinder beeindrucken“, rief er Coccineo zu, „aber aufhalten werdet Ihr mich damit nicht.“
    Ein weiterer Feuerball, entstanden in den Handflächen des Erzmagiers, flog auf den dunklen Magier zu. Dieser machte die gleiche Armbewegung, wie vor dem Haus der Radicius‘. Eine unsichtbare Kraft lenkte den Feuerball von seiner Flugbahn ab und ließ ihn vorzeitig in die Wiese schlagen, wo ein weiteres Mal einige Grashalme dran glauben mussten.
    Dies ging eine Weile so weiter. Coccineo schleuderte Feuerbälle, Hannes wehrt sie ab.
    Ich nutzte den Augenblick der Unaufmerksamkeit und eilte zu dem Stein hinüber. Da lag er nun unscheinbar im Gras zu meinen Füßen, der blaugrüne Stein von Tamalon, um den alle solch einen Wind machten. Ich hob ihn auf und rannte einige Meter davon, um nicht das Schicksal der qualmenden Grashalme teilen zu müssen.
    In sicherer Entfernung versuchte ich die Bewegungen nachzumachen, mit denen Alisa ihn aktiviert hatte. Ohne Erfolg. Ich gab es auf und richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf den Kampf zwischen den beiden Magiern.
    Coccineo hatte es offenbar geschafft, ein trockenes Stück Wiese zu treffen und es in Brand zu setzten. Zwischen ihm und Hannes loderte nun eine mannshohe Feuerwand. Während der Erzmagier noch immer mit Feuerbällen um sich warf, war sein Kontrahent mittlerweile auf bläulich weiß strahlende Kugelblitze umgestiegen.
    Minutenlang warfen sie sich ihre Geschosse um die Ohren und wichen denen des Gegners aus. Ich hatte noch nie zuvor zwei Magier gegeneinander kämpfen gesehen. Es war ein beeindruckendes Schauspiel. Doch langsam wurde mir bewusst, was es bedeute, wenn der Erzmagier den Kampf verlieren würde. Hannes hielt die Rückfahrkarte für unseren Heimweg in der Hand. Nur mit dem gelben Stein konnten wir zurück nach Aliquandor.
    Nach einigen weiteren Minuten traf endlich einer der Feuerbälle sein Ziel. Hannes Umhang ging in Flammen auf. Er fuchtelte wild umher und versuchte das Feuer auszuschlagen.
    Coccineo nutzte zu meiner Verwunderung diese Gelegenheit jedoch nicht. Anstatt seinem Feind den gelben Stein abzunehmen kam er in einem irrsinnigen Tempo zu mir herüber gerannt. Ich hätte nicht gedacht, dass dieser alte Mann so schnell laufen konnte. Die Magie macht’s eben möglich.
    „Schnell“, sagte er als er mich erreicht hatte, „wir müssen verschwinden, solange er abgelenkt ist.“
    „Was ist mit dem Stein?“, fragte ich. „Ihr hattet Hannes doch schon fast besiegt.“
    „Das sieht nur so aus. Dieser Magier ist mächtiger als ich vermutet hatte. Der Kampf würde wahrscheinlich ewig dauern und ich würde nicht zwangsläufig als Sieger daraus hervorgehen.“
    „Wie kommen wir denn jetzt wieder nach Hause?“
    „Ich werde mir etwas einfallen lassen, aber zunächst müssen wir verschwinden.“
    Er streckte mir seine Hand entgegen.
    Ich hatte sie kaum ergriffen als ich ruckartig davon gezerrt wurde. An der Hand des Magiers konnte ich ebenso schnell laufen wie er. Wir liefen durch einen Wald und gelangten in eine felsige Gegend. Dort entdeckten wir eine Höhle, in der wir Zuflucht suchten.
    Ich sah mich um. Die Höhle hatte eine hohe Decke und führte weit in den Felsen hinein. Unzählige Ecken und Nischen boten reichliche Möglichkeiten, sich zu verstecken.
    „Hier müssten wir erst einmal sicher sein“, sagte Coccineo. „Nun zu unserer Vorgehensweise: trotz der misslichen Lage habe wir noch einen Trumpf im Ärmel...“
    Er deute auf den blaugrünen Stein, den ich noch immer in der Hand hielt. Erst jetzt fiel mir auf, dass er tatsächlich so elastisch war, wie es in der Sage um ihn hieß. Fasziniert drückte ich ihn einige Male zusammen und beobachtete, wie er anschließend immer wieder seine ursprüngliche Form annahm.
    „Das ist kein Spielzeug“, sagte Coccineo mit einem genervten Augenverdrehen und nahm mir den Stein ab.
    „‘Tschuldigung“, sagte ich kleinlaut.
    „Also“, fuhr der Erzmagier fort, „dieser Hannes, wie Ihr ihn nanntet, wird wohl eine ganze Weile brauchen, um uns hier aufzuspüren. Wir sollten also genug Zeit haben, Corianda einen Besuch abzustatten. Sie kann uns vielleicht weiterhelfen.“
    „Ihr wollt uns nach Amoenor teleportieren?“
    „Richtig.“
    „Warum nehmen wir den Stein nicht mit, so wie er auch hierher teleportiert worden ist?“
    Wieder einmal verdrehte der Magier die Augen. „Habt Ihr schon einmal versucht, denselben Türrahmen mitzunehmen, durch den Ihr damit gehen wolltet?“
    Das war einleuchtend. „Ich verstehe.“
    „Dann lasst uns keine Zeit verlieren.“
    Er nahm wieder meine Hand. In seiner anderen Hand hielt er den Stein. Nachdem er damit eine Kette eigenartiger Bewegungen gemacht hatte umhüllte uns eine mir wohlvertraute Blase, diesmal in blaugrün, und beförderte uns in einen hell erleuchteten Raum.

