Beiträge von Hanswalter

    Bevor ich noch etwas sagen konnte, saß er fertig ausgerüstet auf dem zweiten Pferd. Gemeinsam ritten wir den Hügel hinauf und auf der anderen Seite hinab auf das Schlachtfeld. Von Lycopersas Magiern war dort nichts mehr zu sehen. Sie standen wieder auf dem Wehrgang der Festungsmauer. Die Servatorenkrieger hatten sich wieder hinter den Pfeilschutzwänden versammelt.
    Broccolus und ich ritten an ihnen vorbei direkt in den Wald neben der Burg. Auch hier gab es keine Spur von den Magiern. Eine ganze Weile durchkämmten wir das Gehölz, bis Broccolus mich auf Stimmen aufmerksam machte, die er gehört hatte. Wir hielten die Pferde an und lauschten in den Wald. Dann hörte ich sie auch. Zwei Stimmen, die offenbar ein Gespräch führten.
    Wir stiegen von den Pferden und banden sie an einen Ast. Vorsichtig schlichen wir den Stimmen entgegen. Broccolus nahm seine Armbrust vom Rücken, die er bereits im Lager gespannt hatte, und legte einen Bolzen ein. Die Stimmen wurden immer lauter, je näher wir ihnen kamen. Mit jedem Schritt wurde der Wald vor uns heller, bis wir den Rand einer Lichtung erreichten. Wir versteckten uns möglichst geräuscharm hinter einem Busch und schauten unauffällig durch das Blätterwerk.
    Zwei von Lycopersas Leuten standen auf der Lichtung, beide in den üblichen schwarzen Umhängen. Neben ihnen stand ein hölzernes Klohäuschen mit einem herzförmigen Loch in der Tür.
    „Wie funktioniert das denn jetzt?“, fragte der eine.
    „Es ist ganz einfach, Karl“, sagte der andere. „Siehst du das Rad dort neben der Hütte?“
    „Ja.“
    „Damit stellst du die Kombination ein.“
    „Welche Kombination?“
    „Die Zahlenkombination, die der Meister uns gegeben hat, natürlich.“
    „Und was machst du?“
    „Ich muss währenddessen den Schalter unter dem Dach der Hütte drücken, damit du das Rad überhaupt drehen kannst.“
    „Und dann geht die Klotür auf?“
    „Nein!“ Karls Gesprächspartner raufte sich die Haare, als hätte er diese Dinge bereits mehrfach erklären müssen. „Dann öffnet sich die Geheimtür in der Hütte.“
    „Aber wie öffnen wir dann die Klotür, Fred?“
    Fred verdrehte die Augen, packte den Knauf der Tür und öffnete sie einfach.
    „Achso“, sagte Karl und warf einen Blick in die Hütte. „Da ist aber keine Geheimtür, Fred.“
    Fred stöhnte auf und schlug sich mehrfach mit der flachen Hand an die Stirn. Dann atmete er tief durch und erklärte ruhig: „Sieh mal Karl, eine Geheimtür ist, wie der Name sagt, geheim. Natürlich kann man sie nicht einfach so sehen. Wie du dich vielleicht erinnerst - was ich jedoch stark bezweifle - sind wir vorhin durch diese Geheimtür hierhergekommen.“
    „Achso, du meinst die Falltür im Boden.“
    „Genau.“ Fred lächelte als würde mit einem Idioten reden und klopfte seinem Kollegen freundschaftlich auf die Schulter. „Du gehst jetzt also zu dem Rad und stellst die Kombination ein, während ich den Schalter drücke. Dann klettern wir beide in das Loch unter der Falltür um in den unterirdischen Gang zu gelangen, der zur Festung führt. Alles verstanden?“
    „Ich denke schon.“
    „Gut.“
    So begab Karl sich zu dem Rad neben der Hütte und Fred stellte sich hinein. Die Tür fiel wieder zu, aber man konnte Fred noch deutlich hören.
    „So, ich drücke den Schalter“, sagte er. „Du kannst jetzt die Kombination einstellen.“
    Doch Karl stand nur herum und kratzte sich am Kopf. „Wie war die Kombination nochmal?“
    „Muss man dir denn alles fünfmal sagen?“, fragte Fred reichlich genervt. „Zwei nach rechts, drei nach links und wieder eins nach rechts.“
    Karl fummelte an dem Rad herum. „Da tut sich nichts.“
    „Du weißt aber schon, wo rechts und wo links ist?“
    Ein Schimmer der Erkenntnis erschien auf Karls Gesicht, bevor er sich wieder dem Rad zuwandte.
    „Hast du mich gehört, Karl?“, fragte Fred.
    Aber Karl war zu beschäftigt zum antworten.
    „Bist du überhaupt noch da?“, fragte sein Kollege weiter. „Muss ich denn erst rauskommen und es dir aufmalen? Du bist wirklich zu nichts zu gebraaaaa...“
    Die Stimme wurde immer leiser.
    Eilig stürmte Karl zur Klotür und klopfte vorsichtig dagegen.
    Zwei weitere Magier kamen aus dem Wald auf die Lichtung getreten. Karl schenkte ihnen keine Beachtung.
    „Fred?“, fragte er, sein Ohr an die Tür gelegt.
    Aus dem Inneren kam nur ein leises stöhnen.
    „Fred? Drückst du noch?“
    „Nein, das Loch ist offen“, jammerte die Stimme.
    Die beiden hinzugekommenen Magier verfolgten das Gespräch mit leicht irritierten Gesichtern.
    „Geht es dir gut?“, fragte Karl weiter.
    „Diese Schmerzen.“
    „Was ist passiert?“
    „Ich glaube, ich habe mir den Rücken verrenkt.“
    „Warte, ich komme rein und helfe dir.“
    Neben mir biss sich Broccolus in die Hand, um nicht laut lachen zu müssen.
    „Wir wollen ja nicht drängen“, sagte einer der anderen Magier grinsend, „aber wenn ihr dann fertig seid, würden wir gerne die Falltür öffnen.“
    Broccolus und ich beschlossen, dass es Zeit war, Corianda und Coccineo von unserer Entdeckung zu berichten. Leise schlichen wir zurück zu unseren Pferden und ritten aus dem Wald hinaus.

    Doch auch die dunklen Magier wussten, sich gegen solche Geschosse zu verteidigen. Mit einfachen Handbewegungen lenkten sie die Feuerbälle von ihren ursprünglichen Flugbahnen ab. Dabei kamen sie immer näher heran geschritten. Einem von ihnen gelang es, Coriandas Schutzschild an einer Stelle zu durchbrechen. Er ging einfach hindurch und näherte sich der Magierin.
    Diese bemerkte ihn noch rechtzeitig und ließ ihn mit einer unvorhersehbaren Handbewegung einige Meter davonfliegen. Ihren Schutzzauber musste sie während dieser Aktion jedoch unterbrechen, was es weiteren dunklen Magiern ermöglichte sich den Verteidigern zu nähern. Eine der Gestalten schleuderte einen ganzen Satz Eiszapfen auf sie. Corianda gelang es, die meisten von Coccineo und ihr fern zu halten. Einer schlug jedoch in den Brustpanzer ihrer Lederrüstung, woraufhin sie rücklings zu Boden fiel.
    Coccineo warf einen kurzen Blick auf seine verletzte Kollegin, dann ging mit entschlossenen Schritten auf den Verursacher zu und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Der Schlag reichte aus, um das Bewusstsein auszuschalten. Ich hätte nicht gedacht, dass der Erzmagier zu so etwas fähig war.
    Durch diese Aktion hatte er allerdings seine Deckung vernachlässigt und bekam nun ernsthafte Schwierigkeiten. In einer Linie kamen die anderen Magier auf ihn zu - auch der, den Corianda fortgeschleudert hatte - und warfen ihre Geschosse nach ihm. Eiszapfen waren aber nicht mehr darunter.
    Bis auf seine Ausweichbewegungen stellte Coccineo seine Kampfhandlungen ein und hob stattdessen die Arme als wolle er meditieren. Eine ganze Weile tat er nichts anderes. Die fünf dunklen Magier kamen ihm unterdessen bedrohlich nahe. Doch plötzlich streckte er beide Arme nach vorne und völlig überraschend standen die Angreifer in einem meterhohen Meer aus Flammen. Nach allen Seiten rannten sie davon, aber es gab kein Entkommen. Aus dem Feuer löste sich ein riesiges wurmartiges Gebilde, das nur aus Flammen bestand, und verfolgte die Flüchtigen. Nacheinander verbrannte es jeden von ihnen, bevor es sich wieder in das Flammenmeer zurück zog und sich mit ihm in Luft auflöste.
    Auch in diesem Fall, hätte ich nicht gedacht, dass Coccineo dazu fähig war. Der Erzmagier war einfach unschlagbar im Brände legen. Doch nach dieser Aktion wirkte er reichlich erschöpft. Scheinbar kostete dieser Zauber eine Menge Kraft. Sich mit den Händen auf seine Oberschenkel stützend stand der Feuerleger da und keuchte.
    Der Eiszapfen-Magier erwachte währenddessen aus seiner Bewusstlosigkeit. Er lag ein Stück hinter Coccineo, außerhalb seines Sichtbereichs. Er erhob sich langsam und rieb sich sein Gesicht. Dann entdeckte er den Verursacher seiner Schmerzen. Ein fieses Grinsen lag auf seinem Gesicht als er seine Arme hob.
    Doch sein Angriff blieb aus. Eine fußballgroße weißleuchtende Kugel mit einer Oberfläche aus unzähligen umhertanzenden Blitzbögen näherte sich von hinten und traf seinen Rücken. Die Blitzbögen ragten nun überall aus dem Körper des Magiers. Er fiel zu Boden und zappelte noch ein wenig bevor er leblos liegen blieb.
    Corianda machte einen großen Schritt über ihn hinweg und ging zu ihrem Kollegen. Sie baute wieder ihren Schildzauber auf, um ihn und sich vor weiteren Angreifern zu schützen. Dann drehten sie sich beide um und zogen sich ein Stück weit in die Reihen der kämpfenden Servatoren zurück.
    Als die Reiter endlich auf dem Schlachtfeld eintrafen, waren schon viele der Krieger Lycopersas Leuten zum Opfer gefallen und etwa die Hälfte der Belagerungswaffen war zerstört worden. Die Verluste der Magier waren hingegen überschaubar.
    Aber der Einsatz der Reiter wendete das Blatt. Sie waren schneller als die Fußsoldaten und mussten sich daher mit weniger der feindlichen Geschosse auseinandersetzen, bevor sie die Magier in Nahkämpfe verwickeln konnten. Gleichzeitig minderte der Angriff der Reiter die Attacken gegen die Fußsoldaten, die nun ebenfalls häufiger in den Nahkampf kamen. Von Nahkampf verstanden die dunklen Magier nicht viel. Gezwungen, an zwei Fronten zu kämpfen, zogen sie sich zurück, wobei den meisten von ihnen der Weg zurück in den Wald versperrt war und sie zum Tor der Festung laufen mussten.
    Mit meinem Fernrohr verfolgte ich die Magier, die in Richtung Wald liefen. Es musste einen guten Grund für sie geben, diesen Weg einzuschlagen. Der Wald barg ein Geheimnis und ich hatte das Gefühl, dass es uns noch von großem Nutzen sein würde. Jemand müsste ihnen folgen. Da man eine derartige Nachricht vermutlich nicht mit den Signalhörnern übermitteln konnte, blieb diese Aufgabe wohl an mir hängen. Zumindest musste ich dort hinunter und einen unserer Magier informieren.
    Schnell rannte ich zurück ins Lager. Angebunden an einem Pfahl neben der Schmiede standen die beiden schwarzen Zugpferde, die Broccolus und mich im Falle einer Niederlage zurück in das Servatorendorf bringen sollten. Ich hob Schwert und Schild auf, die neben dem Pfahl lagen, und legte sie eilig an. Als ich gerade eines der Pferde losband, tauchte Broccolus auf.
    „Was hast du vor? Verlieren wir die Schlacht?“, fragte er aufgebracht.
    „Nein“, beruhigte ich ihn, „aber ich muss herausfinden, was Lycopersas Leute in dem Wald machen.“
    „Du willst auf das Schlachtfeld reiten? Du musst lebensmüde sein.“ Er sah mich einen Moment an. „Okay, ich komme mit.“

