Beiträge von Hanswalter

    Die Tür des Hauses ging auf und eine schwarzhaarige junge Frau mittleren Alters trat freudestrahlend heraus. Das orange-rote Gewand, das sie trug, stand ihr ausgezeichnet und hob ihre natürliche Schönheit hervor.
    „Alisa!“, rief Broccolus fröhlich, ging zu ihr herüber und umarmte sie. „Das ist meine Frau Alisa“, stellte er sie mir vor. „Alisa, das ist mein neuer Lehrling Hanswalter.“
    „Ihr kommt gerade Recht“, sagte Alisa am Ende dieser Begrüßungszeremonie, „die Kekse müssten jeden Augenblick fertig sein. Ich gehe mal eben nach ihnen schauen.“
    Doch anstatt zurück ins Haus zu gehen, machte sie sich auf den Weg zu einem kleinen Nachbargebäude rechts neben dem Haus.
    „Hast du schon wieder meinen Schmelzofen zum Backen benutzt?“, fragte Broccolus.
    Alisa lächelte entschuldigend. „Nun ja, der Ofen in der Küche ist zu klein für so viele Kekse. Du und Manfred futtert die Dinger ja, als ob wir sonst nichts zu essen hätten.“
    „Keiner macht Sieglindes Butterkekse so gut wie du, außer Sieglinde selbst.“
    Er wandte sich zu mir. „Sieglinde war die Bäuerin in Amoenor, von der ich dir erzählt hatte. Ihre Butterkekse waren einfach göttlich. Glücklicherweise hat sie Alisa das Rezept gegeben.“
    „Es würde Manfred und dir nicht schaden etwas mehr Obst und Gemüse zu essen“, sagte Alisa.
    „Äh... übrigens, Manfred ist mein Geselle“, klärte Broccolus mich auf, um vom Thema seiner Frau abzulenken. „Wo ist er eigentlich?“
    „Ich hab ihn zum Markt geschickt. Unsere Butter geht zur Neige.“
    Dem Wort Butter unterlag dabei eine besondere Betonung.
    Broccolus stöhnte auf „Alisa, ich habe den Mann eingestellt damit er Eisen schmilzt und nicht um die Einkäufe zu erledigen.“
    „Wer soll mir denn sonst im Haushalt helfen, wenn du nicht da bist?“ Alisa lächelte ihn herausfordernd an.
    Ratloses Schweigen.
    „Wo wir gerade beim Thema sind:“, fuhr sie fort, „du könntest gleich mal den Müll raustragen.“
    „Und du könntest mal deine Briketts aus meinem Ofen holen“, entgegnete er.
    „Meine was?“, fragte sie. Dann schlug sie die Hände an ihren Kopf und rief: „Aaah, meine Kekse!“
    Im Laufschritt verschwand sie in dem Nachbargebäude.
    „Ja!“, rief Broccolus triumphierend - aber leise, damit Alisa ihn nicht hören konnte - und machte die dazugehörige ruckartige Armbewegung mit geballter Faust.
    Ich hatte schon einige Streitereien miterlebt, aber diese Auseinandersetzung war einzigartig. Sie wirkte überhaupt nicht ernst gemeint. Es kam mir eher so vor, als würden sich die Beiden aus Spaß nur gegenseitig ein wenig ärgern wollen.
    „Lade schon einmal den Wagen ab“, sagte Broccolus. „Ich komme gleich zurück.“
    „Wo geht Ihr hin?“ fragte ich neugierig.
    „Was denkst du? Den Müll raustragen, natürlich.“
    Alisa kam wieder aus dem Gebäude, in dem sich offenbar der Schmelzofen befand. Mit dicken Handschuhen an den Händen und einem glücklichen Gesichtsausdruck trug sie ein Backblech vor sich her. Die Butterkekse hatten allem Anschein nach doch noch dem Hitzetod entkommen können.
    „Ich würde dir ja gerne welche anbieten“, sagte sie zu mir, „aber sie müssen erst etwas abkühlen.“
    Dann verschwand sie mit ihren Keksen im Haus.
    Beim Abladen der wenigen Dinge, die sich auf der Ladefläche befanden, fiel mir der Kompass meines Vaters in die Hände. Wie es aussah, hatte er die Fahrt nicht gut überstanden, denn ich musste feststellen dass er nun nicht mehr dahin zeigte, wo eigentlich Norden sein müsste. Er zeigte vielmehr in Richtung Südwest. Mit einem Schulterzucken steckte ich ihn wieder ein.
    Als mein Meister nach einer Weile zurückkehrte, griff er nach Brunos Zaumzeug und führte ihn samt Wagen zu einem kleinen Stall links neben dem Wohnhaus. Darin war genug Platz, um sowohl das Pferd, als auch den Wagen unterzubringen, natürlich getrennt voneinander.
    Anschließend zeigte mein Meister mir das Zimmer, in dem ich die nächsten Jahre wohnen würde. Es war nicht besonders groß, aber gemütlich. Ich packte direkt meine Sachen aus und richtete mich ein.
    Nach dem Abendessen, bei dem ich auch Manfred kennengelernt hatte, bot sich mir die Gelegenheit von Alisas Butterkeksen nach Sieglindes Rezept zu probieren. Ich konnte sofort Broccolus‘ Schwärmerei für dieses Gebäck nachvollziehen.
    Am nächsten Morgen begann dann meine Ausbildung. Broccolus fuhr mit mir in die nahegelegenen Berge zu seiner Eisenerzmine. Er zeigte mir, wie ich mit einer Spitzhacke das Erz aus den Felsen bekam. Gegen Mittag fuhren wir mit einem Eimer voll Eisenerz zurück zum Haus, wo wir erst einmal einen von Alisa bereiteten Imbiss genießen durften. Anschließend führte Broccolus mir vor, wie man das Erz zu kleinen Barren schmolz.
    Die Werktage der nächsten Monate verliefen in ähnlicher Weise. Wobei es aber oft auch etwas Abwechslung und immer etwas Neues für mich zu lernen gab. So zeigte mein Meister mir unter anderem auch, die Gewinnung und Verarbeitung anderer Metalle. Mehrere Male fuhr er mit mir in andere Städte, um seine Metalle zu verkaufen, die er in Tamalon nicht loswurde. Auf diese Weise lernte ich einige neue Ecken von Aliquandor kennen. Natürlich schrieb ich regelmäßig meinen Eltern, wie ich es versprochen hatte und besuchte sie gelegentlich. Sie freuten sich, dass ich einen Beruf gefunden hatte, der mir Spaß macht und dass ich bei so netten Menschen untergekommen sei.

    Buch 2 - Die dunkle Bedrohung


    Vor der Taverne wartete Broccolus bereits auf mich.
    „Da bist du ja“, sagte er.
    Er saß auf einem vierrädrigen Planwagen und hielt die Zügel des Zugpferdes in den Händen. Es war ein eigenartiges Tier. Ich hatte noch nie ein Pferd gesehen, das am ganzen Körper schwarz-weiß gestreift war.
    „Das ist Bruno“, meinte Broccolus, als er meine verwunderten Blicke bemerkte. „Er ist mir in der Nähe der großen Steppe südlich von hier, der Arida-Ebene, zugelaufen.“
    Ich stieg auf den Wagen und nahm neben meinem baldigen Meister Platz.
    Dieser bewegte Bruno mittels Zügel dazu sich fortzubewegen.