    Hanswalter öffnet einen Glückskeks und liest folgenden Spruch: Wer zuletzt lacht, hat es als letzter verstanden.


    Falls jemand Langeweile hat: In Professor Blooms Bibliothek steht ein Werk in 4 Bänden zu der Vorgeschichte Hanswalters.

  • Vor uns standen Alisa, Broccolus und eine gutaussehende junge Frau mit weißem Gewand, tiefblauen Augen und langen blonden Haaren, die mir - leider - völlig unbekannt war. Eine großer grauer Wolf schlawenzelte um ihrer Füße herum.
    Offenbar wurden Coccineo und ich bereits erwartet.
    „Phasoleus“, sagte die Frau freundlich, „trotz der Umstände freut es mich, Euch zu sehen.“
    „Die Freude ist ganz meinerseits, Corianda“, entgegnete Coccineo höflich.
    Corianda begrüßte auch mich, bevor sie sich wieder an ihren Kollegen wandte.
    „Die beiden haben mir schon einiges erzählt“, sagte sie und sah in Richtung Alisa und Broccolus. „Sie sagten Ihr wärt einem feindlichen Magier aus dieser Welt entgegengetreten. Hat es einen Kampf gegeben?“
    „Ja und leider musste ich feststellen, dass dieser Magier mir mindestens ebenbürtig ist. Wir konnten mit dem blaugrünen Stein entkommen, aber der gelbe ist noch in seinem Besitz.“
    Corianda wirkte etwas besorgt. „Wo ist der Stein jetzt?“
    „Er liegt in einer Höhle und sollte dort erst einmal vor dem Magier sicher sein, aber nicht allzu lange. Deshalb bin ich hierhergekommen und ersuche nun Euren Rat.“
    Die Magierin dachte nach. „Ich fürchte, im Moment werden wir wohl nicht viel tun können. Möglicherweise würde dieser Magier Euch den gelben Stein im Tausch gegen den blaugrünen aushändigen, aber wir dürfen nicht zulassen, dass er hierherkommt. Es ist wohl das Beste, wenn Ihr erst einmal wieder zurückgeht und auf den Stein aufpasst. Ich werde versuchen, sobald wie möglich eine adäquate Lösung zu finden.“
    „Ja, das wird wohl das Beste sein.“
    „Was Euch drei angeht“, sagte Corianda zu Alisa, Broccolus und mir, „Ihr werdet bis auf Weiteres in dieser Welt festsitzen. Ihr könnt in meinem Gästezimmer wohnen und euch frei in Nordeichenheim bewegen. Aber keinesfalls dürft Ihr das Dorf verlassen.“
    Wir erklärten uns einverstanden und dankten für die Gastfreundschaft. Als Coccineo schon wieder in die andere Welt verschwunden war, betonte sie nochmals, dass es wichtig sei, im Dorf zu bleiben. „Ihr dürft unter keinen Umständen Lycopersas Leuten in die Hände fallen, solange die magischen Signaturen der anderen beiden Welten an Euch noch nicht verblasst sind.“
    „Wie lange dauert so etwas?“, fragte Broccolus.
    „Die Signatur der Welt, aus der Ihr gerade gekommen seid, wird schon in wenigen Stunden nicht mehr nachweisbar sein. Da Ihr aber Eure ganzen bisherigen Leben in Aliquandor verbracht habt, wird diese Signatur wohl noch Jahre an Euch haften.“
    „Was sollen wir in der Zeit hier machen?“, fragte ich.
    „Wie ich sehe, seid Ihr im Umgang mit Schmiedewerkzeugen vertraut“, sagte sie lächelnd und deutete auf den Hammer, den ich noch immer in der Hand hielt. „Ihr könntet möglicherweise von großem Nutzen für die Dorfbewohner sein.“
    Ihr bezauberndes Lächeln hatte mich dermaßen aus dem Konzept gebracht, dass ich keine Ahnung hatte, was ich sagen sollte.
    „Sobald der gelbe Stein wieder in unserem Besitz ist, könnt Ihr in Eure Welt zurückkehren“, fuhr sie fort. „Leider kann ich nicht sagen wie lange es dauern wird. Nun wird Kunibert Euch erst einmal Euer Zimmer zeigen.“
    Sie winkte einen großen Mann herbei, der die ganze Zeit weiter hinten im Raum gestanden hatte. Als er näher kam, bemerkte ich, dass er gar kein Mann war, nicht einmal ein Mensch. Er hatte zwar die passende Größe, aber das Gesicht eines Primaten. Seine Haut war violett und die Arme reichten fast bis zum Boden. Er trug eine weiße Tunika und wirkte im Gegensatz zu einem Primaten recht kultiviert. Ein Servator, wie Broccolus mir erklärte.
    Mit seiner grollenden Stimme bat er uns, ihm zu folgen.
    Das Zimmer, in das er uns führte war sehr groß. Es musste wohl fast den gesamten zweiten Stock des Gebäudes einnehmen. Der Anzahl der Betten nach, war es wohl für bis zu sechs Leute ausgelegt. Aber von weiteren Bewohnern gab es keine Spur.
    „Die Unterkunft scheint ja sehr komfortabel zu sein“, meinte Broccolus, „aber dennoch möchte ich nicht den Rest meines Lebens in diesem Dorf verbringen.“
    „Was Manfred wohl in der Zeit macht?“, fragte Alisa.
    „Was machst du eigentlich hier?“, fragte mich Broccolus. „Solltest du nicht mit Manfred auf das Haus aufpassen?“
    „Es tut mir Leid“, sagte ich, „aber ich dachte, Ihr benötigt vielleicht meine Hilfe. Es reicht doch, wenn einer auf das Haus achtet.“
    „Wie du siehst, kannst du hier nicht viel ausrichten. Jetzt sitzt du hier nur mit uns fest.“