    Den Rest des Tages waren wir damit beschäftigt Munitionsnachschub herzustellen und gelegentlich die eine oder andere Waffe zu reparieren. Als es dunkel wurde kehrten die meisten der Krieger vom Schlachtfeld ins Lager zurück. Nur die Nachtwache blieb bei den Belagerungswaffen und behielt den Feind im Auge.
    Auch Corianda tauchte wieder im Lager auf.
    „Wie ist es gelaufen?“, fragte ich sie gleich als sie zur Schmiede kam.
    Sie wirkte nachdenklich und erschöpft. „Nicht so wie wir es geplant hatten“, sagte sie und setzte sich auf einen Hocker neben einem der Ambosse. „Lycopersas Magier sind sehr stark. Es scheint ihnen keine Mühe zu bereiten, die Geschosse unserer Belagerungswaffen aufzuhalten. Die zweite Angriffswelle mit den Leiterträgen blieb auch erfolglos. Nun will Präodor Lycopersas Leute aushungern lassen. Früher oder später gehen ihnen die Nahrungsvorräte aus. Dann müssen sie kapitulieren. Aber ich fürchte, dass die Zeit eher gegen uns arbeitet.“
    „Was werdet Ihr jetzt tun?“
    „Ehrlich gesagt, bin ich momentan ratlos. Wir werden wohl darauf hoffen müssen, dass Lycopersa kapituliert bevor er hinter das Rätsel der magischen Wesenheiten kommt. Wenn wir an den gelben Teleporterstein kommen würden, könnten wir Verstärkung aus Aliquandor kommen lassen, aber der müsste jetzt wohl in der Festung liegen. Der Detektor kann leider nur den blaugrünen Aufspüren.“
    Mir fiel meine Beobachtung vom Vormittag ein. „Ich habe Johannes Broth heute mit einem narbengesichtigen Magier auf einem der Türme gesehen“, berichtete ich. „Wenn er in der Festung ist, sind es die beiden Steine auch.“
    „Der mit den Narben ist Solanus Lycopersa. Es heißt, er habe sie einem missglückten Experiment zu verdanken.“
    „Das bedeutet immerhin, dass er verwundbar ist.“
    „Noch.“ Corianda erhob sich wieder von dem Hocker. „Ich werde mich dann mal wieder an die Arbeit machen. Vielleicht finde ich etwas gegen diese Schutzzauber.“
    Sie verabschiedete sich und ging zu ihrem Zelt. Da die meisten der Servatoren bereits ihre Nachtquartiere aufgesucht hatten, beschlossen Broccolus und ich, es ihnen gleich zu tun.
    Am nächsten Morgen wurde ich durch das Tröten der Signalhörner geweckt. Als ich aus dem Zelt trat, das ich mit Broccolus teilte, dämmerte es gerade erst, aber die Krieger waren schon alle auf den Beinen. Fertig ausgerüstet begaben sie sich über den Hügel zum Schlachtfeld. Nachdem ich mich gewaschen, meine Rüstung wieder angelegt und eilig etwas gegessen hatte, nahm ich mir mein Fernrohr und machte mich auf dem Weg zu der Stelle, von der aus ich auch am Vortag die Belagerung beobachtet hatte.
    An diesem Morgen war etwas anders. Auf dem Wehrgang der Mauer standen keine dunklen Magier mehr. Die Magier auf den Türmen waren aber anwesend und auch schon schwer damit beschäftigt die ersten anfliegenden Geschosse aufzuhalten. Der Turm, auf dem ich am Vortag Hannes und Lycopersa hatte stehen sehen, war ebenfalls leer. Die Servatorenkrieger, die vorher der ersten und zweiten Welle angehört hatten, hatten sich nun gemeinsam hinter den Pfeilschutzwänden versammelt. Da es aber nichts gab, was man bekämpfen konnte, standen sie einfach nur herum.
    Plötzlich bemerkte ich, wie hunderte dunkler Gestalten aus dem Waldstück nördlich der Festung strömten. Es waren Lycopersas Magier. Von der Seite her fielen sie auf das Schlachtfeld ein und überraschten die unvorbereiteten Servatoren mit ihren magischen Geschossen. Als diese zum Gegenangriff ansetzten, waren bereits viele von ihnen gefallen.
    Unten auf der Ebene tobte der Kampf, den Präodor vorausgesagt hatte, aber auf eine andere Weise als er geplant hatte. Er hatte angenommen, dass der Ausfall durch das Tor der Festung erfolgen würde. Sein Plan mit der dritten Welle, die mit der Sonne im Rücken angreifen sollte, war nun hinfällig, zumal die Sonne noch hinter dem Hügel stand. Dieser Teil der Streitmacht konnte jetzt nur noch einfach ins Feld ziehen und die dortigen Krieger unterstützen.
    Doch schon bald konnte ich feststellen, dass Präodor noch einen Trumpf im Ärmel hatte. Nachdem wieder einmal die Signalhörner ertönten, stürmte nur der nicht berittene Teil über den Hügel. Die Reiter ritten erst ein ganzes Stück nach Norden, von wo aus sie den Magiern in den Rücken fallen könnten. Bis dahin mussten die Kämpfer auf der Ebene aber noch eine Weile ohne sie auskommen.
    Auch Corianda und Coccineo wurden in Auseinandersetzungen mit Lycopersas Leuten verwickelt. Hier konnte ich sehen, wofür sie Wochenlang trainiert hatten. Sie stellten sich - gezwungenermaßen - einer Gruppe von sechs dunklen Magiern. Corianda erzeugte einen Schutzzauber, der die anfliegenden magischen Geschosse abfing. Egal ob Kugelblitze, Feuerbälle oder Eiszapfen, alles prallte wenige Meter vor ihnen gegen eine unsichtbare Wand. Bei sechs Angreifern wäre es nahezu unmöglich gewesen, all diesen Geschossen auszuweichen. Coccineo eröffnete unterdessen seinerseits das Feuer. Seine Feuerbälle waren deutlich größer geworden seit ich ihn das letzte Mal kämpfen gesehen hatte. Man hätte sie für brennende Wassermelonen halten können.

    Hinter uns kam Elehwator den Hügel hinaufgeeilt.
    „Hier seid Ihr“, stellte er fest. „Armistor hat mir Fernrohre für euch gegeben, falls ihr das Geschehen beobachten wollt. Er sagte, wenn ihr sonst noch etwas braucht, sollt ihr einfach zu ihm gehen.“
    Dankend nahmen wir die Fernrohre entgegen und Elehwartor begab sich wieder den Hügel hinab.
    Sogleich hielt ich mir mein Fernrohr vor mein rechtes Auge und schaute hindurch. Die Krieger auf der Ebene hatten etwa einhundert Meter vor der Festung angehalten. Aus ihren Reihen trat ein Servator hervor, einen Pfahl mit einer weißen Flagge tragend. Dies war das Zeichen dafür, dass er verhandeln wollte. Seine Aufgabe war es Lycopersa ein Angebot für seine Kapitulation zu unterbreiten.
    Auf der Mauer über dem Haupttor der Festung erschien ein Mensch mit schwarzem Umhang. Er wechselte einige Worte mit dem Boten der Servatoren, der nun unter ihm am Tor stand. Dann, ohne Vorwarnung, schleuderte er eine weiß leuchtende Kugel auf den Servator hinab, der daraufhin leblos zusammensackte.
    Von überall her ertönten wieder die Signalhörner. Die Servatoren, die das Trebuchet neben uns bedienten, drehten dieses nun in eine neue Position. Mit dem bekannten Knarren und Surren erhob sich wieder eine Steinkugel in die Luft. Doch dieses Mal schlug sie irgendwo hinter den Mauern der Festung auf. Auch die anderen Trebuchets und die kleineren Katapulte unten auf der Ebene schleuderten ihre Geschosse nun auf die Festung.
    Obwohl die meisten dieser Geschosse die Mauer trafen, richteten sie an ihr keine nennenswerten Schäden an. Die Geschosse, die sich auf dem Weg über die Mauer befanden, prallten nun an einer unsichtbaren Wand ab und fielen hinunter, wo sie vor der Mauer liegen blieben. Nur gelegentlich kam der ein oder andere Stein hindurch.
    An der Brüstung waren einige Männer in dunklen Umhängen erschienen und warfen mit Kugelblitzen auf die Servatoren vor der Festung. Diese verschanzten sich hinter den Schutzwänden und schossen mit Pfeilen zurück, vereinzelt auch mit blauen Energiekugeln. Doch wie die Geschosse der Belagerungswaffen, richtete auch dies kaum Schaden an. Es dauerte eine ganze Weile, bis der erste Magier von einem Pfeil getroffen wurde. Aber das auch nur in den Arm. Die Energiekugeln kamen zwar durch die Schutzwand hindurch, waren aber so langsam, dass es den Magiern nicht schwer fiel, sich dagegen zu verteidigen.
    Die Ursache für die Schutzwand war schnell gefunden. Hinter der Mauer entdeckte ich einige Türme, auf denen je ein sich scheinbar schwer konzentrierender Magier stand. Sie mussten wohl diesen Schutzzauber aufrecht halten.
    Auch Coccineo hatte diese Magier offenbar entdeckt. Er stand etwas weiter hinten im Feld und hob beschwörend seine Arme. Plötzlich stand einer der dunklen Magier in Flammen. Er fuchtelte noch ein wenig panisch in der Luft herum, stolperte dann und fiel von seinem Turm herunter.
    Sein Zuständigkeitsbereich musste wohl ein Stück der Mauer in der Mitte gewesen sein. Die Geschosse der Belagerungswaffen, die diese Stelle trafen, richteten dort nun auch Schaden an. Für die Magier, die auf diesem Teil der Mauer standen, kam dies überraschend. Bevor sie reagieren konnten, wurde ihnen der Boden unter den Füßen weggerissen, als die Mauer an der oberen Kante einbrach. Aber schon kurze Zeit später hatte ein anderer Magier den Platz auf dem Turm eingenommen und stopfte die Sicherheitslücke wieder. Coccineo versuchte auch ihn zu entzünden, aber scheinbar hatte er damit gerechnet und Vorkehrungen zur Verteidigung getroffen. Das Feuer blieb aus.
    Es ertönten wieder die Signalhörner. Dies war das Zeichen für die zweite Welle. Hinter uns stürmten die Krieger den Hügel hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter. Wie Coccineo gesagt hatte, hatten sie Leitern bei sich, mit denen sie die Mauer erklimmen konnten. Als sie die Pfeilschutzwände passiert hatten, sprinteten sie das letzte Stück zur Mauer. Nicht alle erreichten sie. Viele der Krieger fielen den Geschossen der Magier auf der Mauer zum Opfer.
    Plötzlich sah ich, dass Corianda ebenfalls zur Mauer rannte. Sie erzeugte einen magischen Schutzschild für einen Teil der Krieger, die bereits begannen, die Leitern aufzustellen.
    Dann kletterten die ersten von ihnen daran hoch. Doch oben angekommen mussten sie feststellen, dass der Schutzzauber der dunklen Magier sie am Überqueren der Brüstung hinderte. Die Magier auf dem Wehrgang konzentrierten sich nun auf diese neuen Angreifer. Coriandas Schutzzauber reichte nicht aus, um alle Servatoren auf den Leitern zu schützen. Viele von ihnen wurden getroffen und stürzten herunter.
    Am Boden diskutierte Corianda heftig mit einem Hordenführer. Offenbar lag dort wohl eine Meinungsverschiedenheit vor. Der Hordenführer schien nachzugeben. Er legte sein Signalhorn an und blies hinein. An anderen Mauerabschnitten wiederholten andere Hordenführer dieses Signal. Daraufhin kletterten alle auf den Leitern befindlichen Servatoren diese wieder herunter und entfernten sie zusammen mit ihren Kameraden wieder von der Mauer. Den Geschossen der dunklen Magier ausweichend zog sich die zweite Angriffswelle wieder hinter die Pfeilschutzwände zurück. Einige von ihnen, vor allem die Verletzten, setzten den Weg in Richtung Hauptlager fort. Viele mussten dabei gestützt oder getragen werden.
    Elehwator taucht wieder auf.
    „Es gibt Arbeit für Euch“, sagte er. „Es werden neue Pfeil- und Bolzenspitzen gebraucht.“
    „Kein Wunder bei dem Verbrauch“, meinte Broccolus.
    Ich warf einen letzten Blick durch das Fernrohr auf die Festung. Unter den Türmen entdeckte ich einen, der mir zuvor nicht aufgefallen war, obwohl er etwa in der Mitte der Festung stand. Er war höher und breiter als die anderen Türme und hatte sogar ein Spitzdach. Zwei Magier standen dort. Der eine war groß, hatte kurze schwarze Haare und ein vernarbtes Gesicht. Den anderen erkannte ich als Hannes wieder. Ich hätte sie gerne noch weiter beobachtet, aber Broccolus drängte mich, ihn zur Schmiede zu begleiten.