    „Wenn wir gut durchkommen, sind wir morgen Nachmittag schon in Tamalon“, prognostizierte er.
    Als ich meine Sachen hinter mir im Laderaum verstaute, bemerkte ich dort ein kleines Bierfass, welches Hendriks Namen trug.
    „Reiseproviant“, meinte Broccolus grinsend.
    Der Weg nach Tamalon führte in Richtung Norden über unzählige Getreidefelder aus dem Sonnental heraus. Danach folgten einige Hügelwiesen und ein großer dunkler Wald. Am anderen Ende des Waldes lag ein kleines Holzfällerdorf, welches wir pünktlich zum Einbruch der Dämmerung erreichten. Wir übernachteten Dort und setzten unsere Reise erst bei Sonnenaufgang fort. Die Straße, die wir entlangfuhren, führte uns an der Stadt Rübenhagen vorbei, der nächstgrößeren Ansiedlung außerhalb meines Dorfes. Die hohen Gebäude, die über die Stadtmauer hinaus zu sehen waren, machten einen imposanten Eindruck. Broccolus meinte jedoch, dass dies nichts wär, im Vergleich zu Tamalon.
    Hinter Rübenhagen wurde die Landschaft immer felsiger. Eigenartige weiße Vögel kreisten in der Luft, die allmählich salzig zu riechen begann. Nachdem wir einen großen Felsbogen passiert hatten, waren ein tiefes Grollen und Rauschen zu hören. Nach der nächsten Kurve sah ich dann die Ursache.
    Die Straße führte eine hohe Klippe entlang, unterhalb der die Wellen des Ozeans an steinigen Felsen brandeten. Ich hatte noch nie zuvor das Meer gesehen. Bis zum westlichen Horizont gab es nichts als Wasser. Es war ein eindrucksvoller Anblick.
    Eine ganze Weile fuhren wir diese Klippe entlang, bis die Straße wieder weiter ins Landesinnere führte. Von da an lag eine kleinere zerklüftete Gebirgskette zwischen uns und dem Meer.
    Am Nachmittag kam schließlich Tamalon in Sichtweite. Broccolus hatte Recht gehabt. Rübenhagen war winzig dagegen. Wie eine Festung ragte die Hauptstadt vor uns auf, eingebettet in die Gebirgskette. Die baumhohe Stadtmauer schloss links und rechts an die Berge an und glich so den Einschnitt in die Felsen ein wenig aus. Hinter der Mauer waren nur ein paar der größeren Gebäude zu sehen. Der Rest wurde offenbar schlichtweg von ihr verborgen. Doch auch auf den angrenzenden Bergen standen einige Gebäude. Eines davon war ein solider runder Turm auf einem Plateau in den Bergen links von der Stadt. Seine Spitze war ein leicht über den Grundriss ragendes sechseckiges Gemäuer mit hohen Fenstern und einem Spitzdach. Broccolus erklärte mir, dass dies der Magierturm von Tamalon sei. In den Bergen rechts von der Stadt stand der Palast von König Optimus XVII. Er war riesig und prunkvoll. Doch obwohl er etwa auf gleicher Geländehöhe wie der Magierturm errichtet worden war, wurde er von diesem noch überragt.
    Broccolus steuerte den Wagen auf das gewaltige Stadttor zu. Auf den letzten paar Metern konnte man bereits in die Stadt hineinsehen. Eine breite gepflasterte Straße schien vom Tor aus bis zum anderen Ende der Stadt zu führen. Die Torwachen grüßten freundlich und ließen uns passieren.
    Das Kopfsteinpflaster in der Stadt war erstaunlich eben. Zu beiden Seiten der Straße standen gut gepflegte Fachwerkhäuser, die teilweise bis zu vier Etagen hoch waren. Wir fuhren weiter bis wir zum Marktplatz kamen. Hinter etlichen Marktständen stand zu unserer linken Seite das Rathaus und rechts eine eindrucksvolle Kathedrale. Dann führte die Straße auf das Hafenviertel zu. Einige Schiffe verschiedener Größen lagen vor der Kaimauer. Die Häuser in diesem Teil der Stadt waren wesentlicher kleiner und ungepflegter als die Häuser im Inneren Teil. Teilweise waren es nur baufällige Holzhütten. Offenbar lebten hier die Bürger, die mit geringeren finanziellen Mitteln auskommen mussten.
    Aber unsere Fahrt führte nicht in den Hafen hinein. Broccolus bog vorher nach rechts in eine Seitenstraße ab. So kamen wir in eine ruhige Gegen der Stadt, in der offenbar einige Handwerker beheimatet waren. Hier fanden sich Schmieden, Tischlereien, Bäckereien und vieles mehr. Wir hielten vor einem dieser beschaulichen in Fachwerk-Bauart errichteten Häuser, über dessen Tür ein Schild mit der Aufschrift „Broccolus‘ Metallhandel“ hing.
    „Da wären wir“, sagte Broccolus.

    „Was geschah dann? Seid Ihr nicht mehr nach Amoenor gereist?“
    „Nein.“
    „Was ist denn mit den Servatoren geschehen?“
    „Ich vermute mal, dass sie noch immer um ihre Freiheit kämpfen. Genaueres kann ich dazu leider nicht sagen. Meine Frau und ich leben wieder friedlich in Tamalon und gehen unserer alltäglichen Arbeit nach. Ich bin gerade auf dem Rückweg dorthin. Ich war in einigen Städten südlich von hier und habe Eisen verkauft. Alisa hat die Stelle ihrer Mutter übernommen und arbeitet für den aktuellen Erzmagier.“
    Ich erinnerte mich, dass Broccolus sich als Bergmann und Metallhändler vorgestellt hatte. Ein sehr interessanter Beruf. Schon als Kind hatte ich davon geträumt, in entlegenen Gegenden nach seltenen Edelmetallen zu suchen und damit viel Geld zu verdienen. Früher war ich oft mit Ronald in einer verlassenen Kupfermine in der Nähe von Sonnental gewesen. Wir wollten dort unser Glück versuchen, aber bis auf ein paar Kupfererzbrocken haben wir dort nichts Besonderes gefunden. Nun bot sich mir möglicherweise die Gelegenheit, ein richtiger Bergmann zu werden. Mein Vater, Hans Roggenfeld, drängte mich schon dauernd, endlich eine ordentliche Ausbildung zu beginnen. Ich sollte zwar später den Hof übernehmen, aber er meinte, dass es besser wäre, auch eigenständig etwas zu erreichen.
    Also ergriff ich die Gelegenheit beim Schopfe.
    „Ihr sucht nicht zufällig noch einen Lehrling“, fragte ich Broccolus.
    „Ich könnte in der Tat eine helfende Hand gebrauchen“, sagte er und musterte mich. „Du siehst so aus, als könntest du eine Spitzhacke heben.“
    „Das heißt, Ihr würdet mich als Euren Lehrling annehmen?“
    „Wenn du interessiert bist. Ich reise morgen früh weiter. Erledige, was du hier noch zu erledigen hast und sei morgen früh wieder hier, dann nehme ich dich mit.“
    Ich kehrte sofort heim, weckte meine Eltern und erzählte Ihnen von Broccolus und seinem Angebot.
    „Broccolus?“, fragte mein Vater. „Meinst du den Typen, der gelegentlich im Bohnernden Hamster residiert und immer diese Geschichte über einen Stein erzählt?“
    Ich bejahte.