    Hanswalter öffnet einen Glückskeks und liest folgenden Spruch: Wer zuletzt lacht, hat es als letzter verstanden.


    Falls jemand Langeweile hat: In Professor Blooms Bibliothek steht ein Werk in 4 Bänden zu der Vorgeschichte Hanswalters.

  • „So wie Coccineo es ausdrückte, hörte es sich so an, als hättet Ihr Euch freiwillig durch den gelben Stein teleportiert, Alisa. Warum habt Ihr das getan?“
    Alisa setzte sich deprimiert auf eines der Betten. „Ich hatte keine Wahl. Ich konnte diesem Magier doch nicht den Stein einfach überlassen. Damit durch den anderen Stein zu fliehen, schien mir der einzige Ausweg zu sein.“
    „Als ich hereinkam, sah ich sie gerade noch verschwinden“, erklärte Broccolus. „Außer mir waren auch noch Hannes und Coccineo im Raum. Coccineo wirkte reichlich überrascht. Bevor er etwas tun konnte war auch Hannes durch den Stein verschwunden. Ich sagte nur, dass ich meiner Frau folgen muss und benutzte ebenfalls den Stein.“
    „Als ich hereinkam“, erzählte ich, „war der Erzmagier ziemlich aufgebracht. Er erzählte mir, dass man sich nicht einfach so in anderen Welten teleportieren dürfte und teleportierte sich dann selbst durch den gelben Stein. Naja, ich bin ihm dann halt gefolgt.“
    „Übrigens hat der dunkle Magier mir erzählt, dass er ursprünglich ein paar Tage nach seiner Ankunft in Aliquandor wieder nach Amoenor zurückkehren wollte“, berichtete Alisa. „Er hatte den Stein im Magierturm von Tamalon zurückgelassen. Als er ihn dann wieder benutzen wollte, war er verschwunden. Ich vermute, dass meine Mutter ihn zwischenzeitlich an sich genommen hatte.“
    Broccolus überlegte. „Das kann gut sein. Beides ist etwa vierunddreißig Jahre her. Eine Andeutung in dieser Richtung hatte er ja schon vor unserem Haus gemacht.“
    „Ich möchte aber keine vierunddreißig Jahre in einer fremden Welt verbringen. Hoffentlich finden die Magier einen Weg, den gelben Stein bald zurückzubekommen.“
    Ich musste daran denken, dass neben Manfred auch meine Eltern nicht wussten, was mit uns geschehen war. Wenn sie in den nächsten Monaten nichts mehr von mir hörten, würde sie bestimmt anfangen, sich Sorgen zu machen. Aus meiner Tasche kramte ich den Kompass, den mir mein Vater gegeben hatte, und betrachtete ihn gedankenversunken.
    Nach einer Weile fiel mir auf, dass die Nadel sich eigenartig verhielt. In Tamalon war mir schon aufgefallen, dass sie nicht mehr nach Norden zeigte. Aber hier zeigte sie überhaupt nicht mehr konstant in eine Richtung. Sie drehte sich unstetig im Kreis und wechselte immer wieder die Drehrichtung. Ich schüttelte den Kompass einige Male und begann damit durch den Raum zu laufen. Alisa und Broccolus sahen mir interessiert dabei zu. In der Nähe der Tür schien die Nadel, sich für einen Moment wieder gefangen zu haben, doch dann zappelte sie weiter. Ich ging zur Tür hinaus und die Treppe hinunter bis ins Erdgeschoss. Völlig auf den Kompass konzentriert, wäre ich beinahe mit Corianda zusammengestoßen.
    „Das ist ein Portalsteindetektor“, erklärte sie mit ihrer freundlichen warmen Stimme. „Ich hatte ihn damals auf den blaugrünen Stein eingestellt, damit ich ihn immer wiederfinde.“
    „Er gehört Euch?“, fragte ich und spürte, wie ich errötete. „Das tut mir Leid. Den hat mir mein Vater gegeben. Ich wusste nicht...“
    „Ist schon gut“, sagte sie lächelnd. „Ihr könnt ihn behalten. Als ich damals nach Amoenor kam, wurde ich in einen Kampf verwickelt, bei dem ich den Detektor verlor, zusammen mit dem blaugrünen Stein. Da der Stein aber wieder hier ist, konnte ich mir inzwischen einen neuen anfertigen.“
    Sie trat dicht neben mich, deutete auf einzelne Stellen des Kompasses und erklärte mir einige Dinge dazu. Ich spürte ihre Körperwärme und vernahm den angenehmen Duft ihres Parfüms. Es war mir unmöglich, aufmerksam dem Inhalt der in ihrer sanften Stimme vorgetragenen Worte zu folgen. Alles was ich verstand war, dass die Nadel des Kompasses immer in die Richtung zeigte, in der sich der blaugrüne Stein befand und dass sie so zappelte, weil der Stein im Moment in unmittelbarer Nähe lag. Dass sich beide Steine einer Sorte zugleich in einer Welt befanden, war mit den verfügbaren zwei Steinpaaren in den drei Welten nicht möglich.
    Am Ende ihrer Erklärungen meinte Corianda, dass sie sich nun um Norbert, ihren Wolf, kümmern müsse. Er habe heute seinen Badetag.
    „Wolf müsste man sein“, sagte Broccolus breit grinsend, als die Magierin verschwunden war.
    Er war unbemerkt hinter mir im Raum erschienen. Alisa stand neben ihm und verpasste ihm erst einmal einen Seitenhieb für seine Bemerkung.
    „Eine nette Frau, nicht wahr?“, fragte er mich die Seite seines Brustkorb reibend.
    „Ja, schon“, meinte ich schulterzuckend.
    Broccolus grinste wieder. „Sie ist zu alt für dich. Sie mag ja wie dreißig aussehen, ist aber wohl eher um die sechzig, wenn nicht noch älter.“
    „Wir wollten uns mal das Dorf ansehen gehen“, sagte Alisa. „Möchtest du mitkommen?“
    „Ja.“ Ich steckte den Kompass wieder ein und folgte den Beiden durch das Eingangstor nach draußen.

    Hanswalter öffnet einen Glückskeks und liest folgenden Spruch: Wer zuletzt lacht, hat es als letzter verstanden.


    Falls jemand Langeweile hat: In Professor Blooms Bibliothek steht ein Werk in 4 Bänden zu der Vorgeschichte Hanswalters.