    Ich konnte die Sorgen der Magierin nachvollziehen. Als sie vor vielen Jahren nach Amoenor gekommen war, hatten Lycopersas Lakaien ihr die Möglichkeit genommen, wieder nach Hause zurückzukehren. In dieser Welt gefangen, verbrachte sie einen großen Teil ihres Lebens bei den Servatoren und half ihnen bei ihrem Kampf um die Freiheit. Als sie zwischenzeitlich die Möglichkeit erlangte, die Welt zu verlassen, entschied sie sich zu bleiben. Amoenor war ihre neue Heimat geworden. Es war im Grunde eine friedliche Welt. Der Grund für die Auseinandersetzungen zwischen Menschen und Servatoren war allein die Machtgier eines gewissen dunklen Magiers. Nun drohte dieser Magier sich die ganze Welt anzueignen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die vereinte Magie der drei Welten ihn unbezwingbar machen würde. Die bevorstehende Schlacht war die letzte Möglichkeit, ihn aufzuhalten.
    „Ich bin sicher, Ihr werdet einen Weg finden, Lycopersa zur Strecke zu bringen“, sagte ich.
    Corianda lächelte mich an. „Eure Zuversicht möchte ich haben.“
    „Es ist wahrscheinlich besser, wenn Ihr Euch Waffen geben lasst“, sagte Coccineo. „Wie heißt Euer Hordenführer?“
    „Seckondflor“, antwortete Broccolus, „aber der ist vorhin verschwunden.“
    Coccineo winkte einen Servatorenkrieger in einer bunt bemalten Lederrüstung herbei. „Wie ist Euer Name?“, fragt er ihn.
    „Elehwator“, kam die Antwort.
    „Wisst Ihr, wo sich Hordenführer Seckondflor aufhält?“
    „Ja, der ist gerade in einer Einsatzbesprechung.“
    „Elehwator, wärt Ihr so freundlich, diese beiden Menschen zu Seckondflor zu bringen? Er soll ihnen Waffen und Rüstungen geben.“
    „Kein Problem.“
    Für den Fall, dass wir sie vor der Schlacht nicht mehr sahen, verabschiedeten Broccolus und ich uns von den beiden Magiern und wünschten ihnen viel Erfolg. Dann folgten wir Elehwator zu einem olivgrünen Zelt, in dem wir neben einigen weiteren Hordenführern auch Sackondflor antrafen. Als wir ihn um die Aushändigung von Waffen und Rüstungen baten, schickte er uns mit Elehwator zum Zeugwart Armistor. Dieser händigte uns schließlich unsere Ausrüstung aus.
    Da uns zu schwere Rüstungen beim Schmieden nur behindert hätten, wählten Broccolus und ich eine leichte Lederrüstung. Als Waffe wählte Broccolus eine Armbrust. Dazu bekam er einen Gürtel mit Spannhaken, einen Köcher mit Bolzen und ein Falchion für mögliche Nahkämpfe.
    Ich fand im Waffenarsenal eines der Bastardschwerter wieder, die ich selbst geschmiedet hatte. Allein die Klinge war einen Meter lang. Die zugehörige Scheide, die an einem Gürtel befestigt war, reichte von meiner Hüfte hinunter bis zu meinen Stiefeln. Da ich das Schwert mit einer Hand führen konnte, hatte ich die zweite noch frei für einen Schild. Ich wählte einen eisenverstärkten Holzrundschild, den ich am Rücken meiner Rüstung befestigen konnte.
    Fertig ausgerüstet machten wir uns auf den Rückweg zur Schmiede. Dort sattelten wir die beiden Pferde die zuvor unseren Wagen gezogen hatten und banden sie an einem Holzpfahl neben der Schmiede an. Unsere Waffen befestigten wir an den Sätteln. Beim Schmieden wären sie nur hinderlich gewesen.
    Das Lager leerte sich allmählich. Die Krieger versammelten sich am Hang des Hügels. Da Broccolus und ich gerade nichts zu tun hatten, stellten wir uns dazu. Vier Trebuchets waren auf dem Hügelkamm aufgestellt worden. In regelmäßigen Abständen hoben sich ihre langen Wurfarme in die Luft und schleuderte schwere Steine davon. Ein Signalhorn ertönte, gefolgt von einigen weiteren. Auf diese Weise wurden Befehle schnell und effektiv übermittelt. Die Servatoren wussten genau, wie sie darauf reagieren mussten. Eine festgelegte Anzahl von ihnen begann in einer Linie über den Hügel zu stürmen. Vorneweg liefen die Krieger, die die Pfeilschutzwände schoben. In dem Getümmel konnte ich die beiden Magier erkennen. Sie steckten in Lederrüstungen und hatten Langbogen über ihren Rücken. Etwas weiter nördlich, wo der Hügel flacher war, wurden die Belagerungswaffen auf die andere Seite geschafft.
    Broccolus und ich stiegen ebenfalls den Hügel hinauf, blieben aber neben einem der Trebuchets stehen. Von hier oben hatte man einen guten Überblick über das baldige Schlachtfeld. Auf der gegenüberliegenden Seite stand Lycopersas Festung. Den Ausmaßen nach hätte es auch eine Stadt seine können. Hohe, sehr solide wirkende Mauern umgaben sie. Es würde einige Zeit dauern, sie zu durchbrechen.
    Neben mir vernahm ich das Knarren von Holz und das Surren, das ein langer schnell durch die Luft bewegter Gegenstand machte. Eine Steinkugel löste sich von dem Wurfarm des Trebuchets neben uns und flog im hohen Bogen Richtung Westen. Ich folgte ihr mit meinem Blick und sah, dass sie irgendwo in einem Waldstück rechts neben der Festung einschlug.
    Als ich mir das Trebuchet noch einmal ansah, stellte ich fest, dass es überhaupt nicht auf die Festung ausgerichtet war. Broccolus vermutete, dass man wohl zunächst nur Warnschüsse abgeben wollte oder dass man noch immer dabei war, die richtige Entfernung einzustellen.

    Als wir in die Siedlung kamen, war dort von Menschen und Servatoren nichts zu sehen. Die Straßen waren wie leer gefegt. Fenster und Türen waren verriegelt. Einige liegen gelassene Gegenstände, wie Körbe und Werkzeuge, verrieten aber, dass dieser Zustand noch nicht lange herrschte. Die Menschen waren offenbar vor den Kriegszug geflohen. Sie fürchteten wohl, dass es ihnen an den Kragen gehen sollte. Aber darauf würden sie noch etwas warten müssen. Jetzt war erst einmal Lycopersa an der Reihe.
    Am Morgen des vierten Tages erreichten wir eine hügelige Gegend. Vor einer größeren dieser natürlichen Beulen in der Landschaft hielt der Zug an. Präodor ließ hier das Hauptlager errichten. Demnach konnte es nicht mehr weit bis zu Lycopersas Festung sein. Die Schmiede bauten wir unter einem großen Zeltdach auf. Bis auf den Ofen. Den stellten wir davor. Wie von Seckondflor vorhergesagt bastelten einige Servatoren die zerlegten Belagerungswaffen wieder zusammen. Andere waren damit beschäftigt weitere Zelte für Lager und Unterkünfte zu errichten. Das Zelt der Magier wurde nicht weit von unserem aufgestellt. Corianda und Coccineo fanden die Gelegenheit, Broccolus und mich zu besuchen.
    „Ein nettes Plätzchen zum campieren“, scherzte Coccineo. „Der Grill wird auch schon aufgestellt.“
    Diese Bemerkung galt Ohvenror und Wentilator, die sich gerade am Schmiedeofen zu schaffen machten.
    „Nur leider fehlt das Bier“, meinte Broccolus.
    „Servatoren haben viele Talente, aber von der Braukunst verstehen sich nichts.“
    Beide lachten in Einigkeit.
    „Wo genau liegt jetzt eigentlich die Festung?“, fragte ich.
    Der Magier deutete auf den Hügel hinter dem Lager. „Von dort oben aus kann man sie sehen. Hinter dem Hügel befindet sich ein Stück Flachland, das an einen weiteren Hügel angrenzt. Auf diesem steht Lycopersas Domizil.“
    „Wie weit ist es bis dorthin?“
    „Ein paar hundert Meter werden es wohl sein.“
    „Gibt es schon einen Plan, wie die Schlacht ablaufen soll?“
    „Präodor hat uns gerade erst eingeweiht. Zunächst sollen wohl die Trebuchets auf dem Hügel aufgestellt und eingeschossen werden. Dann stürmt die erste Angriffswelle hinter Pfeilschutzwänden auf die Festung zu. Sie besteht zum größten Teil aus Bogenschützen, aber auch aus einigen Nahkämpfern, falls Lycopersa einen Ausfall in Erwägung ziehen sollte.“
    „Wahrscheinlich wird er aber die Angreifer von den Mauern aus unter Beschuss nehmen“, fügte Corianda hinzu.
    „Direkt hinter der ersten Welle folgen Belagerungswaffen für kürzere Strecken“, erzählte Coccineo weiter. „Mit ihnen können größere Geschosse gegen die Mauern geschleudert werden. Wenn die erste Welle das Gebiet gesichert hat, folgt die zweite Welle mit dem Hauptteil der Krieger. Darunter sollen auch einige Leiterträger sein, um die Mauer erklimmen zu können, falls sie länger als geplant den Geschossen standhalten sollten.“
    „Wird Lycopersa nicht versuchen, die Belagerungswaffen zu zerstören?“, fragte ich.
    „Davon geht Präodor aus. Er meint, dass Lycopersa früher oder später einen Ausfall wagen müsse. Für diesen Fall steht aber eine weitere Welle bereit, die von Süden her seitlich auf das Schlachtfeld treten soll. Es handelt sich dabei zum Teil um berittene Krieger, die wohl für einen Überraschungseffekt sorgen sollten. Wenn sie zwischen Vormittag und Nachmittag zum Einsatz kommen, haben sie sogar noch die Sonne im Rücken, was Lycopersas Leuten auf dem Feld den Kampf gegen sie erschweren könnte.“
    „Häuptling Präodor scheint ja an alles gedacht zu haben.“
    Coccineo nickte. „Er wird von seinen Beratern unterstützt.“
    „Eine Frage hätte ich da aber noch“, sagte Broccolus. „Was ist mit der Magie? Die Servatoren könnten sie doch einsetzen und Lycopersa wird sich sicherlich mit diesem Mittel verteidigen.“
    „Das ist alles mit einberechnet worden. Es werden wohl einige magische Geschosse während der Schlacht umherfliegen. Neben den Belagerungswaffen werden auch die servatorischen Energiekugeln gegen die Mauern eingesetzt werden. Aber es gibt tatsächlich noch ein Problem, dessen Tragweite weder Präodor mit seinen Beratern noch Corianda und ich vorhersagen können: Niemand weiß so richtig, wie mächtig Lycopersas magische Fähigkeiten sind.“
    Corianda stimmte zu. „Wenn es ihm bereits gelungen ist die magischen Wesenheiten der drei Welten zu kombinieren und sie sich zu Nutze zu machen, könnte die Schlacht unter Umständen sehr schnell vorbei sein.“
    „Aber auch seine konventionelle Magie könnte ein Problem sein“, erklärte Coccineo. „Er kennt bestimmt den einen oder anderen Schutzzauber, der uns das Eindringen in die Festung erschweren könnte.“
    „Aus diesem Grund werden Phaseolus und ich uns unter die erste Welle mischen, getarnt in Lederrüstungen. Wir müssen sehr schnell sehr viel über die gegnerische Magie herausfinden.“
    Mit besorgtem Gesichtsausdruck trat Corianda einen Schritt näher an uns heran. „Möglicherweise geht das Ganze nicht so aus, wie wir es geplant haben. Wenn Lycopersa auf dem Schlachtfeld siegen sollte, wird er anschließend dieses Lager überfallen. Haltet Euch bitte zwei fertig gesattelte Pferde bereit. Wenn sich eine Niederlage abzeichnet, lasst alles stehen und liegen, reitet zurück nach Nordeichenheim und warnt die Bewohner.“ Sie warf ihren Blick in Richtung Osten, wo sich knapp drei Tagesmärsche entfernt das Dorf befand. „Wenn Phaseolus und ich in der Schlacht fallen, gibt es niemanden mehr, der Lycopersa rechtzeitig aufhalten kann. Ihr müsst dann mit Alisa und Norbert aus dem Dorf verschwinden und irgendwo in Amoenor untertauchen.“