    Mein Vater meinte darauf, dass ich diesem Bergmann seine Geschichten nicht unbedingt glauben solle. Doch ansonsten hielt er ihn für einen aufrichtigen Menschen, der etwas von seinem Handwerk verstehe. Er freute sich, dass ich bei ihm eine Lehre beginnen wollte. Ich könne Einiges von ihm lernen, auch außerberuflich.
    Meine Mutter Waltraud schien hingegen weniger erfreut zu sein, eher besorgt. Sie sagte dauernd solche Dinge wie „Bist du dir wirklich sicher?“, „Du bist doch noch zu jung, um so weit weg zu gehen.“ und „Wer soll sich denn um dich kümmern, wenn mal was ist?“.
    Doch mein Vater beruhigte sie. Ich sei alt genug, um eigene Erfahrungen zu sammeln.
    Ich war sehr aufgeregt und schlief in dieser Nacht nur wenige Stunden.
    Meine Mutter schien hingegen gar nicht geschlafen zu haben, als ich mich am folgenden Morgen von meinen Eltern verabschiedete. Ich hatte meinen großen Rucksack und meinen Reisebeutel mit allem Wichtigen gepackt, aber meine Mutter bestand darauf, noch diverse Lebensmittel hineinquetschen zu müssen. Bevor sie mich gehen ließ, musste ich ihr mehrfach versprechen regelmäßig zu schreiben.
    Mein Vater gab mir zum Abschied einen Beutel, gefüllt mit ein paar Münzen, und einen alten Kompass mit, den er vor einiger Zeit erworben, aber eigentlich nie gebraucht hatte. Möglicherweise könne ich mehr damit anfangen.
    Ich bedankte mich und machte mich auf den Weg zur Taverne.

    „Wie seid Ihr aus dieser Situation entkommen?“, fragte ich wissbegierig.
    „Gar nicht“, sagte Broccolus. „Die beiden Servatoren nahmen Alisa und mich gefangen und verließen mit uns den Hof. Sie führten uns in ein nahegelegenes Waldstück, wo sie uns in einen Planwagen steckten und abtransportierten. Am Ende der Fahrt fanden wir uns an einem völlig fremden Ort wieder. Es war ein Dorf voller primitiver Hütten und bunt bemalter Zelte. Überall liefen Servatoren herum. Menschen waren dort nicht zu sehen. Wir wurden in einen großen steinernen Turm geführt. Zunächst dachten wir, es würde sich dabei um ein Gefängnis handeln, aber die edle Möblierung und der flauschige Teppich sprachen dagegen. Aus dem Halbdunkel der Fackelbeleuchtung erschien vor uns eine Frau wie aus dem nichts. Lange blonde Haare, ein weißes, aufwändig besticktes aber dennoch schlicht wirkendes Kleid mit langen Ärmeln, das eher wie eine Robe aussah - vielleicht war es auch eine - und ernste tiefblaue Augen. An ihrer Seite ging ein großer grau befellter Wolf, der Alisa und mich unentwegt anstarrte, aber völlig ruhig blieb.“
    „Corianda Sativis?“, fragte ich.
    „Und Norbert.“
    „Sie hatte also ihren Wolf wiedergefunden?“
    „Ganz genau.“
    „Sagtet Ihr nicht, dass Ihr erst vor zwei Jahren dort gewesen seid?“, fragte Hannes.
    „Ja.“
    „Wie kommt es denn, dass der Wolf dann noch gelebt hat?“
    „Wahrscheinlich aus dem gleichen Grund, warum Corianda noch blonde Haare hatte“, entgegnete Broccolus. „Die Frau ist Magierin. Sie beherrscht Methoden zur Körperverjüngung, von denen andere Frauen nur träumen können.“
    „Was hat sie mit Euch gemacht?“, fragte ich.
    „Nichts Schlimmes. Im Gegenteil. Sie war eigentlich recht freundlich, wie auch Norbert. Der Wolf stupste ständig mit der Schnauze an Alisas Bein. Ihr müsst wissen, meine Frau hatte Angst vor großen Hunden und wurde schon etwas nervös. Aber Corianda erklärte uns, dass er nur an den Ohren gekrault werden wollte. Sie wunderte sich nur, dass er diesen Wunsch sofort bei Alisa geäußert hatte. Normalerweise möge er keine Fremden Leute. Sie mutmaßte, dass es entweder damit zusammenhinge, dass sie ziemliche Ähnlichkeit mit einer ehemaligen Bediensteten hätte oder dass wir Spuren ihrer Magie an uns tragen würden, was auch der Grund sei, warum uns die Servatoren zu ihr gebracht hatten. Sie fragte uns, wo wir herkämen. Also erzählten wir ihr, dass Giselle Alisas Mutter war und sie dadurch an ihren Teleporterstein gekommen war, den wir dann benutzt hatten. Sie wirkte sehr interessiert und fragte, wo sich die Steine jeweils in den beiden Welten befänden. Auch darauf antworteten wir wahrheitsgemäß.“
    „Hätte sie ihre eigene Magie nicht selber aufspüren können?“, fragte Hannes.
    „Diese Frage stellte ich ihr auch. Sie meinte aber, dass sie bei ihrer Ankunft in Amoenor von einer Überzahl feindseliger Magier angegriffen worden sei. Sie hätte entkommen können, hätte dabei aber den Stein verloren. Als sie später nochmal zurückgekehrt sei, wäre der Stein nicht mehr auffindbar gewesen. Einer der Magier müsse ihn wohl an sich genommen haben.“
    „Wie ist er dann in das Feld gelangt?“, fragte ich.
    „Die einzige Erklärung ist, dass meine Schwiegermutter ihn nach ihrer Teleportation bei dem betreffenden Magier gefunden hatte und unbemerkt entwenden konnte.“
    Broccolus leerte seinen Humpen und ließ sich einen neuen bringen.
    „Nachdem wir also Corianda von dem Verbleib ihrer Steine berichtet hatten“, setzte er die Geschichte fort, „bat sie die beiden Servatoren, die uns hergebracht hatten, nach dem Stein im Feld zu suchen und ihn zu ihr zu bringen. Sie erklärte uns, dass die Severatoren in dem Dorf freie Verbündete wären und sie ihnen keine Befehle erteile, sondern sie um die Erledigung von Aufgaben bitten würde. Im Gegenzug helfe sie ihnen, ihre versklavten Artgenossen zu befreien. Sie hatte wohl einen Weg gefunden die Halterringe verletzungsfrei aus den Herzen zu entfernen. Die Dorfbewohner entführten also die Sklaven aus den menschlichen Siedlungen und brachten sie zu Corianda Sativis. Nur zu gerne entfernte sie die Ringe, denn auch sie hielt nicht viel von Sklaverei. Während unserer Unterhaltung wurden Kunibert, seine Kumpels und die Eier aus dem Stall hereingebracht. Corianda ließ sie in einen benachbarten Raum bringen, wo sie sich dann um sie kümmern würde. Etwas später kehrten auch die Servatoren zurück, die sich der Suche nach dem Stein angenommen hatten. Da hörte ich zum ersten Mal einen von ihnen sprechen. Mit einer tiefen grollenden Stimme verkündete er, den Stein gefunden zu haben.“
    „Corianda hat also den Stein wieder in ihrem Besitz?“, fragte Hannes.