  • Vor uns erstreckte sich das Servatorendorf, das offenbar Nordeichenheim hieß. Es sah fast so aus wie Broccolus es in seiner Geschichte beschrieben hatte. Doch mein Meister bemerkte, dass es seit seinem letzten Besuch erheblich gewachsen sei. Wir sahen uns gründlich um und stellten fest, dass es hier ähnlich zuging, wie in einer normalen Stadt in unserer Welt. Auch hier gab es Wohnhäuser aller Art, Handwerksbetriebe und diverse öffentliche Gebäude. Die Größen der Gebäude reichten dabei von kleinen Zelten bis hin zu mehrstöckigen Steinhäusern. In seiner Größe unübertroffen stand Coriandas Turm mitten in der Siedlung. Er ähnelte stark dem Magierturm in Tamalon. Ich fragte mich, wozu ein einzelner Magier derart viele Stockwerke benötigte. Wahrscheinlich diente solch ein Turm auch dem Prestige der jeweiligen Stadt.
    Als wir etwa eine Stunde lang durch Nordeichenheim spaziert waren, leistete Corianda uns Gesellschaft. Sie führte uns zu einem leer stehenden Gebäude in der Nähe ihres Turms. Es bestand aus nur einem Raum mit hoher Decke. An einer Wand befand sich ein Schmiedeofen und in der Raummitte standen zwei Ambosse. Sie erklärte uns, dass wir uns in dieser alten Schmiede einrichten könnten, falls wir unserem Handwerk nachgehen wollten. An Aufträgen würde es uns nicht mangeln und sie würde uns für unsere Arbeit angemessen entlohnen. Wir entschieden uns, ihr Angebot anzunehmen.
    In den folgenden Tagen waren Broccolus und ich also damit beschäftigt, die Schmiede einzurichten. Da Alisa nichts Besseres zu tun hatte, half sie dabei. Corianda ließ die benötigten Rohstoffe heranschaffen.
    Wir schmiedeten Werkzeuge aller Art, die unter den Servatoren weggingen wie Süßwaren im Kindergarten. Zu unserer Verwunderung versuchte sich auch Alisa an Schmiedehammer und Amboss, mit zweifelhaftem Erfolg. Sie meinte, dass sie im Turm sonst vor Langeweile umkäme. Sämtliche anfallende Hausarbeit werde dort von bediensteten Servatoren erledigt. Doch später schaffte sie es, Corianda davon zu überzeugen, dass sie besser kochen könne als ein Servator, und wurde somit ihre neue Köchin.
    Nach einigen Tagen erschien Corianda in der Schmiede und bat uns um die Erfüllung eines etwas anderen Auftrags.
    „Waffen?“, hakte Broccolus nach, als hätte er sich verhört. „Wozu braucht Ihr Waffen?“
    „Wie Ihr wisst“, erklärte sie, „kämpfen die Servatoren um ihre Freiheit...“
    „Verlangt Ihr jetzt etwa von mir, dass ich eine andere Rasse mit Waffen ausstatte, damit sie damit meine eigene bekämpft?“
    „Ich verlange überhaupt nichts von Euch.“ Die Stimme der Magierin klang ungewöhnlich rau. Ihre freundlichen Gesichtszüge hatten ernsthafteren und einer deutlichen Spur von Besorgnis weichen müssen. „Das einzige, was ich nicht zulassen kann ist, dass Ihr das Dorf verlasst, aber sonst steht es Euch frei, zu tun und zu lassen, was Ihr wollt. Ich ersuche Euch lediglich darum, diese Waffen herzustellen. Und bevor Ihr ablehnt, hört Euch doch bitte an, warum ich dies tue.“