    Nach einem Monat begann Präodor langsam zu drängeln, wann man denn endlich angreifen könne. Seine Krieger würden nur noch auf die beiden menschlichen Magier warten. Inzwischen waren unsere servatorischen Schmiedehelfer so gut eingearbeitet, dass Broccolus und mir tatsächlich wieder etwas Freizeit zur Verfügung stand. Wir nutzten sie, um an Präodors Kampftraining teilzunehmen.
    Broccolus ließ sich hauptsächlich an der Armbrust ausbilden, während man mir den Umgang mit Schwert und Streitaxt näher brachte. Schon sehr bald bemerkte ich meine Vorliebe für den Anderthalbhänder, auch Bastardschwert genannt. Offenbar hatte meine jahrelange Arbeit im Bereich des Schmiedehandwerks mir eine ausreichende Armmuskulatur eingebracht, um diese schwere Waffe problemlos mit einer Hand führen zu können wie ein Kurzschwert.
    Unser Kampftraining dauerte jedoch nur knappe drei Wochen, was uns gerade einmal einen Einblick in die Grundfertigkeiten ermöglichte. Dann kam der Tag, an dem die Servatoren in den Krieg zogen.
    Corianda und Coccineo hatten bei ihrer Arbeit für sie zufriedenstellende Ergebnisse erlangt und sahen keinen Grund mehr, die bevorstehende Auseinandersetzung mit Lycopersa weiter hinauszuzögern. Sie konnten nicht sagen, wie weit der dunkle Magier mit seinen Forschungen gekommen war, aber es schien ihnen besser, nicht noch mehr Zeit verstreichen zu lassen.
    Am Morgen dieses Tages verluden Broccolus und ich mit Hilfe einiger Servatoren unsere Schmiedeausrüstung auf bereitstehende Wagen. Da man nicht wüsste, wie lange der Krieg dauern würde, befand man, dass eine mobile Schmiede an der Front gebraucht werden könnte. Broccolus und ich würden also die Schlacht damit verbringen, beschädigte Waffen zu reparieren und Pfeilspitzen zu Gießen.
    Wie die meisten weiblichen, zu jungen oder zu alten Servatoren blieb auch Alisa in der Siedlung, wo sie auf Norbert und den Magierturm aufpassen sollte. Mehrfach hatte sie versucht, Broccolus und mich ebenfalls zum bleiben zu bewegen. Doch wir konnten sie davon überzeugen, dass es für unsere Heimkehr notwendig war, uns den gelben Teleporterstein zurückzuholen. Falls uns das nicht gelingen würde, wären wir gezwungen den Rest unserer Tage in dieser Welt zu verbringen. In diesem Fall müssten wir zumindest die beiden Magier dabei unterstützen, Lycopersas Pläne zu vereiteln.
    Nach einer herzlichen Verabschiedung brachen wir auf. Wir schlossen uns mit unseren insgesamt vier Wagen und unseren servatorischen Schmiedehelfern dem Zug von Wagen und Kriegern an, der permanent aus der Siedlung strömte. Broccolus und ich saßen auf dem Wagen, der die Einzelteile eines Schmiedeofens und Teile des Kohlevorrats transportierte. Gezogen wurde das vierrädrige Gefährt von einem Zweiergespann kräftiger schwarzer Pferde.
    Wir Schmiede und unsere Wagen waren einer Horde zugeteilt worden, die uns Begleitschutz geben und eine bessere militärische Koordination ermöglichen sollte. Ihr Anführer Seckondflor saß auf einem der anderen Wagen, während seine sechzehn Untergebenen sich um uns herum verteilt hatten. Die beiden Magier marschierten irgendwo in weiter Ferne bei Häuptling Präodor an der Spitze des Zuges. Begleitet wurden sie von Kunibert, der sich inzwischen wieder von seinen Verletzungen erholt hatte.
    Unsere fünf Wagen waren nicht die einzigen im Zug. Neben vielen weiteren Transportern sah ich auch einige beräderte Holzkonstruktionen, deren Ausmaße etwa denen größerer Steinhütten entsprachen. Die Gespanne, die diese Monster zogen bestanden teilweise aus bis zu sechs Pferden. Auf meine Nachfrage hin erklärte Seckondflor mir, dass es sich bei diesen Fahrzeugen um demontierte Belagerungswaffen handelte, die später wieder zusammengebaut würden.
    Der Marsch führte westwärts. Er dauerte drei ganze Tage. In dieser Zeit wurden insgesamt nur acht Stunden Pause gemacht. Servatoren waren offenbar von Natur aus gut zu Fuß. Broccolus und ich hatten glücklicherweise die Möglichkeit in unserem Wagen zu schlafen, den dann Segelor steuerte.
    Auf unserer Reise passierten wir einige von Menschen bewohnte Gebiete. Aber auch Servatoren traf man dort an. Meistens waren sie schwer beschäftigt. Auf den Feldern und Weiden vor einer kleinen Siedlung hüteten sie das Vieh ihrer Herren und kümmerten sich um ihre Feldfrüchte. Menschen sah man nur selten unter den Arbeitenden. Ein Bauer hatte sogar einen Servator vor seinen Pflug gespannt und trieb ihn über seinen Acker, während er gemächlich hinter ihm her spazierte.
    „Sieh sich das einer an“, sagte Broccolus zu mir. „Die Menschen hier verlernen noch, für sich selbst zu sorgen. Ich glaube, dass viele von ihnen nicht mehr ohne ihre Sklaven zurechtkommen würden.“
    „Das werden sie aber bald müssen“, meinte Seckondflor. „Wenn wir mit Lycopersa fertig sind, wird es keine neuen Halterringe mehr geben und mit der Zeit werden wir die verbleibenden Sklaven befreien.“
    „Wie können die Menschen hier nur so etwas tun?“, fragte ich.
    „Für jemanden, der nicht von hier ist, scheint es unbegreiflich“, stimmte Broccolus zu, „aber für die Menschen, die hier Leben ist das völlig normal. Sie haben keine bösen Absichten. Sie tun nur das, was ihre Artgenossen auch tun, ohne sich Gedanken darüber zu machen. Die meisten von ihnen sind eben nur ungebildete Bauern.“
    „Die Sklaven der einfachen Bauern werden aber noch relativ gut behandelt“, erklärte Seckondflor. „Ein Bekannter von mir ist aus Lycopersas Eisenerzmine entkommen. Dort hatte er jeden Tag schuften müssen und hatte gerade nur genug zu essen bekommen, um nicht zu verhungern. Sein Nachtlager war eine kleine Zelle im dunklen Stollen gewesen, die er sich mit neun weiteren Sklaven hatte teilen müssen. Tageslicht hatte er so gut wie nie gesehen. Eines Tages gab es einen Aufstand der Sklaven, der gnadenlos von den Wächtern niedergeprügelt wurde. Doch in dem Chaos gelang es meinem Bekannten und zwei weiteren Servatoren, aus der Mine zu fliehen. Fast verhungert fand sie dann einer unserer Kundschafter einige Meilen von der Mine entfernt.“

    „Wisst Ihr eigentlich was aus Herman und seiner Familie geworden ist?“, fragte Broccolus Kunibert.
    „Sie haben den Angriff überlebt. Mir wurde gesagt, dass sie ihren Hof wieder aufgebaut haben und nun auf die Haltung von Servatorensklaven verzichten.“
    „Ich nehme mal an, dass sie stattdessen neue Knechte eingestellt haben.“
    „Vermutlich.“
    „Wieso haben die Sevatoren sie damals getötet und Alisa und mich entführt?“
    Kunibert schüttelte bedauernd den Kopf. „In kriegerischen Auseinandersetzungen gibt es fast immer Tote. Diese Menschen hätten nicht sterben müssen, wenn sie keinen Widerstand geleistet hätten. Ihr und Eure Frau wurden wegen der magischen Spuren entführt. Ich hatte sie gleich bei unserer ersten Begegnung an Euch gespürt. Als die freien Servatoren kamen und von einer menschlichen Magierin erzählten, die den Sklaven helfen würde, hielt ich es für angebracht, meine Befreier auf diese Spuren hinzuweisen. Wie sich dann ja herausstellte, waren es die Spuren von eben dieser Magierin.“
    „Ihr hattet sie an Euch haften, weil Ihr den blaugrünen Teleporterstein benutzt hattet“, erklärte Corianda. „Wie Ihr wisst, habe ich den Stein ja erschaffen. Die Spuren sind übrigens nicht mit den magischen Signaturen der Welten zu verwechseln. Diese können nur geübte Magier erkennen.“
    Ich musste an Hannes‘ Worte vor dem Kampf im Turm denken. Dabei fiel mir eine Unklarheit auf: „Wenn Ihr den Stein erschaffen habt, warum behauptet Hannes dann, dass das Gegenstück im Labor der dunklen Magier entstanden sei?“
    Weil er offenbar tatsächlich dort entstanden ist. Es lässt sich eine sehr schwache Spur von Lycopersa an dem Stein in dieser Welt nachweisen. In irgendeiner Weise muss er also an seiner Entstehung beteiligt gewesen sein. Jeder Teleporterstein braucht ein Gegenstück. Beide Teile entstehen gleichzeitig, wo das geschieht, kann man aber nur bei dem Stein beeinflussen, der in der Welt entsteht, in der sich der Schöpfer befindet. Der Entstehungsort in der anderen Welt ist nicht vorhersehbar. Wie sollte er es auch sein, wenn man die andere Welt noch nicht kennt. Ich vermute, dass es an der magischen Atmosphäre in Lycopersas Labors liegt, dass das Gegenstück zu meinem Stein ausgerechnet dort entstanden ist.“
    „Und wie ist das bei dem gelben Teleporterstein?“
    „Der gelbe Stein ist ein Experiment von Phaseolus und mir. Wir wollten bei seiner Entwicklung unter anderem herausfinden, wie das Gegenstück entsteht. Bisher tappen wir dabei aber noch im Dunklen. Was uns aber gelungen ist, ist seine Bedienung zu vereinfachen.“
    Von dem Erfolg in diesem Punkt hatte ich mich ja bereits überzeugen können.
    Die Magierin erklärte noch weitere Einzelheiten zu den Teleportersteinen, von denen aber keiner der Anwesenden ein Wort verstand, außer Kunibert.
    Nach unserem Besuch im Krankenhaus, kehrten Alisa, Broccolus und ich in die Schmiede zurück, wo wir seit dem Brand im Turm wohnten. Corianda arbeitete noch daran, den Ruß und den Rauchgestank aus ihrem Heim zu beseitigen. Zurzeit wohnte sie im obersten Zimmer des Turms, der Sternenwarte. Dorthin war der Rauch nicht gelangt.
    Erst eine Woche später war der Turm wieder hergerichtet und wir konnten wieder unsere alten Quartiere einnehmen.
    Etwa zu der Zeit tauchte auch Coccineo mit seinem Spähtrupp wieder in Nordeichenheim auf. Er berichtete, Hannes‘ Aufenthaltsort ausfindig gemacht zu haben. Seine Spur habe direkt zu Lycopersas Festung geführt. Corianda war wenig erfreut über diese Nachricht. Sie meinte, dass sich ein militärischer Schlag gegen die dunklen Magier nicht mehr viel länger hinauszögern ließe. Man müsse ihn zu Fall bringen, bevor seine Macht dies unmöglich machen würde und er die Weltherrschaft an sich reißen konnte.
    Häuptling Präodor ließ seine Krieger Tag und Nacht trainieren und seine Hordenführer - das servatorische Äquivalent zu Offizieren - suchten ständig neue Rekruten unter den Bewohnern des Dorfes. Broccolus und ich kamen mit dem Waffenschmieden kaum hinterher, sodass uns vier servatorische Schmiede als Unterstützung zur Seite gestellt wurden.
    Als ich einige von ihnen näher kennen lernte, erfuhr ich, dass die Namen der männlichen Servatoren für gewöhnlich auf „or“ endeten und die der der weiblichen auf „ta“, wenn sie nicht durch menschliche Sklavenhalter benannt worden waren. Die Betonung lag dabei immer auf der drittletzten Silbe, die nicht selten zugleich die erste war. Dass der Häuptling Präodor hieß, wusste ich bereits. Unsere vier Helfer hießen Ohvenror, Segelor, Nochaintor und Wentilator.
    Nachdem ich Broccolus von dieser Art der Namensgebung erzählt hatte, meinte er, dass er nun verstehe, warum die Servatorin auf der Feuerwache, die er bei dem Brand im Turm aufgesucht hatte, einen so merkwürdigen Namen trug. Er habe sich schon gefragt, wie man nur Tatütata heißen konnte.
    Auch Corianda und Coccineo waren schwer beschäftigt. Die meiste Zeit über arbeiteten sie an ihrem Zauber, der die Macht der weltfremden Magiewesenheiten bändigen sollte. Doch nach ihren Angaben war das gar nicht so einfach, da sie dafür erst einmal einiges über die Wesenheit der Magie dieser Welt lernen mussten. Wann immer sie einen Teil ihrer knappen Zeit übrig hatten, verbrachten sie ihn damit, sich neue Kampfzauber anzueignen und ihre Kampftechniken zu verbessern.