    „Ja, der müsste jetzt irgendwo in dem Turm liegen.“
    „Hat sie ihn auch wieder benutzt?“
    „Ja. Nachdem sie sich um Hermans Servatoren gekümmert hatte, begleitete sie Alisa und mich wieder in diese Welt. Bevor sie sich verabschiedete, erzählte sie uns, dass sie mit dem Gegenstück des Steins in dieser Welt zum Magierturm in Tamalon gehen würde, wo ihr Nachfolger ihn sicher verwahren solle, sobald sie wieder nach Amoenor zurückgekehrt sei.“
    „Also liegt der blaugrüne Stein von Tamalon nun wieder am Ort seiner Entstehung“, schloss Hannes.
    „Warum hat Corianda sich entschieden nach Amoenor zurückzukehren und die Steine zu verstecken?“, wollte ich wissen.
    „Sie meinte, dass sie dort mehr gebraucht würde als hier“, sagte Broccolus. „Mit der sicheren Verwahrung der Steine wolle sie verhindern, dass weitere Menschen oder auch Servatoren von einer Welt zur anderen gelangen können. Es hätte unvorhersehbare Folgen und würde die beiden Welten zu sehr beeinflussen.“
    „Beeinflusst sie mit ihrer Anwesenheit die andere Welt nicht auch?“
    Broccolus zuckte mit den Schultern. „Sie sagte nur, sie wisse was sie tut.“

    Die Stimme des Erzählers wechselte in einen dramatischen Klang. „Doch dann sah ich eine Bewegung in eben diesen von uns angelegten Pfad. Es war nur ein flüchtiger Schatten. Man konnte nichts Genaueres erkennen. Ich klopfte Herman, der links neben mir stand, an die Schulter, um ihn darauf aufmerksam zu machen. Aber hatte es bereits selbst entdeckt. Plötzlich glaubte ich, für einen kurzen Moment einen schwachen Blitz gesehen zu haben. Etwas zischte an meinem rechten Ohr vorbei. Reflexartig duckte ich mich hinter die Brüstung. Rechts neben mir fuhr auch Kevin herunter. Doch anders als bei mir, begleitete seine Bewegung ein dumpfes Poltern. Ich dachte noch, was für ein Depp, der wird uns noch alle verraten. Dann sah ich aber, dass er offenbar nicht freiwillig zu Boden gegangen war. Er lag da in einer eigenartigen Verrenkung auf dem Rücken und starrte in den Nachthimmel. Ich begriff, dass er tot war. Aber was hatte ihn getötet? Ein Pfeil oder Bolzen schien mir die einzige Erklärung zu sein, aber davon fehlte jede Spur. Kevin hatte nicht einmal eine Verletzung. Herman versuchte noch, seinen Knecht wieder aufzuwecken, aber er musste schließlich einsehen, dass da nichts mehr zu machen war.“
    „War Kevin von einem Servator getötet worden?“, fragte ich.
    „Ganz recht. Auch Herman erkannte es. Er ließ zwei Leute die Fackeln entzünden und an der Brüstung verteilen, während die übrigen das Feuer erwiderten. Auch ich lud meine Armbrust und reckte mich vorsichtig ein kleines Stück, bis ich gerade über die Brüstung schauen konnte. Von den Angreifern war natürlich nichts mehr zu sehen. Dennoch schoss ich auf Verdacht den soeben geladenen Bolzen auf die Stelle, wo ich die Bewegung gesehen hatte. Die anderen feuerten auch dorthin. Die Bogenschützen verwendeten Feuerpfeile, die sie an den Fackeln entzündeten. Dadurch kam mehr Licht ins Feld. Viel mehr Licht, denn der Weizen fing Feuer.“
    „Habt Ihr die Angreifer ausgeräuchert?“
    „Es liegt nahe, anzunehmen, dass dies der Zweck der Feuerpfeile gewesen sei. Aber wenn Du das Feld gesehen hättest... Es war wirklich riesig. Um schnell genug ein erfolgversprechendes Feuer zu legen, hätte man mit hunderten von Schützen ganze Wagenladungen an Feuerfeilen hineinsemmeln müssen. Aber auch so hätte man aufgrund der begrenzten Reichweite vom Hof aus nicht das gesamte Feld erreichen können. Nein, die Feuer hatten nur den Zweck der Beleuchtung.“
    Broccolus wechselte wieder zu seiner dramatischen Erzählerstimme. „Herman rief nun seinen wartenden Servatoren den Befehl zu, das Feld zu durchkämmen und alle Feinde zu töten. Die Servatoren begannen auch gleich mit der Aufgabe, blieben aber erfolglos. Nur wenig später hörte ich ein lautes Krachen und schreiende Menschen. Einige Meter rechts von mir klaffte eine schrittgroße Lücke im Wehrgang. Die Brocken flogen noch durch die Luft. Dazwischen erkannte ich auch Sören. Im Sturz fiel er auf das Ziegeldach des Nachbargebäudes, rollte hinunter und schlug unten im Hof auf, wo er regungslos liegen blieb. Die Angreifer hatten nun offenbar schwereres Geschütz aufgefahren. Ich wandte meinen Blick wieder dem Feld zu und sah plötzlich etwas, das nur der Verursacher für diese Attacke sein konnte. Es war ein Servator. Er stand im Schein der umliegenden Feuer. Ich konnte eine eigenartige Kriegsbemalung an seinem spärlich bekleideten Körper erkennen. Die Arme hatte er noch auf das Gebäude gerichtet. Erst einen Moment zuvor hatte ich meine Armbrust nachgeladen. Ich zielte so sorgsam, wie es die Zeit zuließ, und drückte ab. Noch bevor der Servator sich wieder im Feld verstecken konnte durchbohrte mein Bolzen seine Schulter. Mehr oder weniger ein Glückstreffer.“
    Broccolus lachte. „Wenn die Viecher nicht so lange Arme hätten, hätte ich ihn wahrscheinlich nicht einmal gesehen.“
    Er wurde wieder ernst. „Natürlich habe ich nicht gerne auf ihn geschossen, aber was sollte ich machen? Sie haben uns schließlich angegriffen.“
    „Durchaus verständlich“, sagte Hannes.
    „Die fanden das weniger verständlich“, fuhr der Erzähler fort. „Ihre Attacken wurden immer verheerender für uns. Weitere magische Geschosse schlugen in das Wohngebäude unter uns und brachten Teile des Daches zum Einsturz. Der verbleibende Knecht Cedric kam dabei ums Leben. Aus dem Haus hörte ich die Schreie der beiden Frauen. Erst da sah ich, dass ein großer Teil der Mauer fehlte. Mit Herman und seinen Söhnen eilte ich die Leiter hinunter und durch die Tür ins Haus. Sieglinde und Alisa kamen uns entgegen. Sie sagten, sie hätten einen bunt bemalten Servator vor dem Fenster des Vorratsraums vorbeilaufen sehen. Herman wollte mit Heinz, Torben und Malte der Sache auf den Grund gehen und verschwand mit ihnen im Vorratsraum. Sie waren kaum fort, als ein Balken vom Dach herabfiel und unmittelbar neben Sieglinde auf den Dielenboden schlug. Sie bekam Panik und rannte den Anderen hinterher. Meine Frau und ich blieben allein zurück. Aber wir blieben nicht lange allein. Plötzlich schlug die vordere Tür auf und ein Servator kam herein. Erleichtert stellten wir jedoch fest, dass es Kunibert war. Er deutete mit einem Finger auf uns, als wollte er uns etwas mitteilen. Aber offenbar galt dieses Handzeichen nicht uns, sondern den beiden Servatoren, die nach ihm durch die Tür kamen. Sie waren keine Sklaven.“

    Nach gefühlten fünf Stunden kehrte Broccolus endlich zurück. Mit zufriedenem Gesichtsausdruck setzte er sich wieder zu uns und ließ Hendrik ein neues Bier bringen.