    „Nun gut, erzählt.“
    „Ein dunkler Magier namens Solanus Lycopersa ist für die Versklavung der Servatoren verantwortlich. Er hat die Halterringe erfunden mit denen sie sich kontrollieren lassen. Die breite Masse der menschlichen Bevölkerung hat er davon überzeugt, dass dies so richtig sei und es der Daseinszweck der Servatoren sei, den Menschen zu dienen. Nebenbei verdient er sich mit dem Verkauf der Ringe eine goldene Nase. Aber die Menschen werden sich noch wundern, wenn sie von Lycopersas wahren Absichten erfahren.“
    „Er hat noch weitere Absichten, als den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen?“
    „Die Ringe verteilt er nicht unter den Menschen, um ihnen das Leben leichter zu machen. Viele glauben das und verehren ihn dafür. Aber den Berichten einiger Servatoren zufolge, die wir letztes Jahr aus den Reihen seiner persönlichen Sklaven befreien konnten, sieht die Sache ganz anders aus. Zu jedem Paar Halterringe stellt Lycopersa noch einen weiteren her. Dieser Ring ist mächtiger, als der des vermeintlichen Besitzers des Sklaven. Lycopersa veranlasst die Menschen dazu, unzählige Ringe in Servatoren einzupflanzen und so massenweise Sklaven zu produzieren. Die eigentliche Kontrolle über diese Servatoren behält er aber selbst.“
    „Zu welchem Zweck?“
    „Solanus Lycopersa ist ein machtgieriger Mensch. Er schafft sich seine eigene Armee aus willenlosen Sklaven und wird damit über das ganze Land herrschen, wenn ihn niemand aufhält.“
    „Und Ihr wollt Euch ihm nun entgegenstellen?“
    „Wir müssen gezielt gegen ihn vorgehen, um die Produktion der Halterringe zu stoppen und die restlichen Sklaven zu befreien. Die Menschen werden möglichst unbehelligt von diesem Krieg bleiben, abgesehen von Lycopersas Leuten, versteht sich.“
    „Gut, wir werden Eure Waffen schmieden“, lenkte Broccolus ein. „Aber versprecht Euch nicht zu viel davon, wir haben so etwas noch nie gemacht.“
    „Ich danke Euch.“ sagte Corianda und sah dabei erst Broccolus und dann mich an. Ihr strahlendes Lächeln war auf ihr Gesicht zurückgekehrt. Ich fand, dass es sich allein dafür gelohnt hatte, in ihr Gesuch einzuwilligen.
    Plötzlich flog die Tür auf. Kunibert erschien darin. Er wirkte sehr aufgeregt.
    „Verzeihung, Meisterin Sativis“, sagte er, „Meister Coccineo ist soeben in Eurem Turm erschienen und möchte Euch dringend sehen. Er meinte, es gäbe ein Problem mit einem gewissen Hannes.“
    „Ich komme sofort.“ Corianda verließ mit ihm die Schmiede. Broccolus und ich sahen uns kurz an und folgten ihnen.