    Buch 3 - Das Klohäuschen


    In den Tagen nach Hannes‘ Auftauchen waren wir alle schwer beschäftigt. Broccolus und ich begannen damit, die Waffen für die Servatoren zu schmieden, während Corianda ihren Turm aufräumte. Die Zeit, die sie nicht dort war, verbrachte sie bei Kunibert, der einiger ihrer ärztlichen Behandlungen bedurfte. Er war in dem Krankenhaus von Nordeichenheim untergebracht worden, wo er sich erholen sollte.
    Coccineo war mit einer Gruppe Servatoren aufgebrochen, um den dunklen Magier und die beiden Teleportersteine aufzuspüren. Bisher hatten sie sich nicht wieder gemeldet.
    Corianda erklärte Alisa, Broccolus und mir, dass Hannes einer von Lycopersas Leuten sei. Da er höchstwahrscheinlich zu seinem Meister zurückgekehrt sei und auch an ihm die Signaturen der anderen beiden Welten hingen, könnten wir drei uns nun frei in Amoenor bewegen, wenn wir wollten. Sobald das Labor in ihrem Turm wieder nutzbar war, würde sie weiter nach einem Zauber suchen, der diese Welt vor der Bedrohung durch Lycopersas Wissen schützen konnte.
    Auf ihren Vorschlag hin besuchten wir eines Abends mit ihr Kunibert. Mit beiden Beinen und dem linken Arm in Gips lag er in einem Krankenbett. Eine weißbekleidete Servatorendame, die er mit Termometa anredete, war gerade bei ihm, um die Reste seines Abendessens wegzuräumen.
    Der Eingegipste freute sich, uns zu sehen, und war überaus dankbar für seine Rettung vor den Flammen.
    Ich nutzte die gewonnene Vertrautheit zu diesem Servator, um mehr über seine Rasse herauszufinden. „Ich habe gehört, dass Servatoren von Natur aus eine Begabung für Magie haben. Können alle diese blauen Kugeln erzeugen, wie Ihr bei dem Kampf im Turm?“
    „Nein, der Grad der magischen Begabung ist von Servator zu Servator stark unterschiedlich. Vielen gelingen nicht einmal die einfachsten telekinetischen Anwendungen. Andere vollbringen mit der Telekinese wahre Kunststücke. Aber nur einige wenige von uns können solche Energiekugeln erzeugen.“
    Die Ausdrucksweise des Servators überraschte mich ein wenig. Corianda musste mir erst einmal erklären, dass Telekinese vereinfacht gesagt bedeutete, mit reiner Gedankenkraft mechanische Kräfte auf Gegenstände ausüben zu können. Diese Fähigkeit hatte es beispielsweise Hannes ermöglicht, die Überreste der Treppe umher zu schleudern, und Corianda, ihren unfreiwilligen Flug abzufangen. Aber auch die unsichtbaren Druckwellen, mit denen sich die Magier bekämpft hatten, beruhten auf dieser Art der Magie.
    „Kann ein Servator schon gleich nach seiner Geburt Magie anwenden?“, fragte ich weiter.
    „Nein, jeder Servator muss nach dem Schlüpfen diese Fähigkeit erst entwickeln. Um die Magie dann auch sinnvoll einsetzen zu können, bedarf es einer Menge Übung.“
    „Ich nehme an Servatorenkinder lernen so etwas in der Schule?“, fragte Alisa.
    „Das und noch vieles mehr. Aber nicht nur die Kinder gehen hier zu Schule. Die meisten der befreiten Sklaven haben erhebliche Bildungslücken. Die Menschen kümmert das nicht, solange die Arbeit erledigt wird. Auch ich hatte nach meiner Befreiung schultechnisch einiges nachzuholen. Ich konnte vorher nicht einmal Lesen und Schreiben.“
    „Damals“, sagte Broccolus, „als wir Euch auf dem Hof trafen, hatten wir schon einen Einblick in das Leben versklavter Servatoren bekommen. Aber wie war eigentlich Euer Leben vor den Halterringen?“
    „Ich bin in Gefangenschaft geboren worden“, sagte Kunibert. „Von den Servatoren, die hier im Dorf Leben, weiß ich aber, dass wir wohl einst friedlich mit den Menschen koexistiert haben. Beide Rassen hatten ihre eigenen Regionen in Amoenor und ließen sich gegenseitig in Ruhe.“
    „Regionen wie Nordeichenheim?“
    „Zum Beispiel. Zu Beginn der Rebellion der Servatoren ist diese Siedlung im nördlichen Teil der Überreste von Eichenheim errichtet worden. Die alte Siedlung war einige Jahre zuvor von dunklen Magiern auf der Jagd nach Sklaven niedergebrannt worden. Beim Neuaufbau hatte man nicht damit gerechnet, dass die neue Siedlung wieder die Fläche der alten einnehmen würde, was auch der Grund für die Namensgebung war. Nordeichenheim soll wohl, abgesehen von einigen bautechnischen Fortschritten, dem Eichenheim von früher gar nicht mal so unähnlich sein.“ Er grinste. „Gut, so einen Magierturm hatte es wohl früher nicht gegeben.“
    „Und der Anführer war wohl auch keine menschliche Magierin“, sagte ich.
    „Daran hat sich auch nichts geändert“, warf Corianda ein. „Der oberste Häuptling dieser Siedlung ist ein Servator. Seine Name ist Präodor.“
    „Oh. Ich dachte Ihr wärt es. Ihr bewohnt hier doch das höchste Gebäude.“
    Corianda schüttelte ihren Kopf. „Das bedeutet nichts. Der Magierturm in Tamalon ist auch höher als der Palast von König Optimus XVII. Mir wird hier nur ein Wohnrecht gewährt. Gelegentlich stehe ich Präodor in beratender Funktion zur Seite, aber politisch gesehen bin ich nicht einmal Bürger der Siedlung.“
    „Und dennoch seid Ihr unverzichtbar“, sagte Kunibert.
    „Naja, zumindest kann ich bei der einen oder anderen Kleinigkeit helfen.“
    „Seid nicht so bescheiden. Ihr habt immerhin unser Gesundheitssystem revolutioniert und ohne Eure heilenden Hände wäre ich an meinen Verletzungen gestorben.“ Er wandte sich zu uns. „Sie bildet einige unserer Heiler aus. Auch unter den Menschen von Amoenor werdet Ihr keinen besseren Lehrer dieser Kunst finden.“

    Hannes lief wieder zur Raummitte und erhob seinen Arm gegen den angeschlagenen Erzmagier.
    Plötzlich sprang Corianda auf. In ihrer linken Handfläche entzündete sich ein weiß glühendes Licht. Mit einem großen Schritt stand sie hinter Hannes, der davon offenbar völlig überrascht wurde. Sie erhob ihren linken Arm und ließ ihn auf seinen Nacken herabfahren. Kurz vor dem Aufschlag der leuchtenden Handfläche, sprang das Licht auf den Hinterkopf über. Mit schmerzverzerrtem Gesicht ging der dunkle Magier bäuchlings zu Boden.
    Dort verbrachte er jedoch gerade mal zwei Sekunden. In einer fließenden Bewegung drehte er sich auf den Rücken und streckte zugleich den Arm gegen seine Angreiferin. Diese flog von der altbekannten Schockwelle erfasst bis zur nächsten Wand. Anders als Kunibert zuvor, prallte sie aber nicht dagegen. Sie streckte beide Arme nach hinten, wodurch sie ihren Flug schlagartig bremste. Den anschließenden Sturz fing sie katzengleich ab. Mit beiden Füßen und einer Hand den Boden berührend hockte sie auf ihrem Teppich.
    Hannes war wieder aufgestanden und fing nun an, Kugelblitze nach ihr zu werfen.
    Corianda schaffte es zwar ihnen allen auszuweichen, aber man sah ihr die Anstrengungen des Kampfes bereits an. Viele Blitze würde Hannes wohl nicht mehr an ihr vorbei werfen.
    Coccineo war inzwischen kampfunfähig zusammengebrochen, wohl aufgrund seiner Verletzungen. Wenn der dunkle Magier mit Corianda fertig war würde er mit Sicherheit auch ihn und Kunibert töten, falls letzterer nicht bereits tot war.
    Allmählich füllte sich der Raum mit dem Rauch der brennenden Möbelstücke und erschwerte die Sicht deutlich. Alles Brennbare im Raum musste offenbar in Flammen stehen. Schon nach kurzer Zeit bekamen Broccolus und ich nichts mehr von dem Kampfgeschehen mit.
    Doch plötzlich erschien eine Silhouette im Rauch. Ich erkannte, dass es Hannes war, der auf das Tor zukam. Broccolus und ich wichen zurück und pressten uns eng an die Außenwand des Gebäudes. Hustend lief der dunkle Magier an uns vorbei. Mit der einen Hand hielt er sich seinen Umhang vor sein Gesicht, in der anderen hielt er den blaugrünen Stein. Ohne uns zu bemerken setzte er eiligen Schrittes seinen Weg fort, aus dem Dorf hinaus.
    Broccolus und ich zögerten nicht, in den Turm zu laufen. Der Qualm stach in der Nase und brannte in den Augen. Doch wir mussten die beiden Magier und Kunibert finden und hier herausbringen.
    Als erstes stießen wir auf Kunibert. Broccolus packte ihn unter den Armen und zog ihn zum Tor. Ich suchte weiter. Coccineo lag nicht weit entfernt. Er war bei Bewusstsein und hustete schwer. Ich half ihm auf und stützte ihn, während wir zum Tor gingen. Draußen nahm Broccolus ihn mir ab und setzte ihn auf den Boden.
    Nach einigen tiefen Atemzügen an frischer Luft gingen wir wieder hinein. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich Corianda entdeckte. Sie lag regungslos unter der zerstörten Treppe. Ihr Kleid war mehrfach eingerissen und hatte einige Brandflecke. Ich legte einen Arm unter ihren Rücken, den anderen unter ihre Kniekehlen, hob sie an und trug sie so nach draußen.
    Broccolus sagte, ich solle bei den Verletzten bleiben während er Hilfe holen ginge. Dann lief er davon.
    Ich legte Corianda auf den Boden. Neben ihr kniend beugte ich mich über sie und tastete am Hals nach ihrem Puls. Erfreut stellte ich fest, dass sie noch lebte. Mit einem Mal schlug sie Augen auf und drehte sich hustend zur Seite.
    „Er hat den Stein“, keuchte sie. „Er darf damit nicht entkommen.“
    „Ich fürchte, das ist er bereits“, sagte ich.
    Sie versuchte aufzustehen, schaffte es aber nur, sich hinzusetzen. Sie gab keinen Ton von sich, aber dass ihr diese Bewegungen Schmerzen bereiteten, konnte man deutlich von ihrem Gesicht ablesen.
    „Wie geht es Phaseolus und Kunibert?“
    Ich deutete zu den beiden hinüber. Der Erzmagier war gerade damit beschäftigt, Kunibert ein Lebenszeichen abzuringen.
    Corianda biss die Zähne zusammen und erhob sich. Mit ein paar langsamen Schritten ging sie zu den Beiden und setzte sich dort neben Kunibert. Sie legte ihre rechte Hand auf seine Stirn.
    „Er lebt“, stellte sie fest.
    Als Broccolus nach einer Weile zurückkehrte drangen bereits dicke Rauchwolken aus dem Tor des Turms. In der Begleitung meines Meisters befanden sich einige Servatoren aus dem Dorf. Sie führten einen Wagen mit sich, auf dem ein großes Fass stand. Einer von ihnen entfernte den Deckel und nacheinander gingen sie an das Fass, um Wasser herauszuholen. Dazu benutzten sie keine Eimer. Das Wasser schwebte einfach so in melonengroßen Portionen über ihren Händen.
    Nachdem etliche Liter Wasser auf diese Weise in den Turm getragen worden waren, kamen keine weiteren Rauchschwaden mehr aus dem Tor. Die Feuerwehrleute versammelten sich und zogen wieder ab.
    Die Magier, Broccolus und ich betraten den Turm. Corianda war reichlich niedergeschlagen, als sie vor den Resten ihrer Einrichtung stand.
    „Das mit dem Feuer tut mir leid“, entschuldigte sich Coccineo. „Ich hätte besser aufpassen müssen.“
    „Euch trifft keine Schuld“, sagte die Magierin. „Im Gegenteil, ich muss Euch danken. Wenn der Brand nicht gewesen wäre, hätte Broth uns sicherlich getötet.“
    Sie drehte sich zu mir um und ergriff mit ihren beiden zarten Händen meine grobe rechte. „Auch Euch danke ich. Wie ich hörte, habt Ihr mich vor dem Feuer gerettet und aus dem Turm getragen.“ Sie sah mir fest in die Augen. „Ich stehe in Eurer Schuld.“
    „Ach was“, sagte ich verlegen. Ihrem Blick konnte ich nicht länger standhalten und starrte daher auf unsere Hände. „Das war doch selbstverständlich.“