    Plötzlich fiel mir eine Frage zu der Geschichte ein, die ich gleich an den Erzähler richtete. „Wie hieß eigentlich die andere Welt, in die das Portal führte?“
    „Wie die Welt hieß, weiß ich nicht, aber Coriandas Buch zufolge hieß das Land, in dem wir gelandet waren, Amoenor.“
    „Weiß man denn, was aus der Magierin geworden ist?“, fragte Hannes. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie auch den Servatoren zum Opfer gefallen ist.“
    „So dumm die versklavten Servatoren auch aussehen mögen, die intelligente Sorte sollte man nicht unterschätzen.“
    Hannes gab sich mit dieser Antwort zufrieden.
    Broccolus überlegte kurz und nahm dann den Faden wieder auf. „Wir waren also in dem Stall auf Hermans Hof, wo er uns seine Servatorenzucht gezeigt hatte. Als wir wieder heraustraten, wurde es schon langsam dunkel und Herman bot uns an, bei ihm zu übernachten. Ich wusste, dass mein eigenes Bett kaum mehr als eine Handbewegung meiner Frau entfernt war, doch da konnte ich nicht hin. Ich hatte Alisa ja versprochen, nur ein einziges Mal durch das Portal zu reisen. Ich wollte aber unbedingt noch mehr über Amoenor und seine Bewohner herausfinden. Also konnte ich die Reise zu diesem Zeitpunkt unmöglich beenden. So beschlossen wir, ich freudig, Alisa widerwillig, Hermans Angebot anzunehmen.“
    „Wie waren denn nun die beiden Menschen auf dem Feld umgekommen?“, fragte ich, gespannt darauf wartend, dass Broccolus endlich seiner Ankündigung von vor der Klopause nachkam.
    „Alles der Reihe nach. Zunächst aßen wir zu Abend und bezogen das Gästezimmer, welches Sieglinde für uns fertig hergerichtet hatte. Sie hatte uns auch noch eine paar von ihren Butterkeksen bereitgestellt. Hatte ich eigentlich schon erwähnt, dass diese Frau wunderbare Butterkekse macht?“
    „Ja, das erwähntet Ihr bereits“, antwortete Hannes.
    „Nun ja. Wir hatten also das Zimmer bezogen. Da es schon spät war, beschlossen wir schlafen zu gehen. Das Bett war äußerst bequem und ich schlief sofort ein. Doch lange hielt mein Schlaf nicht. Irgendwann in der Nacht weckte mich Alisa. Sie hatte irgendein Geräusch vor der Zimmertür gehört und wollte, dass ich mal nachsehen gehe. Eher widerwillig verließ ich das Bett, zog mich an und ging aus dem Zimmer. Trotz der nachtschlafenden Uhrzeit brannte Licht im Haus. Neugierig ging ich die Treppe hinunter in den Koch- und Wohnraum. Am Tisch saßen Herman und drei Männer, die ich nicht kannte, mir dann aber als seine Söhne Torben, Heinz und Malte vorgestellt wurden. Sieglinde stand in der Zimmerecke und kramte in irgendeiner Kiste. Dann ging die Haustür auf und die beiden Hofknechte, die sich als Kevin und Cedric vorstellten, betraten den Raum. Ich fragte, was denn der Anlass der Versammlung sei. Kevin antwortete, dass wohl ein dritter Knecht namens Sören verdächtige Bewegungen im Kornfeld entdeckt habe. Man wolle sich nun bewaffnen und die Verteidigungspositionen einnehmen. Mir fiel auf, dass Kevin und Cedric bereits bewaffnet waren. Über ihren Schultern trugen sie Langbögen und auf ihren Rücken Köcher mit Pfeilen. Sieglinde kam von der Kiste zum Tisch und legte ein paar Fackeln darauf. Die vier sitzenden Männer standen auf, nahmen sich je eine Fackel und gingen zu einem Schrank hinüber, dem sie Armbrüste und Köcher mit Bolzen entnahmen. Herman fragte mich, ob ich mit einer Armbrust umgehen könne und ob ich bereit wäre, unter Umständen in dieser Nacht davon Gebrauch zu machen. Ich hatte zwar noch nie zuvor eine Waffe einsetzen müssen, versicherte aber meine Bereitschaft, mein Leben und das meiner Frau zu verteidigen. Außerdem bot sich so die Gelegenheit, sich für die hervorragende Gastfreundschaft zu revanchieren. Ich ließ mir also eine Armbrust aushändigen und die Bedienung erklären, während die Söhne und die Knechte schon einmal vorgingen. Inzwischen war auch Alisa die Treppe heruntergekommen. Sieglinde bot ihr an, sich mit ihr im Vorratsraum zu verstecken, bis alles vorbei sein würde. Der Vorratsraum lag hinter der Küche und hatte eine zweite Tür, die direkt nach draußen führte. Vor der Tür standen einige Büsche, die bei Bedarf eine heimliche Flucht erleichtern könnten. So versteckten sich die beiden Frauen im Vorratsraum und Herman und ich folgten den anderen Männern. Im Hof standen die vier Servatoren, alle mit je zwei Macheten ausgerüstet. Herman befahl ihnen sich hinter dem geschlossenen Tor bereitzuhalten, während wir Menschen von oben erst einmal beobachten würden, was geschieht. Über eine Leiter an der Hauswand gelangten wir auf den Wehrgang, der über die Dächer aller Gebäude führte. Wir stellten uns zu den Anderen hinter die Bretterbrüstung und sahen in die Richtung, in der die Bewegungen beobachtet worden waren. Die Fackeln hatten wir noch nicht entzündet, um uns nicht zu verraten.“
    Broccolus senkte die Stimme. „Wisst Ihr, es kann ziemlich unheimlich sein, wenn man in beinah völliger Dunkelheit auf mögliche Angreifer wartet. Niemand sagte etwas. Man konnte die Anspannung der Anwesenden förmlich spüren. Aber es schien, als wären wir die einzigen Lebewesen in der Gegend. An der Stelle, auf die Sören gezeigt hatte, war absolut nichts Ungewöhnliches zu sehen. Im ganzen Feld waren nicht einmal abgeknickte Weizenhalme zu erkennen, außer dort, wo Alisa und ich am Nachmittag hergelaufen waren.“

    „Warum haben sich die Servatoren das denn gefallen lassen?“, fragte ich. „Mit ihren Fähigkeiten wären sie doch in der Lage gewesen den Menschen zu entkommen und ein eigenständiges, besseres Dasein zu fristen.“
    „In der Tat wäre es ihnen möglich gewesen den Menschen zu entkommen, wenn es nicht die Halterringe gegeben hätte.“
    „Was ist denn das?“
    „Ein Magier namens Solanus Lycopersa hatte sie einige Jahrzehnte zuvor erfunden. Jeder neugeborene Servator bekommt einen solchen Ring in die Brust gedrückt, von wo aus er bis zum Herz wandert und auf magische Weise damit verschmilzt. Der Halter des jeweiligen Servators besitzt einen gleichen Ring, der das Gegenstück darstellt. Mit ihm hat er die Kontrolle über das Wesen. Für den Servator ist es unmöglich den Ring aus dem Herz zu entfernen, ohne sich selbst dabei zu töten. Auch der Versuch einen Menschen zu töten, wie zum Beispiel den Halter, würde sich sofort tödlich für den Servator auswirken, genauso wie der Versuch den Ring des Halters zu stehlen. Herman zeigte uns einen Schlüsselbund, an dem die Ringe seiner derzeit vier Servatoren hingen.“
    „Das ist ja schon fast Sklaverei.“
    „Nicht nur fast. Doch für die Menschen auf der anderen Seite des Portals war das völlig normal. In den Anfängen mochte das Volk noch geteilter Meinung gewesen sein, aber der größte Teil ließ sich schnell von den Vorteilen, einen oder mehrere Sklaven zu besitzen, überzeugen. Und die Anhänger jüngerer Generationen, wie Herman, waren damit aufgewachsen und kannten es nicht anders. Für Alisa und mich war es hingegen ähnlich schockierend, wie jetzt für dich.“
    „Gab es denn keinerlei Widerstand?“, fragte Hannes.