    Hanswalter öffnet einen Glückskeks und liest folgenden Spruch: Wer zuletzt lacht, hat es als letzter verstanden.


    Falls jemand Langeweile hat: In Professor Blooms Bibliothek steht ein Werk in 4 Bänden zu der Vorgeschichte Hanswalters.

  • Im Turm ging Coccineo gleich eilig auf Corianda zu.
    „Er kommt“, sagte er hastig. „Ich habe mich vor dem Teleport über eine Felsspalte gestellt. Der Stein müsste dort hineingefallen sein. Aber das wird ihn nicht lange aufhalten.“
    „Ihr habt Ihm den Stein überlassen?“, fragte Corianda aufgebracht.
    „Es tut mir Leid. Er war zu stark für mich. Ich musste mich zurückziehen. Könnt Ihr den Teleport nicht irgendwie verhindern?“
    „Nein. Für solche Überlegungen ist es zu spät... Norbert, bei Fuß!“
    Dem Ruf seines Frauchens folgend kam der Wolf angerannt.
    Die Magierin drehte sich zu Broccolus und mir um.
    „Ihr nehmt Norbert und sucht Alisa“, sagte sie entschlossen. „Dann verschwindet Ihr alle aus dem Turm.“
    Wir leisteten dieser Anordnung Folge. Nach Alisa mussten wir nicht lange suchen. Sie war durch die aufgeregten Stimmen in den Raum gelockt worden. Auf dem Weg zum Tor sah ich im Augenwinkel bereits ein blaugrünes Leuchten. Die letzten Meter rannten wir. Hinter dem Tor schickte Broccolus seine Frau mit Norbert zur Schmiede. Er selbst und ich stellten uns zu beiden Seiten an den Torrahmen und schauten vorsichtig in den Raum hinein.
    Hannes war erschienen.
    „Oh, ein Hinterhalt“, sagte er mit gespieltem Erstaunen, fing dann aber an zu lachen. „Und was für einer. Corianda Sativis, wenn ich mich nicht irre.“
    „Ich kenne Euch“, sagte Corianda. „Ihr seid einer der Magier, die mich damals angegriffen haben, als ich hierherkam. Ihr hattet mir damals den Teleporterstein und den Kompass gestohlen.“
    „Den Teleporterstein gestohlen? Er ist nach jahrelanger Forschungsarbeit in unserem Labor entstanden. Gestohlen hat ihn Euer Wolf. Wir haben nur unser Eigentum zurückgeholt, nachdem uns die Spur Eures Haustiers zu Euch geführt hat. Und was den Kompass angeht, der hat ohnehin nicht funktioniert. Ich habe ihn in Aliquandor irgendeinem Bauerntrottel verkauft.“
    Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Hannes gerade meinen Vater beleidigte.
    „Da Ihr Euch so gut an mich erinnert“, fuhr er fort, „werdet Ihr Euch doch sicherlich auch an Eure jämmerlichen Leistungen in unserem kleinen Kampf erinnern. Und da wollt Ihr jetzt tatsächlich erneut gegen mich antreten?“
    „Ihr habt scheinbar vergessen, dass der Kampf damals nicht ganz fair gewesen ist. Ihr wart zu dritt gegen mich allein.“
    „Wie ich sehe, hat sich dieses Verhältnis nun umgekehrt. Aber das stellt kein Problem für mich dar. Oder glaubt ihr wirklich, dass Ihr mich mit Eurem kleinen Servatorensklaven und diesem Witz von einem Erzmagier aufhalten könnt?“
    „Kunibert ist kein Sklave!“, rief Corianda zornig. „Und Phaseolus ist einer der fähigsten Magier, die ich kenne!“
    „Kunibert?“, lachte Hannes. „Ihr habt diesen Affen Kunibert getauft? Das ist ja ein noch bescheuerterer Name als Norbert. Und diesen Erzmagier als fähig zu bezeichnen, scheint mir reichlich übertrieben.“
    „Ihr mögt es nicht glauben, aber nicht jeder Magier spezialisiert sich auf den Kampf.“
    Hannes wurde ernst. „Dann wird dieser hier wohl nicht lange dauern.“
    Er streckte seinen Arm gegen Kunibert, der sofort rücklings gegen eine der Wände geschleudert wurde. Corianda machte eine ähnliche Bewegung, bei ihr sah sie jedoch weitaus eleganter aus. Hannes reagierte schlagartig und streckte seinen Arm nun ihr entgegen. Beide blieben auf ihren Füßen stehen. Die Zauber mussten sich wohl gegenseitig neutralisiert haben.
    Coccineo begann Hannes mit Feuerbällen zu bewerfen. Der dunkle Magier wich ihnen geschickt aus. Corianda versuchte einige weitere Male, ihn mit einer magischen Druckwelle umzuhauen, aber er reagierte immer wieder rechtzeitig darauf.
    Unterdessen hatte Kunibert sich wieder erholt. Er stand auf und formte zwischen seinen Händen eine durchsichtige melonengroße Kugel, die schwach blau leuchtete. Er schien den richtigen Moment abpassen zu wollen, um sie auf Hannes zu schleudern. Denn dieser sprang behände im Raum umher und gab somit kein leichtes Ziel ab.
    Dies musste auch Coccineo langsam einsehen. Mit seinen Feuerbällen hatte er kein einziges Mal den Gegner getroffen. Dafür stand jetzt aber ein Großteil von Coriandas Einrichtung in Flammen.
    „Immerhin kann er Brände legen“, kam dazu die hämische Bemerkung von Hannes.
    In diesem Moment schleuderte Kunibert seine Kugel nach ihm. Doch der dunkle Magier schaffte es gerade noch auszuweichen. Die Kugel schlug in die Treppe zu den oberen Etagen und sprengte in ihrer Mitte gut die Hälfte aller Stufen heraus.
    Hannes lachte auf. „Die beiden zerlegen noch die ganze Hütte.“
    Einem Feuerball ausweichend macht er einen Satz zu den Resten der Treppe. Mit einer unscheinbaren Handbewegung ließ er einen Großteil der herumliegenden Steinbrocken aufsteigen und auf seine Widersacher zu fliegen.
    Reflexartig warf Corianda sich auf ihren Teppich und entging den Geschossen. Kunibert wurde jedoch gleich mehrfach getroffen. Er stolperte zurück und stürzte zu Boden, wo er reglos liegen blieb. Auch Coccineo erwischte es. Er blieb allerdings noch stehen. Die Brocken hatten solch eine Wucht, dass einige davon sogar zum Tor herausgeflogen kamen.