    Im Turm ging Coccineo gleich eilig auf Corianda zu.
    „Er kommt“, sagte er hastig. „Ich habe mich vor dem Teleport über eine Felsspalte gestellt. Der Stein müsste dort hineingefallen sein. Aber das wird ihn nicht lange aufhalten.“
    „Ihr habt Ihm den Stein überlassen?“, fragte Corianda aufgebracht.
    „Es tut mir Leid. Er war zu stark für mich. Ich musste mich zurückziehen. Könnt Ihr den Teleport nicht irgendwie verhindern?“
    „Nein. Für solche Überlegungen ist es zu spät... Norbert, bei Fuß!“
    Dem Ruf seines Frauchens folgend kam der Wolf angerannt.
    Die Magierin drehte sich zu Broccolus und mir um.
    „Ihr nehmt Norbert und sucht Alisa“, sagte sie entschlossen. „Dann verschwindet Ihr alle aus dem Turm.“
    Wir leisteten dieser Anordnung Folge. Nach Alisa mussten wir nicht lange suchen. Sie war durch die aufgeregten Stimmen in den Raum gelockt worden. Auf dem Weg zum Tor sah ich im Augenwinkel bereits ein blaugrünes Leuchten. Die letzten Meter rannten wir. Hinter dem Tor schickte Broccolus seine Frau mit Norbert zur Schmiede. Er selbst und ich stellten uns zu beiden Seiten an den Torrahmen und schauten vorsichtig in den Raum hinein.
    Hannes war erschienen.
    „Oh, ein Hinterhalt“, sagte er mit gespieltem Erstaunen, fing dann aber an zu lachen. „Und was für einer. Corianda Sativis, wenn ich mich nicht irre.“
    „Ich kenne Euch“, sagte Corianda. „Ihr seid einer der Magier, die mich damals angegriffen haben, als ich hierherkam. Ihr hattet mir damals den Teleporterstein und den Kompass gestohlen.“
    „Den Teleporterstein gestohlen? Er ist nach jahrelanger Forschungsarbeit in unserem Labor entstanden. Gestohlen hat ihn Euer Wolf. Wir haben nur unser Eigentum zurückgeholt, nachdem uns die Spur Eures Haustiers zu Euch geführt hat. Und was den Kompass angeht, der hat ohnehin nicht funktioniert. Ich habe ihn in Aliquandor irgendeinem Bauerntrottel verkauft.“
    Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Hannes gerade meinen Vater beleidigte.
    „Da Ihr Euch so gut an mich erinnert“, fuhr er fort, „werdet Ihr Euch doch sicherlich auch an Eure jämmerlichen Leistungen in unserem kleinen Kampf erinnern. Und da wollt Ihr jetzt tatsächlich erneut gegen mich antreten?“
    „Ihr habt scheinbar vergessen, dass der Kampf damals nicht ganz fair gewesen ist. Ihr wart zu dritt gegen mich allein.“
    „Wie ich sehe, hat sich dieses Verhältnis nun umgekehrt. Aber das stellt kein Problem für mich dar. Oder glaubt ihr wirklich, dass Ihr mich mit Eurem kleinen Servatorensklaven und diesem Witz von einem Erzmagier aufhalten könnt?“
    „Kunibert ist kein Sklave!“, rief Corianda zornig. „Und Phaseolus ist einer der fähigsten Magier, die ich kenne!“
    „Kunibert?“, lachte Hannes. „Ihr habt diesen Affen Kunibert getauft? Das ist ja ein noch bescheuerterer Name als Norbert. Und diesen Erzmagier als fähig zu bezeichnen, scheint mir reichlich übertrieben.“
    „Ihr mögt es nicht glauben, aber nicht jeder Magier spezialisiert sich auf den Kampf.“
    Hannes wurde ernst. „Dann wird dieser hier wohl nicht lange dauern.“
    Er streckte seinen Arm gegen Kunibert, der sofort rücklings gegen eine der Wände geschleudert wurde. Corianda machte eine ähnliche Bewegung, bei ihr sah sie jedoch weitaus eleganter aus. Hannes reagierte schlagartig und streckte seinen Arm nun ihr entgegen. Beide blieben auf ihren Füßen stehen. Die Zauber mussten sich wohl gegenseitig neutralisiert haben.
    Coccineo begann Hannes mit Feuerbällen zu bewerfen. Der dunkle Magier wich ihnen geschickt aus. Corianda versuchte einige weitere Male, ihn mit einer magischen Druckwelle umzuhauen, aber er reagierte immer wieder rechtzeitig darauf.
    Unterdessen hatte Kunibert sich wieder erholt. Er stand auf und formte zwischen seinen Händen eine durchsichtige melonengroße Kugel, die schwach blau leuchtete. Er schien den richtigen Moment abpassen zu wollen, um sie auf Hannes zu schleudern. Denn dieser sprang behände im Raum umher und gab somit kein leichtes Ziel ab.
    Dies musste auch Coccineo langsam einsehen. Mit seinen Feuerbällen hatte er kein einziges Mal den Gegner getroffen. Dafür stand jetzt aber ein Großteil von Coriandas Einrichtung in Flammen.
    „Immerhin kann er Brände legen“, kam dazu die hämische Bemerkung von Hannes.
    In diesem Moment schleuderte Kunibert seine Kugel nach ihm. Doch der dunkle Magier schaffte es gerade noch auszuweichen. Die Kugel schlug in die Treppe zu den oberen Etagen und sprengte in ihrer Mitte gut die Hälfte aller Stufen heraus.
    Hannes lachte auf. „Die beiden zerlegen noch die ganze Hütte.“
    Einem Feuerball ausweichend macht er einen Satz zu den Resten der Treppe. Mit einer unscheinbaren Handbewegung ließ er einen Großteil der herumliegenden Steinbrocken aufsteigen und auf seine Widersacher zu fliegen.
    Reflexartig warf Corianda sich auf ihren Teppich und entging den Geschossen. Kunibert wurde jedoch gleich mehrfach getroffen. Er stolperte zurück und stürzte zu Boden, wo er reglos liegen blieb. Auch Coccineo erwischte es. Er blieb allerdings noch stehen. Die Brocken hatten solch eine Wucht, dass einige davon sogar zum Tor herausgeflogen kamen.

    Vor uns erstreckte sich das Servatorendorf, das offenbar Nordeichenheim hieß. Es sah fast so aus wie Broccolus es in seiner Geschichte beschrieben hatte. Doch mein Meister bemerkte, dass es seit seinem letzten Besuch erheblich gewachsen sei. Wir sahen uns gründlich um und stellten fest, dass es hier ähnlich zuging, wie in einer normalen Stadt in unserer Welt. Auch hier gab es Wohnhäuser aller Art, Handwerksbetriebe und diverse öffentliche Gebäude. Die Größen der Gebäude reichten dabei von kleinen Zelten bis hin zu mehrstöckigen Steinhäusern. In seiner Größe unübertroffen stand Coriandas Turm mitten in der Siedlung. Er ähnelte stark dem Magierturm in Tamalon. Ich fragte mich, wozu ein einzelner Magier derart viele Stockwerke benötigte. Wahrscheinlich diente solch ein Turm auch dem Prestige der jeweiligen Stadt.
    Als wir etwa eine Stunde lang durch Nordeichenheim spaziert waren, leistete Corianda uns Gesellschaft. Sie führte uns zu einem leer stehenden Gebäude in der Nähe ihres Turms. Es bestand aus nur einem Raum mit hoher Decke. An einer Wand befand sich ein Schmiedeofen und in der Raummitte standen zwei Ambosse. Sie erklärte uns, dass wir uns in dieser alten Schmiede einrichten könnten, falls wir unserem Handwerk nachgehen wollten. An Aufträgen würde es uns nicht mangeln und sie würde uns für unsere Arbeit angemessen entlohnen. Wir entschieden uns, ihr Angebot anzunehmen.
    In den folgenden Tagen waren Broccolus und ich also damit beschäftigt, die Schmiede einzurichten. Da Alisa nichts Besseres zu tun hatte, half sie dabei. Corianda ließ die benötigten Rohstoffe heranschaffen.
    Wir schmiedeten Werkzeuge aller Art, die unter den Servatoren weggingen wie Süßwaren im Kindergarten. Zu unserer Verwunderung versuchte sich auch Alisa an Schmiedehammer und Amboss, mit zweifelhaftem Erfolg. Sie meinte, dass sie im Turm sonst vor Langeweile umkäme. Sämtliche anfallende Hausarbeit werde dort von bediensteten Servatoren erledigt. Doch später schaffte sie es, Corianda davon zu überzeugen, dass sie besser kochen könne als ein Servator, und wurde somit ihre neue Köchin.
    Nach einigen Tagen erschien Corianda in der Schmiede und bat uns um die Erfüllung eines etwas anderen Auftrags.
    „Waffen?“, hakte Broccolus nach, als hätte er sich verhört. „Wozu braucht Ihr Waffen?“
    „Wie Ihr wisst“, erklärte sie, „kämpfen die Servatoren um ihre Freiheit...“
    „Verlangt Ihr jetzt etwa von mir, dass ich eine andere Rasse mit Waffen ausstatte, damit sie damit meine eigene bekämpft?“
    „Ich verlange überhaupt nichts von Euch.“ Die Stimme der Magierin klang ungewöhnlich rau. Ihre freundlichen Gesichtszüge hatten ernsthafteren und einer deutlichen Spur von Besorgnis weichen müssen. „Das einzige, was ich nicht zulassen kann ist, dass Ihr das Dorf verlasst, aber sonst steht es Euch frei, zu tun und zu lassen, was Ihr wollt. Ich ersuche Euch lediglich darum, diese Waffen herzustellen. Und bevor Ihr ablehnt, hört Euch doch bitte an, warum ich dies tue.“
    „Nun gut, erzählt.“
    „Ein dunkler Magier namens Solanus Lycopersa ist für die Versklavung der Servatoren verantwortlich. Er hat die Halterringe erfunden mit denen sie sich kontrollieren lassen. Die breite Masse der menschlichen Bevölkerung hat er davon überzeugt, dass dies so richtig sei und es der Daseinszweck der Servatoren sei, den Menschen zu dienen. Nebenbei verdient er sich mit dem Verkauf der Ringe eine goldene Nase. Aber die Menschen werden sich noch wundern, wenn sie von Lycopersas wahren Absichten erfahren.“
    „Er hat noch weitere Absichten, als den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen?“
    „Die Ringe verteilt er nicht unter den Menschen, um ihnen das Leben leichter zu machen. Viele glauben das und verehren ihn dafür. Aber den Berichten einiger Servatoren zufolge, die wir letztes Jahr aus den Reihen seiner persönlichen Sklaven befreien konnten, sieht die Sache ganz anders aus. Zu jedem Paar Halterringe stellt Lycopersa noch einen weiteren her. Dieser Ring ist mächtiger, als der des vermeintlichen Besitzers des Sklaven. Lycopersa veranlasst die Menschen dazu, unzählige Ringe in Servatoren einzupflanzen und so massenweise Sklaven zu produzieren. Die eigentliche Kontrolle über diese Servatoren behält er aber selbst.“
    „Zu welchem Zweck?“
    „Solanus Lycopersa ist ein machtgieriger Mensch. Er schafft sich seine eigene Armee aus willenlosen Sklaven und wird damit über das ganze Land herrschen, wenn ihn niemand aufhält.“
    „Und Ihr wollt Euch ihm nun entgegenstellen?“
    „Wir müssen gezielt gegen ihn vorgehen, um die Produktion der Halterringe zu stoppen und die restlichen Sklaven zu befreien. Die Menschen werden möglichst unbehelligt von diesem Krieg bleiben, abgesehen von Lycopersas Leuten, versteht sich.“
    „Gut, wir werden Eure Waffen schmieden“, lenkte Broccolus ein. „Aber versprecht Euch nicht zu viel davon, wir haben so etwas noch nie gemacht.“
    „Ich danke Euch.“ sagte Corianda und sah dabei erst Broccolus und dann mich an. Ihr strahlendes Lächeln war auf ihr Gesicht zurückgekehrt. Ich fand, dass es sich allein dafür gelohnt hatte, in ihr Gesuch einzuwilligen.
    Plötzlich flog die Tür auf. Kunibert erschien darin. Er wirkte sehr aufgeregt.
    „Verzeihung, Meisterin Sativis“, sagte er, „Meister Coccineo ist soeben in Eurem Turm erschienen und möchte Euch dringend sehen. Er meinte, es gäbe ein Problem mit einem gewissen Hannes.“
    „Ich komme sofort.“ Corianda verließ mit ihm die Schmiede. Broccolus und ich sahen uns kurz an und folgten ihnen.