    „Doch, aber weniger durch die versklavten Servatoren. Die waren ja, wie gesagt, nicht gerade mit Intelligenz gesegnet. Obwohl es, wie uns Herman verständnislos berichtete, auch Fälle gegeben haben soll, in denen Servatoren den Freitod der Sklaverei vorgezogen hätten.“
    Broccolus pausierte, um sich seinem frischen Bier zu widmen.
    „Nachdem wir uns bei Herman nach eventuellem Widerstand erkundigt hatten, wurde er zusehends misstrauischer. Er fragte uns, wo wir herkämen, denn ihm wäre völlig unverständlich, dass jemand noch nie etwas von Servatoren gehört hätte. Ich zog es vor, ihm die Sache mit dem Portal zu verschweigen und nannte schnell Tamalon als Heimat, bevor Alisa etwas sagen konnte. Herman konnte damit erwartungsgemäß nicht viel anfangen und gab sich mit der Aussage zufrieden, dass es eine weit entfernte Stadt sei, was ja im Prinzip nicht einmal gelogen war.“
    „Wie äußerte sich der Widerstand denn dann, wenn die Servatoren nicht dazu in der Lage waren?“, hakte Hannes nach.
    „Nur die versklavten Servatoren waren nicht dazu in der Lage, die wenigen frei lebenden jedoch schon. In der Freiheit konnten sie sich wesentlich besser entwickeln. Die Natur hatte einige von ihnen mit höherer Intelligenz ausgestattet wie die gefangen lebenden Artgenossen. Sie hatten sich in Stämmen organisiert und lebten in entlegenen Gegenden des Landes. Einige dieser Stämme waren der Ansicht ihre Gefangenen Schwestern und Brüder befreien zu müssen. Es hatte schon zahlreiche Übergriffe auf menschliche Siedlungen gegeben, mit Verlusten auf beiden Seiten und nur mäßigem Erfolg. Doch die Botschaft war eindeutig: die Menschen konnten nicht sicher sein, solange sie Servatoren als Sklaven hielten. Herman erzählte uns, wie sein Hof auch schon einige Male Ziel dieser Befreiungsaktionen geworden wäre. Bisher hätte er seinen Hof immer erfolgreich verteidigen können.“
    „Deshalb die Mauer?“, fragte ich.
    „Ja. Und die Plattformen auf den Dächern. Herman erzählte, dass es auf seinem Hof nicht einen Toten gegeben hätte. Vierundzwanzig Jahre zuvor, also heute vor etwa sechsundzwanzig Jahren, hätte sein Vater allerdings die Leichen einer Frau und eines Mannes im Feld gefunden. Der Mangel an äußeren Verletzungen ließe auf Tötung durch Magie schließen. Alisa und mir war sofort klar, dass es sich dabei gut um Giselle und Horst handeln konnte. Das würde auch erklären, wie Coriandas Stein in das Feld geraten war, wo wir hin teleportiert worden waren. Doch sicher war das nicht. Jedenfalls schien Alisa ab diesem Moment überzeugt zu sein, dass ihre Eltern sie damals nicht einfach im Stich gelassen hatten, wie ein Teil von ihr in der Ungewissheit immer gedacht hatte, sondern dass sie in der anderen Welt zu Tode gekommen waren. Das war natürlich nur bedingt trostspendend. Die ganze Wahrheit über den Verbleib ihrer Eltern haben wir jedoch nie erfahren. Was wir aber erfahren haben, war, wie die beiden Menschen auf dem Feld wohl gestorben waren, ob es nun Giselle und Horst waren oder nicht.“
    Hannes und ich sahen Broccolus erwartungsvoll an. Doch der grinste nur.
    „Ich habe drei Biere getrunken. Die Natur ruft“, verkündete er und erhob sich. „Wie es weitergeht erfahrt Ihr nach einer kurzen Unterbrechung.“
    Eine Unterbrechung an einer spannenden Stelle. Sie ist irgendwie nervig, aber man kann auch nicht einfach fortgehen, weil man unbedingt wissen möchte, wie es weitergeht. Ich war wie gefangen auf meinem Barhocker. Hendrik nutzte die Gelegenheit und versuchte, uns seine neuen Schnapssorten anzudrehen. Hatte er sich etwa mit Broccolus abgesprochen? Vielleicht bekam der Erzähler auch noch Geld dafür, dass er die Leute an der Theke hielt und die Umsätze des Wirtes steigerte. Hannes hatte offenbar nichts Besseres zu tun, als auf die Angebote einzugehen. Er genehmigte sich zwei Gläschen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass so eine Unterbrechung noch eine große Zukunft in der Unterhaltungsbranche haben würde.

    „Also“, fuhr Broccolus fort, „dieses Ungeheuer war ein Servator, wie uns Herman dann erklärte.“
    „Servomotor?“, fragte ich. „Hört sich irgendwie nach dem Namen eines Königreichs an.“
    „Oder nach einer Biersorte“, sagte Broccolus erheitert. „Das war zumindest mein erster Gedanke.“
    Wer hätte das Gedacht?
    „Klingt eher nach einer Apparatur, die mir hilft meine Kutsche zu lenken“, scherzte Hannes.
    Was für ein Unsinn.