    Hanswalter öffnet einen Glückskeks und liest folgenden Spruch: Wer zuletzt lacht, hat es als letzter verstanden.


    Falls jemand Langeweile hat: In Professor Blooms Bibliothek steht ein Werk in 4 Bänden zu der Vorgeschichte Hanswalters.

  • Hannes lief wieder zur Raummitte und erhob seinen Arm gegen den angeschlagenen Erzmagier.
    Plötzlich sprang Corianda auf. In ihrer linken Handfläche entzündete sich ein weiß glühendes Licht. Mit einem großen Schritt stand sie hinter Hannes, der davon offenbar völlig überrascht wurde. Sie erhob ihren linken Arm und ließ ihn auf seinen Nacken herabfahren. Kurz vor dem Aufschlag der leuchtenden Handfläche, sprang das Licht auf den Hinterkopf über. Mit schmerzverzerrtem Gesicht ging der dunkle Magier bäuchlings zu Boden.
    Dort verbrachte er jedoch gerade mal zwei Sekunden. In einer fließenden Bewegung drehte er sich auf den Rücken und streckte zugleich den Arm gegen seine Angreiferin. Diese flog von der altbekannten Schockwelle erfasst bis zur nächsten Wand. Anders als Kunibert zuvor, prallte sie aber nicht dagegen. Sie streckte beide Arme nach hinten, wodurch sie ihren Flug schlagartig bremste. Den anschließenden Sturz fing sie katzengleich ab. Mit beiden Füßen und einer Hand den Boden berührend hockte sie auf ihrem Teppich.
    Hannes war wieder aufgestanden und fing nun an, Kugelblitze nach ihr zu werfen.
    Corianda schaffte es zwar ihnen allen auszuweichen, aber man sah ihr die Anstrengungen des Kampfes bereits an. Viele Blitze würde Hannes wohl nicht mehr an ihr vorbei werfen.
    Coccineo war inzwischen kampfunfähig zusammengebrochen, wohl aufgrund seiner Verletzungen. Wenn der dunkle Magier mit Corianda fertig war würde er mit Sicherheit auch ihn und Kunibert töten, falls letzterer nicht bereits tot war.
    Allmählich füllte sich der Raum mit dem Rauch der brennenden Möbelstücke und erschwerte die Sicht deutlich. Alles Brennbare im Raum musste offenbar in Flammen stehen. Schon nach kurzer Zeit bekamen Broccolus und ich nichts mehr von dem Kampfgeschehen mit.
    Doch plötzlich erschien eine Silhouette im Rauch. Ich erkannte, dass es Hannes war, der auf das Tor zukam. Broccolus und ich wichen zurück und pressten uns eng an die Außenwand des Gebäudes. Hustend lief der dunkle Magier an uns vorbei. Mit der einen Hand hielt er sich seinen Umhang vor sein Gesicht, in der anderen hielt er den blaugrünen Stein. Ohne uns zu bemerken setzte er eiligen Schrittes seinen Weg fort, aus dem Dorf hinaus.
    Broccolus und ich zögerten nicht, in den Turm zu laufen. Der Qualm stach in der Nase und brannte in den Augen. Doch wir mussten die beiden Magier und Kunibert finden und hier herausbringen.
    Als erstes stießen wir auf Kunibert. Broccolus packte ihn unter den Armen und zog ihn zum Tor. Ich suchte weiter. Coccineo lag nicht weit entfernt. Er war bei Bewusstsein und hustete schwer. Ich half ihm auf und stützte ihn, während wir zum Tor gingen. Draußen nahm Broccolus ihn mir ab und setzte ihn auf den Boden.