    „So wie Coccineo es ausdrückte, hörte es sich so an, als hättet Ihr Euch freiwillig durch den gelben Stein teleportiert, Alisa. Warum habt Ihr das getan?“
    Alisa setzte sich deprimiert auf eines der Betten. „Ich hatte keine Wahl. Ich konnte diesem Magier doch nicht den Stein einfach überlassen. Damit durch den anderen Stein zu fliehen, schien mir der einzige Ausweg zu sein.“
    „Als ich hereinkam, sah ich sie gerade noch verschwinden“, erklärte Broccolus. „Außer mir waren auch noch Hannes und Coccineo im Raum. Coccineo wirkte reichlich überrascht. Bevor er etwas tun konnte war auch Hannes durch den Stein verschwunden. Ich sagte nur, dass ich meiner Frau folgen muss und benutzte ebenfalls den Stein.“
    „Als ich hereinkam“, erzählte ich, „war der Erzmagier ziemlich aufgebracht. Er erzählte mir, dass man sich nicht einfach so in anderen Welten teleportieren dürfte und teleportierte sich dann selbst durch den gelben Stein. Naja, ich bin ihm dann halt gefolgt.“
    „Übrigens hat der dunkle Magier mir erzählt, dass er ursprünglich ein paar Tage nach seiner Ankunft in Aliquandor wieder nach Amoenor zurückkehren wollte“, berichtete Alisa. „Er hatte den Stein im Magierturm von Tamalon zurückgelassen. Als er ihn dann wieder benutzen wollte, war er verschwunden. Ich vermute, dass meine Mutter ihn zwischenzeitlich an sich genommen hatte.“
    Broccolus überlegte. „Das kann gut sein. Beides ist etwa vierunddreißig Jahre her. Eine Andeutung in dieser Richtung hatte er ja schon vor unserem Haus gemacht.“
    „Ich möchte aber keine vierunddreißig Jahre in einer fremden Welt verbringen. Hoffentlich finden die Magier einen Weg, den gelben Stein bald zurückzubekommen.“
    Ich musste daran denken, dass neben Manfred auch meine Eltern nicht wussten, was mit uns geschehen war. Wenn sie in den nächsten Monaten nichts mehr von mir hörten, würde sie bestimmt anfangen, sich Sorgen zu machen. Aus meiner Tasche kramte ich den Kompass, den mir mein Vater gegeben hatte, und betrachtete ihn gedankenversunken.
    Nach einer Weile fiel mir auf, dass die Nadel sich eigenartig verhielt. In Tamalon war mir schon aufgefallen, dass sie nicht mehr nach Norden zeigte. Aber hier zeigte sie überhaupt nicht mehr konstant in eine Richtung. Sie drehte sich unstetig im Kreis und wechselte immer wieder die Drehrichtung. Ich schüttelte den Kompass einige Male und begann damit durch den Raum zu laufen. Alisa und Broccolus sahen mir interessiert dabei zu. In der Nähe der Tür schien die Nadel, sich für einen Moment wieder gefangen zu haben, doch dann zappelte sie weiter. Ich ging zur Tür hinaus und die Treppe hinunter bis ins Erdgeschoss. Völlig auf den Kompass konzentriert, wäre ich beinahe mit Corianda zusammengestoßen.
    „Das ist ein Portalsteindetektor“, erklärte sie mit ihrer freundlichen warmen Stimme. „Ich hatte ihn damals auf den blaugrünen Stein eingestellt, damit ich ihn immer wiederfinde.“
    „Er gehört Euch?“, fragte ich und spürte, wie ich errötete. „Das tut mir Leid. Den hat mir mein Vater gegeben. Ich wusste nicht...“
    „Ist schon gut“, sagte sie lächelnd. „Ihr könnt ihn behalten. Als ich damals nach Amoenor kam, wurde ich in einen Kampf verwickelt, bei dem ich den Detektor verlor, zusammen mit dem blaugrünen Stein. Da der Stein aber wieder hier ist, konnte ich mir inzwischen einen neuen anfertigen.“
    Sie trat dicht neben mich, deutete auf einzelne Stellen des Kompasses und erklärte mir einige Dinge dazu. Ich spürte ihre Körperwärme und vernahm den angenehmen Duft ihres Parfüms. Es war mir unmöglich, aufmerksam dem Inhalt der in ihrer sanften Stimme vorgetragenen Worte zu folgen. Alles was ich verstand war, dass die Nadel des Kompasses immer in die Richtung zeigte, in der sich der blaugrüne Stein befand und dass sie so zappelte, weil der Stein im Moment in unmittelbarer Nähe lag. Dass sich beide Steine einer Sorte zugleich in einer Welt befanden, war mit den verfügbaren zwei Steinpaaren in den drei Welten nicht möglich.
    Am Ende ihrer Erklärungen meinte Corianda, dass sie sich nun um Norbert, ihren Wolf, kümmern müsse. Er habe heute seinen Badetag.
    „Wolf müsste man sein“, sagte Broccolus breit grinsend, als die Magierin verschwunden war.
    Er war unbemerkt hinter mir im Raum erschienen. Alisa stand neben ihm und verpasste ihm erst einmal einen Seitenhieb für seine Bemerkung.
    „Eine nette Frau, nicht wahr?“, fragte er mich die Seite seines Brustkorb reibend.
    „Ja, schon“, meinte ich schulterzuckend.
    Broccolus grinste wieder. „Sie ist zu alt für dich. Sie mag ja wie dreißig aussehen, ist aber wohl eher um die sechzig, wenn nicht noch älter.“
    „Wir wollten uns mal das Dorf ansehen gehen“, sagte Alisa. „Möchtest du mitkommen?“
    „Ja.“ Ich steckte den Kompass wieder ein und folgte den Beiden durch das Eingangstor nach draußen.

    Vor uns standen Alisa, Broccolus und eine gutaussehende junge Frau mit weißem Gewand, tiefblauen Augen und langen blonden Haaren, die mir - leider - völlig unbekannt war. Eine großer grauer Wolf schlawenzelte um ihrer Füße herum.
    Offenbar wurden Coccineo und ich bereits erwartet.
    „Phasoleus“, sagte die Frau freundlich, „trotz der Umstände freut es mich, Euch zu sehen.“
    „Die Freude ist ganz meinerseits, Corianda“, entgegnete Coccineo höflich.
    Corianda begrüßte auch mich, bevor sie sich wieder an ihren Kollegen wandte.
    „Die beiden haben mir schon einiges erzählt“, sagte sie und sah in Richtung Alisa und Broccolus. „Sie sagten Ihr wärt einem feindlichen Magier aus dieser Welt entgegengetreten. Hat es einen Kampf gegeben?“
    „Ja und leider musste ich feststellen, dass dieser Magier mir mindestens ebenbürtig ist. Wir konnten mit dem blaugrünen Stein entkommen, aber der gelbe ist noch in seinem Besitz.“
    Corianda wirkte etwas besorgt. „Wo ist der Stein jetzt?“
    „Er liegt in einer Höhle und sollte dort erst einmal vor dem Magier sicher sein, aber nicht allzu lange. Deshalb bin ich hierhergekommen und ersuche nun Euren Rat.“
    Die Magierin dachte nach. „Ich fürchte, im Moment werden wir wohl nicht viel tun können. Möglicherweise würde dieser Magier Euch den gelben Stein im Tausch gegen den blaugrünen aushändigen, aber wir dürfen nicht zulassen, dass er hierherkommt. Es ist wohl das Beste, wenn Ihr erst einmal wieder zurückgeht und auf den Stein aufpasst. Ich werde versuchen, sobald wie möglich eine adäquate Lösung zu finden.“
    „Ja, das wird wohl das Beste sein.“
    „Was Euch drei angeht“, sagte Corianda zu Alisa, Broccolus und mir, „Ihr werdet bis auf Weiteres in dieser Welt festsitzen. Ihr könnt in meinem Gästezimmer wohnen und euch frei in Nordeichenheim bewegen. Aber keinesfalls dürft Ihr das Dorf verlassen.“
    Wir erklärten uns einverstanden und dankten für die Gastfreundschaft. Als Coccineo schon wieder in die andere Welt verschwunden war, betonte sie nochmals, dass es wichtig sei, im Dorf zu bleiben. „Ihr dürft unter keinen Umständen Lycopersas Leuten in die Hände fallen, solange die magischen Signaturen der anderen beiden Welten an Euch noch nicht verblasst sind.“
    „Wie lange dauert so etwas?“, fragte Broccolus.
    „Die Signatur der Welt, aus der Ihr gerade gekommen seid, wird schon in wenigen Stunden nicht mehr nachweisbar sein. Da Ihr aber Eure ganzen bisherigen Leben in Aliquandor verbracht habt, wird diese Signatur wohl noch Jahre an Euch haften.“
    „Was sollen wir in der Zeit hier machen?“, fragte ich.
    „Wie ich sehe, seid Ihr im Umgang mit Schmiedewerkzeugen vertraut“, sagte sie lächelnd und deutete auf den Hammer, den ich noch immer in der Hand hielt. „Ihr könntet möglicherweise von großem Nutzen für die Dorfbewohner sein.“
    Ihr bezauberndes Lächeln hatte mich dermaßen aus dem Konzept gebracht, dass ich keine Ahnung hatte, was ich sagen sollte.
    „Sobald der gelbe Stein wieder in unserem Besitz ist, könnt Ihr in Eure Welt zurückkehren“, fuhr sie fort. „Leider kann ich nicht sagen wie lange es dauern wird. Nun wird Kunibert Euch erst einmal Euer Zimmer zeigen.“
    Sie winkte einen großen Mann herbei, der die ganze Zeit weiter hinten im Raum gestanden hatte. Als er näher kam, bemerkte ich, dass er gar kein Mann war, nicht einmal ein Mensch. Er hatte zwar die passende Größe, aber das Gesicht eines Primaten. Seine Haut war violett und die Arme reichten fast bis zum Boden. Er trug eine weiße Tunika und wirkte im Gegensatz zu einem Primaten recht kultiviert. Ein Servator, wie Broccolus mir erklärte.
    Mit seiner grollenden Stimme bat er uns, ihm zu folgen.
    Das Zimmer, in das er uns führte war sehr groß. Es musste wohl fast den gesamten zweiten Stock des Gebäudes einnehmen. Der Anzahl der Betten nach, war es wohl für bis zu sechs Leute ausgelegt. Aber von weiteren Bewohnern gab es keine Spur.
    „Die Unterkunft scheint ja sehr komfortabel zu sein“, meinte Broccolus, „aber dennoch möchte ich nicht den Rest meines Lebens in diesem Dorf verbringen.“
    „Was Manfred wohl in der Zeit macht?“, fragte Alisa.
    „Was machst du eigentlich hier?“, fragte mich Broccolus. „Solltest du nicht mit Manfred auf das Haus aufpassen?“
    „Es tut mir Leid“, sagte ich, „aber ich dachte, Ihr benötigt vielleicht meine Hilfe. Es reicht doch, wenn einer auf das Haus achtet.“
    „Wie du siehst, kannst du hier nicht viel ausrichten. Jetzt sitzt du hier nur mit uns fest.“

    Hannes, der das Geschehen wohl beobachtete hatte, lief mit großen Schritten auf die betreffende Stelle zu. Bevor er sie jedoch erreichte, schlug ein lodernder Feuerball direkt vor seinen Füßen in den Rasen und hinterließ dort einen großen schwarzen Brandfleck mit rauchenden Resten ehemals grüner Grashalme.
    Hannes drehte sich um. „Mit euren jämmerlichen Zaubertricks könnt Ihr vielleicht Kleinkinder beeindrucken“, rief er Coccineo zu, „aber aufhalten werdet Ihr mich damit nicht.“
    Ein weiterer Feuerball, entstanden in den Handflächen des Erzmagiers, flog auf den dunklen Magier zu. Dieser machte die gleiche Armbewegung, wie vor dem Haus der Radicius‘. Eine unsichtbare Kraft lenkte den Feuerball von seiner Flugbahn ab und ließ ihn vorzeitig in die Wiese schlagen, wo ein weiteres Mal einige Grashalme dran glauben mussten.
    Dies ging eine Weile so weiter. Coccineo schleuderte Feuerbälle, Hannes wehrt sie ab.
    Ich nutzte den Augenblick der Unaufmerksamkeit und eilte zu dem Stein hinüber. Da lag er nun unscheinbar im Gras zu meinen Füßen, der blaugrüne Stein von Tamalon, um den alle solch einen Wind machten. Ich hob ihn auf und rannte einige Meter davon, um nicht das Schicksal der qualmenden Grashalme teilen zu müssen.
    In sicherer Entfernung versuchte ich die Bewegungen nachzumachen, mit denen Alisa ihn aktiviert hatte. Ohne Erfolg. Ich gab es auf und richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf den Kampf zwischen den beiden Magiern.
    Coccineo hatte es offenbar geschafft, ein trockenes Stück Wiese zu treffen und es in Brand zu setzten. Zwischen ihm und Hannes loderte nun eine mannshohe Feuerwand. Während der Erzmagier noch immer mit Feuerbällen um sich warf, war sein Kontrahent mittlerweile auf bläulich weiß strahlende Kugelblitze umgestiegen.
    Minutenlang warfen sie sich ihre Geschosse um die Ohren und wichen denen des Gegners aus. Ich hatte noch nie zuvor zwei Magier gegeneinander kämpfen gesehen. Es war ein beeindruckendes Schauspiel. Doch langsam wurde mir bewusst, was es bedeute, wenn der Erzmagier den Kampf verlieren würde. Hannes hielt die Rückfahrkarte für unseren Heimweg in der Hand. Nur mit dem gelben Stein konnten wir zurück nach Aliquandor.
    Nach einigen weiteren Minuten traf endlich einer der Feuerbälle sein Ziel. Hannes Umhang ging in Flammen auf. Er fuchtelte wild umher und versuchte das Feuer auszuschlagen.
    Coccineo nutzte zu meiner Verwunderung diese Gelegenheit jedoch nicht. Anstatt seinem Feind den gelben Stein abzunehmen kam er in einem irrsinnigen Tempo zu mir herüber gerannt. Ich hätte nicht gedacht, dass dieser alte Mann so schnell laufen konnte. Die Magie macht’s eben möglich.
    „Schnell“, sagte er als er mich erreicht hatte, „wir müssen verschwinden, solange er abgelenkt ist.“
    „Was ist mit dem Stein?“, fragte ich. „Ihr hattet Hannes doch schon fast besiegt.“
    „Das sieht nur so aus. Dieser Magier ist mächtiger als ich vermutet hatte. Der Kampf würde wahrscheinlich ewig dauern und ich würde nicht zwangsläufig als Sieger daraus hervorgehen.“
    „Wie kommen wir denn jetzt wieder nach Hause?“
    „Ich werde mir etwas einfallen lassen, aber zunächst müssen wir verschwinden.“
    Er streckte mir seine Hand entgegen.
    Ich hatte sie kaum ergriffen als ich ruckartig davon gezerrt wurde. An der Hand des Magiers konnte ich ebenso schnell laufen wie er. Wir liefen durch einen Wald und gelangten in eine felsige Gegend. Dort entdeckten wir eine Höhle, in der wir Zuflucht suchten.
    Ich sah mich um. Die Höhle hatte eine hohe Decke und führte weit in den Felsen hinein. Unzählige Ecken und Nischen boten reichliche Möglichkeiten, sich zu verstecken.
    „Hier müssten wir erst einmal sicher sein“, sagte Coccineo. „Nun zu unserer Vorgehensweise: trotz der misslichen Lage habe wir noch einen Trumpf im Ärmel...“
    Er deute auf den blaugrünen Stein, den ich noch immer in der Hand hielt. Erst jetzt fiel mir auf, dass er tatsächlich so elastisch war, wie es in der Sage um ihn hieß. Fasziniert drückte ich ihn einige Male zusammen und beobachtete, wie er anschließend immer wieder seine ursprüngliche Form annahm.
    „Das ist kein Spielzeug“, sagte Coccineo mit einem genervten Augenverdrehen und nahm mir den Stein ab.
    „‘Tschuldigung“, sagte ich kleinlaut.
    „Also“, fuhr der Erzmagier fort, „dieser Hannes, wie Ihr ihn nanntet, wird wohl eine ganze Weile brauchen, um uns hier aufzuspüren. Wir sollten also genug Zeit haben, Corianda einen Besuch abzustatten. Sie kann uns vielleicht weiterhelfen.“
    „Ihr wollt uns nach Amoenor teleportieren?“
    „Richtig.“
    „Warum nehmen wir den Stein nicht mit, so wie er auch hierher teleportiert worden ist?“
    Wieder einmal verdrehte der Magier die Augen. „Habt Ihr schon einmal versucht, denselben Türrahmen mitzunehmen, durch den Ihr damit gehen wolltet?“
    Das war einleuchtend. „Ich verstehe.“
    „Dann lasst uns keine Zeit verlieren.“
    Er nahm wieder meine Hand. In seiner anderen Hand hielt er den Stein. Nachdem er damit eine Kette eigenartiger Bewegungen gemacht hatte umhüllte uns eine mir wohlvertraute Blase, diesmal in blaugrün, und beförderte uns in einen hell erleuchteten Raum.