    „Nun, es war kein Servomotor, sondern ein Servator“, stellte Broccolus richtig. „Herman erklärte uns, dass die Servatoren Nutztiere allererster Güte seien. Sie nähmen den in seiner Welt lebendenden Menschen große Teile der alltäglichen Arbeit ab und hätten viele der Grundfähigkeiten der Menschen, doch mangle es ihnen deutlich an Intelligenz. Dennoch könnten sie mit ihren magischen Fähigkeiten viele Aufgaben wesentlich schneller erledigen wie ein Mensch.“
    „Mangelnde Intelligenz und magische Kräfte zugleich?“, fragte ich. „Das ist doch eigentlich ein Widerspruch.“
    „Das dachten wir auch zunächst. Herman erklärte das so, dass die Servatoren ihre Kräfte wohl eher instinktiv einsetzen. Er forderte uns auf, ihm nach draußen zu folgen, wo er uns seine Herde vorführen wollte. Natürlich kamen wir interessiert der Aufforderung nach. Vor der Tür wurden wir auch schon von dem Gesellen erwartet, der uns am Tor empfangen hatte. Herman zeigte auf die Mauer, die den Hof umfasste und erklärte uns, dass Kunibert und ein Artgenosse sie an nur einem Tag errichtet hätten, zuzüglich zwei weiterer Tage, die sie mit der Materialbeschaffung beschäftigt gewesen seien. Das fand ich dann doch schon sehr beeindruckend. Noch beeindruckender war allerdings, als Herman Kunibert aufforderte, zwei Säcke Korn vom Feld zu ernten, zu verarbeiten und in den Kornspeicher zu bringen. Ich weiß nicht, was du heute geschafft hast, Hanswalter, aber gegen Kunibert hättest du alt ausgesehen. Der Servator ging wortlos in den Geräteschuppen, holte sich zwei Macheten und stellte sich vors Feld. Er ging in die Hocke und fuchtelte mit den Messern herum, dass man lieber nicht daneben gestanden hätte. Ich hätte nicht gedacht, dass sich ein Lebewesen dieser Größe derartig schnell bewegen kann. Dann verschwand Kunibert im Getreide. Nur die Fontänen herumfliegender Getreidehalme ließen ahnen, wo er gerade wütete. Wenige Minuten später hatte er eine ordentliche Klinke in das vorher so beschauliche Feld gefräst. Er rannte zurück in den Schuppen und tauschte die Messer gegen zwei leere Getreidesäcke. Wieder auf dem Feld, stellte er sich mitten auf die nun freigemähte Fläche, legte die Säcke ab und hob beschwörend die Arme gen Himmel, wobei es mich bei diesen Armen nicht gewundert hätte, wenn er ihn auch erreicht hätte. Die herumliegenden Weizenhalme fingen an zu zittern, dann bewegten sie sich langsam auf ihn zu. Sie wurden immer schneller, bis sie schließlich aus allen Richtungen auf ihn einschossen. Am Ende befand sich dort, wo er gestanden hatte, ein riesiger Strohhaufen.“
    Broccolus leerte seinen Humpen und schaute abwechselnd Hannes und mich erwartungsvoll an, sagte aber nichts. Ich tat so, als hätte ich nichts gesehen und Hannes fragte schnell, was Kunibert als nächstes getan hatte.
    Glücklicherweise setzte Broccolus die Geschichte unmittelbar fort. „Kunibert tauchte wieder aus dem Haufen hervor, hustend und sich die Pflanzenreste vom Körper streifend. Er zog die immer noch leeren Säcke hinter sich her und spie einige Strohalme aus. In diesem Moment zweifelte ich weder an seinen magischen Fähigkeiten, noch an seiner Dummheit. Aber auch diesmal schaffte er es, mich zu überraschen. Plötzlich bebte die Erde. Kunibert wandte sich dem Haufen zu und hielt die beiden Säcke hoch. Wie ein Schwarm Hornissen kamen die Weizenkörner aus dem Haufen herausgeflogen. Nachträglich meine ich, mich sogar an ein ohrenbetäubendes Summen zu erinnern. Der Weizenkornschwarm teilte sich vor Kunibert und flog direkt in die Säcke zu beiden Seiten. Dann wurde es wieder ruhig. Der Servator verschloss die Säcke, schwang sie sich über die Schultern und machte sich seelenruhig in Richtung Kornspeicher davon. Erst da fiel mir auf, dass überall leere Getreidehülsen herumlagen. Das Dreschen hatte Kunibert wohl nebenbei erledigt, quasi wie im Fluge.“
    Broccolus lachte über seinen Wortwitz.
    „Als nächstes führte Herman uns zu einem der Ställe. Es war verdächtig dunkel und ruhig darin. Die einzelnen Boxen waren mit Stroh ausgelegt, von Tieren wie Kühen oder Schweinen fehlte aber jede Spur. Dann fiel mir eine Ansammlung von blauen und rosafarbenden Eiern in einer der Boxen auf. Es waren vier oder fünf Stück, alle so hoch wie Melkschemel. Zwei Servatoren saßen daneben und bewachten sie offenbar. Herman erklärte uns, dass aus den Eiern einmal junge Servatoren schlüpfen würden, Weibchen aus den rosafarbenden und Männchen aus den blauen, und dass die beiden ausgewachsenen daneben die Elterntiere seien. Der Stall diente den auf dem Hof gehaltenen Servatoren als Unterkunft. Hier verbrachten sie die Zeit, die sie nicht mit Arbeiten beschäftigt waren. Auf Alisas Anfrage versicherte uns Herman, dass die Servatoren artgerecht gehalten würden und eigentlich ein glückliches Leben führen konnten. Ich denke, meine Frau hatte die Frage gestellt, weil sie dies stark bezweifelte. Mir ging es nicht anders. Doch zumindest schienen die Servatoren alles zum Leben notwendige zu haben.“
    Sein wehmütiger Blick in den leeren Humpen ließ den letzten Satz wie eine Anspielung klingen. Hannes, der seinen Humpen gerade auch geleert hatte, gab schließlich nach und orderte eine neue Runde.

    Broccolus nahm noch einen Schluck. „Wie dem auch sei. Im Verlauf der Unterhaltung erzählte mir Alisa nicht nur von dem Stein, sie zeigte ihn mir auch. Sie hatte ihn all die Jahre aufbewahrt, getarnt als Ball zwischen ihren alten Spielsachen. Auch das Buch hatte sie noch. Ich war ähnlich misstrauisch wie du jetzt, aber sie erzählte mir die Geschichte von dem Verschwinden ihrer Eltern in allen Einzelheiten. Um die letzten Zweifel auszuräumen, bat ich sie den Stein zu aktivieren. Doch sie war dagegen. Sie meinte, es reiche, dass er ihre Eltern auf dem Gewissen habe. Sie wolle mich nicht auch noch verlieren. Ich schaffte es aber dennoch, sie dazu zu überreden, unter den Bedingungen, dass es nur bei diesem einen Mal blieb und sie mich begleiten durfte. So öffnete sie das Portal und wir gingen hindurch.“
    Er machte eine spannungssteigernde Pause.
    „Oh, mein Bier ist ja leer.“
    Dieser Wink mit dem Zaunpfahl glich schon eher einer Tracht Prügel mit selbigem. Ich wollte gerade der unausgesprochenen Forderung nachkommen und Hendrik heranwinken, als mir ein in einen schwarzen bis zum Boden reichenden Mantel gekleideter Mann mit schulterlangen schwarzen Haaren zuvor kam und gleich eine Runde für uns drei bestellte.
    „Entschuldigt“, sagte er, „ich habe Eure Geschichte zufällig mitbekommen.“
    Der Mann hatte ein freundliches Lächeln. Seine funkelnden silbergrauen Augen waren Spiegelbilder seiner offensichtlichen Intelligenz und Scharfsinnigkeit, aber auch einer berechnenden Aufmerksamkeit.
    „Ihr seid ein außergewöhnlicher Erzähler. Habt Ihr etwas dagegen, wenn ich mich zu Euch setze?“
    Broccolus lächelte bescheiden. „Nein, nein. Nehmt ruhig Platz.“
    Der Mann nahm sich einen freien Barhocker und setzte sich zu uns. „Ich habe mich noch nicht vorgestellt. Mein Name ist Johannes Broth. Ihr könnt mich aber einfach Hannes nennen.“
    Wir stellten uns ihm ebenfalls vor.