    Nach einigen tiefen Atemzügen an frischer Luft gingen wir wieder hinein. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich Corianda entdeckte. Sie lag regungslos unter der zerstörten Treppe. Ihr Kleid war mehrfach eingerissen und hatte einige Brandflecke. Ich legte einen Arm unter ihren Rücken, den anderen unter ihre Kniekehlen, hob sie an und trug sie so nach draußen.
    Broccolus sagte, ich solle bei den Verletzten bleiben während er Hilfe holen ginge. Dann lief er davon.
    Ich legte Corianda auf den Boden. Neben ihr kniend beugte ich mich über sie und tastete am Hals nach ihrem Puls. Erfreut stellte ich fest, dass sie noch lebte. Mit einem Mal schlug sie Augen auf und drehte sich hustend zur Seite.
    „Er hat den Stein“, keuchte sie. „Er darf damit nicht entkommen.“
    „Ich fürchte, das ist er bereits“, sagte ich.
    Sie versuchte aufzustehen, schaffte es aber nur, sich hinzusetzen. Sie gab keinen Ton von sich, aber dass ihr diese Bewegungen Schmerzen bereiteten, konnte man deutlich von ihrem Gesicht ablesen.
    „Wie geht es Phaseolus und Kunibert?“
    Ich deutete zu den beiden hinüber. Der Erzmagier war gerade damit beschäftigt, Kunibert ein Lebenszeichen abzuringen.
    Corianda biss die Zähne zusammen und erhob sich. Mit ein paar langsamen Schritten ging sie zu den Beiden und setzte sich dort neben Kunibert. Sie legte ihre rechte Hand auf seine Stirn.
    „Er lebt“, stellte sie fest.
    Als Broccolus nach einer Weile zurückkehrte drangen bereits dicke Rauchwolken aus dem Tor des Turms. In der Begleitung meines Meisters befanden sich einige Servatoren aus dem Dorf. Sie führten einen Wagen mit sich, auf dem ein großes Fass stand. Einer von ihnen entfernte den Deckel und nacheinander gingen sie an das Fass, um Wasser herauszuholen. Dazu benutzten sie keine Eimer. Das Wasser schwebte einfach so in melonengroßen Portionen über ihren Händen.
    Nachdem etliche Liter Wasser auf diese Weise in den Turm getragen worden waren, kamen keine weiteren Rauchschwaden mehr aus dem Tor. Die Feuerwehrleute versammelten sich und zogen wieder ab.
    Die Magier, Broccolus und ich betraten den Turm. Corianda war reichlich niedergeschlagen, als sie vor den Resten ihrer Einrichtung stand.
    „Das mit dem Feuer tut mir leid“, entschuldigte sich Coccineo. „Ich hätte besser aufpassen müssen.“
    „Euch trifft keine Schuld“, sagte die Magierin. „Im Gegenteil, ich muss Euch danken. Wenn der Brand nicht gewesen wäre, hätte Broth uns sicherlich getötet.“
    Sie drehte sich zu mir um und ergriff mit ihren beiden zarten Händen meine grobe rechte. „Auch Euch danke ich. Wie ich hörte, habt Ihr mich vor dem Feuer gerettet und aus dem Turm getragen.“ Sie sah mir fest in die Augen. „Ich stehe in Eurer Schuld.“
    „Ach was“, sagte ich verlegen. Ihrem Blick konnte ich nicht länger standhalten und starrte daher auf unsere Hände. „Das war doch selbstverständlich.“

    Hanswalter öffnet einen Glückskeks und liest folgenden Spruch: Wer zuletzt lacht, hat es als letzter verstanden.


    Falls jemand Langeweile hat: In Professor Blooms Bibliothek steht ein Werk in 4 Bänden zu der Vorgeschichte Hanswalters.