    Um zum Magierturm zu gelangen, musste ich fast durch die ganze Stadt laufen und einen steilen Bergpfad zum Plateau hinaufsteigen. Als ich dann vor dem Turm stand, fiel mir sofort die offenstehende Vordertür auf. Es war niemand dort, außer mir. Die Anderen mussten wohl schon im Turm sein.
    Vorsichtig schritt ich durch die Tür und gelangte in eine dunkle steinerne Eingangshalle. Von einer Wendeltreppe an der Seite her hörte ich Stimmen. Sie kamen aus dem Keller. Eilig schlich ich die Stufen hinunter. Die Stimmen verstummten plötzlich. Den Griff des Hammers fest umklammert machte ich die letzten Schritte, die mich in das durch Fackeln beleuchtete Kellergewölbe führten.
    Ich erschrak als ich plötzlich einen Mann mit dunklem Umhang vor mir stehen sah. Auf den zweiten Blick bemerkte ich jedoch seine grauhaarige Frisur und den langen gleichfarbigen Spitzbart.
    „Seid... seid Ihr der Erzmagier...?“, fragte ich unsicher.
    „Phaseolus Coccineo, der bin ich“, sagte er, „und ich frage mich, was all die Menschen plötzlich in meinem Turm zu suchen haben. Vierunddreißig Jahre lang herrschten Frieden und Ordnung und jetzt kommt einer nach dem anderen hierher und vergreift sich an den Portalsteinen. Wollt Ihr Euch etwa auch durch den gelben Stein teleportieren?“
    „Ähm...also...“ Weiter kam ich nicht.
    „Man kann es den Leuten nicht oft genug sagen: Teleportersteine sind kein Spielzeug.“ Coccineo wirkte sehr aufgebracht. „Gegen einen harmlosen Spaziergang in eine andere Welt wäre ja nichts einzuwenden, wenn man dabei nur nicht die Signatur der heimischen Magie mit sich schleppen würde.“
    Er fuchtelte mit den Armen. „Nicht-Magier können sich überhaupt nicht vorstellen, welche Folgen es haben könnte, wenn man in der anderen Welt den falschen Leuten in die Hände fällt. Ein fähiger Magiekundiger mit dunklen Absichten, der in der Lage ist, die Wesenheiten der magischen Grundgerüste zweier Welten zu kombinieren, könnte mit diesem Wissen unvorhersehbaren Schaden in den betreffenden Welten anrichten.“
    Coccineo sah mich mahnend an, als wäre ich Schuld an allem. „Wisst Ihr, die ehrenwerte Magierin Sativis und ich arbeiten schon seit Jahren an einem wirksamen Schutz gegen diese Gefahr. Jetzt, wo wir endlich Fortschritte machen, kommen so ein paar Leute dahergelaufen und machen alles zunichte. Und als wäre das nicht genug klauen sie mir auch noch einen Teleporterstein.“
    „Ein Teleporterstein ist geklaut worden?“, fragte ich vorsichtig.
    „Allerdings. Meine Haushälterin hat den blaugrünen Stein mitgenommen. Ich kann jetzt hinterherrennen und versuchen, zu retten, was noch zu retten ist.“
    Coccineo ging zu einem Podest, auf dem eine faustgroße gelbe Kugel lag. Ein weiteres Podest daneben war leer. Er legte seine Hand auf die Kugel und sah zu mir herüber. „Fasst hier ja nichts an, während ich weg bin.“
    Er rieb an der Oberfläche der Kugel, woraufhin sich eine gelblich schimmernde Blase um ihn herum bildete. Dann waren er und die Blase plötzlich verschwunden.
    Ich stand eine Weile ratlos da, den Hammer noch immer fest umklammert. Was sollte ich nun tun? Alisa und Broccolus könnten möglicherweise meine Hilfe benötigen. Davon abgesehen, wollte ich schon gerne wissen, wie die Welt hinter dem gelben Stein aussah.
    So ging ich zu dem Podest hinüber und rieb in gleicher Weise an dem Stein, wie ich es beim Erzmagier beobachtet hatte. Auch ich wurde daraufhin von einer gelben Blase umfasst. Ich hatte ein mulmiges Gefühl. Alles um mich herum schien zu verschwimmen. Doch dann normalisierte sich die Umgebung wieder, nur dass es nun nicht mehr dieselbe war. Ich fand mich in einer flachen Wiesenlandschaft wieder. Unsicher schaute ich mich um. Unmittelbar neben mir stand Hannes. Erschrocken machte ich einen Satz in die entgegengesetzte Richtung und ließ dabei eine gelbe Kugel fallen, die ich mysteriöserweise in der Hand gehalten hatte. Es musste sich dabei wohl um das Gegenstück des Teleportersteins in dieser Welt handeln.
    Hannes bückte sich und hob die Kugel auf.
    „Besten Dank“, sagte er finster grinsend.
    „Lasst sofort den Teleporterstein fallen!“, rief Coccineo. Er stand nur ein paar Meter neben mir.
    Auch Alisa und Broccolus waren hier. Sie standen ein Stück weit entfernt und Alisa wedelte mit einer grünlichen Kugel herum, offenbar der blaugrüne Stein aus dem Magierturm.
    Ich lief auf sie zu und rief ihre Namen. Doch in dem Moment, als sie auf mich aufmerksam wurden, bildete sich eine blau und grün schimmernde Blase um sie herum und verschwand mit ihnen im Nichts. Der Stein fiel in die Wiese.

    Meine Ausbildung dauerte vier Jahre. Danach entschied ich mich, bei Broccolus zu bleiben und sein Geselle zu werden. Mein Meister hatte inzwischen das Angebot seines Betriebs erweitert, indem er sich zum Schmied hatte weiterbilden lassen. Auch hier begann ich, mit großem Interesse in seine Fußstapfen zu treten. Später, wenn wir unseren Meistergrad in einem seiner Fachgebiete errungen hätten, wollte Broccolus Manfred und mich sogar zu seinen Partnern machen.
    Eigentlich verlief alles bestens und ich war glücklich und zufrieden.
    Bis zu diesem einen Tag, vor fast zwei Jahren.
    Am Morgen dieses Tages, als Alisa gerade zu ihrer Arbeitsstelle im Magierturm aufbrechen wollte, traf sie kurz vor der Haustür auf einen ihr unbekannten Mann in einem langen schwarzen Umhang.
    Broccolus, Manfred und ich saßen noch am Frühstückstisch, als wir sie draußen mit ihm reden hörten. Mein Meister stand auf und ging zur Tür hinaus. Ich folgte ihm.
    „Ah, Broccolus Radicius“, sagte der Mann. „Und Hanswalter, richtig? So sieht man sich wieder.“
    Ich erkannte den Mann erst, als Broccolus seinen Namen aussprach.
    „Johannes Broth?“, fragte er. „Was treibt Euch in diese Gegend?“
    „Ihr erinnert Euch vielleicht noch an die Geschichte, die Ihr vor einiger Zeit in einer kleinen Taverne in Sonnental erzählt habt.“
    „Die Geschichte von dem blaugrünen Stein von Tamalon?“
    „Genau. Ihr sagtet seinerzeit, dass der Stein sicher im Magierturm verwahrt werde.“
    „Das ist der Stand meiner Kenntnisse, ja.“
    „Nun, ich denke, er liegt jetzt schon lange genug dort drin.“ Ein unheilvolles Lächeln erschien auf Hannes‘ Lippen.
    „Ihr wollt ihn stehlen?“, fragte Broccolus überrascht. „Warum?“
    „Vor über vierunddreißig Jahren kam ich hierher. Es sollte eigentlich nur ein kurzer Besuch werden, aber als ich wieder abreisen wollte, war der Stein aus dem Magierturm verschwunden. Dank Eurer Geschichte weiß ich nun auch aus welchem Grund. Ich nutzte die Gelegenheit, mir Eure Welt etwas genauer anzusehen und habe viele interessante Dinge erfahren. Aber nun ist meine Arbeit hier beendet und es wird Zeit für mich, nach Hause zu zurückzukehren.“
    „Ihr kommt aus Amoenor?“, fragte ich.
    Hannes sparte sich die Antwort und lächelte nur finster.
    „Wie stellt Ihr Euch das vor?“, fragte Broccolus weiter. „Ihr könnt nicht einfach so in den Turm marschieren, als wäre er eine Taverne. Seitdem der Nachfolger der damaligen Erzmagierin im Amt ist, gibt es dort unzählige Sicherheitsmaßnahmen, um unerwünschte Eindringlinge fern zu halten.“
    „Aus diesem Grund bin ich hier.“ Hannes‘ Lächeln wurde immer breiter und mir immer unwohler. „Eure Frau hat Zugang zu dem Turm. Sie kann mich dort hineinbringen.“
    „Das werde ich aber nicht tun“, sagte Alisa entschieden. „Meine Loyalität diesbezüglich gehört allein Erzmagier Coccineo.“
    „Ich habe damit gerechnet, dass Ihr das sagen würdet, Weib.“ Hannes wandte sich zu Broccolus. „Ihr habt doch nichts dagegen, wenn ich Eure Frau eine Weile entführe?“
    Broccolus wurde langsam etwas ungehalten. „Ihr werdet schön Eure Finger von ihr lassen.“
    Hannes lachte auf. „Wollt Ihr mich etwa daran hindern?“
    Von einem Moment zum nächsten hatte Broccolus einen Schmiedehammer in der Hand und schritt damit auf Hannes zu.
    „Ihr verlasst sofort meinen Boden“, drohte er. „Und solltet Ihr es wagen, meiner Frau zu nahe zu kommen, werde ich Euch den Schädel einschlagen.“
    Es war ein eindrucksvoller Auftritt meines Meisters, der wohl jeden gewöhnlichen Ganoven veranlasst hätte, die Flucht zu ergreifen. Aber dieser schwarz gekleidete Mann war kein gewöhnlicher Ganove. Er lachte nur, rührte sich aber nicht.
    Als Broccolus nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war, streckte Hannes ihm seinen rechten Arm mit offener Handfläche entgegen. Wie von einem Pferd getreten wurde Broccolus plötzlich einige Meter zurückgestoßen. Als er an mir vorbeiflog spürte ich eine Druckwelle, die mich nötigte, es meinem Meister gleich zu tun und mich mit dem Rücken gegen die Hauswand prallen ließ.
    Hannes packte Alisa am Arm und zerrte sie davon.
    „Geh rein zu Manfred“, sagte Broccolus als er sich wieder aufgerappelt hatte. „Ihr bewacht das Haus während ich weg bin.“
    „Werdet Ihr Hannes und Alisa folgen?“, fragte ich.
    „Genau das habe ich vor.“ Er nahm seinen Hammer und eilte den beiden hinterher.
    Ich hätte gerne gesehen, wie mein Meister sich mit einem Magier anlegt, nur mit einem Hammer bewaffnet. Möglicherweise hätte ich ihm auch behilflich sein können. Doch nach seiner Aussage hatte das Haus wohl Bedarf, bewacht zu werden. Warum auch immer. Aber würde es nicht auch genügen, wenn nur einer von uns hier bliebe?
    Als ich zur Tür hineinging stieß ich fast mit Manfred zusammen, der offenbar gerade herauskommen wollte.
    „Was ist los?“, fragte er.
    „Alisa wurde entführt“, antwortete ich. „Der Meister und ich verfolgen den Entführer. Du sollst auf das Haus aufpassen.“
    „Alles klar. Viel Erfolg.“
    So nahm ich mir ebenfalls einen Schmiedehammer und lief in die Richtung, in die Broccolus verschwunden war.