    „Nun wo war ich stehen geblieben?“, fragte Broccolus. „Ach ja, das Portal. Wir waren also hindurch gegangen. Eigentlich trifft es gehen nicht ganz recht. Wir standen einfach da, Alisa hatte mit dem Stein in der Hand einige Verrenkungen gemacht und schon bildete sich eine leuchtende Blase um uns herum. Als sie kurz darauf wieder verschwunden war, fanden wir uns an einem fremden Ort wieder. Meine Frau hatte den Stein noch in der Hand. Offenbar war bei seiner Erschaffung auch in der anderen Welt ein Exemplar entstanden. Anders kann ich es mir nicht erklären, denn bei den vorherigen Öffnungen des Portals war der dazu verwendete Stein immer in unserer Welt verblieben. Jedenfalls klärte sich somit auch gleich meine Frage, wie wir zurückkehren könnten.“
    „Wie war es denn nun auf der anderen Seite?“, fragte ich ungeduldig.
    „Es war durchaus eine Reise wert. Als wir ankamen, standen wir in einem riesigen Weizenfeld. Der Farbe nach war das Getreide erntereif. Es war angenehm warm. Die Sonne stand irgendwo auf Nachmittag und ließ das ganze Feld golden leuchten. In einiger Entfernung sahen wir eine Gruppe von Gebäuden, einen Bauernhof. Es waren gut gepflegte Fachwerkhäuser, die den Eindruck erweckten gerade erst gebaut worden zu sein. Als wir darauf zugingen, erkannten wir weitere Einzelheiten. Die Häuser waren ringförmig um einen gepflasterten Platz angeordnet. Außen herum verlief eine fast zwei Meter hohe Steinmauer. Die Gebäude dienten unterschiedlichen Zwecken. Zwei davon waren Wohnhäuser, zwei waren Ställe, eines war der Kornspeicher und ein weiteres diente wohl als Geräteschuppen. Eines hatten sie alle gemeinsam: auf ihren Dächern waren hölzerne Plattformen mit Bretterwänden angebracht, die hufeisenförmig über Brücken miteinander verbunden waren. Die Mauer war zu unserer Seite hin durch ein breites offenstehendes Tor unterbrochen, durch das die Zufahrtsstraße führte. Wir gingen darauf zu, um uns auf dem Hof umzusehen. Scheinbar war niemand anwesend, doch wie wir kurz darauf feststellen mussten, war er keineswegs verlassen.“
    Broccolus machte eine dramatische Pause, in der er sich wieder seinem Humpen zuwandte. „Wir traten gerade durch das Tor, als uns plötzlich ein mannshohes Ungeheuer gegenüberstand. Es glich einem mageren Mann mit überlangen Armen. Meine Güte, waren das Arme. Ich wette, er hätte sich im Stehen die Socken hochziehen können, wenn er welche getragen hätte. Überhaupt war er sehr spärlich bekleidet. Nur eine lumpige kurze Hose und ein Paar abgenutzte Lederschuhe bedeckten seine blasse violette Haut. Er grummelte irgendetwas Unverständliches. Mein erster Gedanke war: lauf weg. Aber in dem Moment kam auch schon ein Mensch angelaufen, also so ein richtiger mit normalen Proportionen und Farbtönen. Er sagte uns, wir sollen keine Angst haben, dieser lila Affe, der offenbar auf den Namen Kunibert hörte, würde uns nichts tun, er wolle nur spielen. Der Hinzugekommene stellte sich uns als Herman vor. Er schickte Kunibert davon, irgendwelche Aufgaben erledigen und lud uns in sein Haus ein.“
    „Welche Art Kreatur war denn Kunibert?“, fragte ich interessiert. „Nichts, was ich kenne, passt auf die Beschreibung.“
    „Das erklärte uns Herman bei Tee und Gebäck in seinem Haus. Seine Frau Sieglinde macht übrigens hervorragende Butterkekse. Die hättet Ihr probieren müssen. Es fiel mir schwer, die Etikette zu wahren und nicht umgehend die Schüssel leerzufuttern.“ Broccolus lachte. „Alisa stieß schon dauernd ihr Knie gegen meins und warf mir tadelnde Blicke zu, wenn Sieglinde und Herman gerade nicht hinsahen.“
    Hannes lachte aus Höflichkeit mit.

    Die Geschichte war eine reine Erfindung. Wie konnte so etwas wahr sein? Viele Leute, die ich kannte, hatten sie schon gehört, alle in einer anderen Variante. Doch Broccolus machte Andeutungen, noch einiges mehr über den blaugrünen Stein von Tamalon und Corianda Sativis zu wissen. Also beschloss ich, sein Angebot anzunehmen und seine Kehle mit einem Humpen Bier auf die bevorstehenden Strapazen vorzubereiten.
    „Wie bei solchen Geschichten üblich, wurde auch hier im Verlauf der Weitererzählung einiges hinzugedichtet“, sagte Broccolus, als Hendrik der Wirt ihm den Humpen auf die Theke gestellt hatte. „Aber der Kern der Geschichte ist wahr.“ Mit einer bedeutungsvollen Pause und einem ernsten Blick aus seinen dunkelbraunen ausdrucksstarken Augen schaffte er es, eine spannende, fast mysteriöse Stimmung zu erzeugen. „Ich selbst habe den Stein verwendet.“
    Ich hegte leise Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit, doch es versprach eine gute Geschichte zu werden, weshalb ich es vorzog, ihn nicht zu unterbrechen.
    „Du kannst dir vorstellen, dass das Dienstmädchen, das das Protokollbuch gefunden hatte, nicht lange widerstehen konnte, den Stein selbst auszuprobieren.“ fuhr Broccolus fort. „Ihr Name war Giselle, sie lebte auch in Tamalon. Eines Tages entwendete sie Stein und Buch, um sich zu Hause näher damit beschäftigen zu können. Es dauerte auch nicht lange, bis sie den Dreh raus hatte. Fasziniert begann sie, regelmäßig die Parallelwelt zu besuchen, bis sie schließlich jede freie Minute dort verbrachte. Und Zeit hatte sie ja genug, nach dem Verschwinden ihres Arbeitgebers. Doch allmählich fing sie an, ihre Familie zu vernachlässigen, der sie von dem Stein nichts erzählt hatte. Irgendwann stellte sie ihr Gemahl Horst zur Rede und Giselle packte aus. Sie erzählte ihm und ihrer sechsjährigen Tochter Alisa die ganze Geschichte, wie sie den Stein gefunden und seinen Zweck herausgefunden hatte und dass sie nun fast jeden Tag große Teile ihrer Zeit in einer anderen Welt verbrachte. Sie beschrieb ihnen, wie schön es in der Parallelwelt wäre und das die hiesige Welt dagegen trostlos sei. Horst wollte sich selbst davon überzeugen, ließ seine Frau das Portal öffnen und schritt mit ihr hindurch. Alisa ließen sie zurück.“
    Mitleid legte sich auf Broccolus‘ Gesicht. „Das arme Mädchen wartete und wartete, dass die Eltern bald zurückkommen würden. Erst Stunden später begriff sie, dass sie sie zum letzten Mal gesehen hatte. Halb verhungert wurde sie einige Tage später von den Nachbarn in dem Haus aufgefunden. Von da an wuchs Alisa bei ihnen auf. Immer wieder versuchte sie ihren Zieheltern davon zu überzeugen, dass ein kleiner grüner Ball ihre Eltern gefressen habe. Doch natürlich wurden diese Äußerungen der kindlichen Fantasie zugerechnet und nicht weiter beachtet. So kam es, dass das Mädchen ihre Überzeugungsversuche irgendwann aufgab. Sie kam über das Verschwinden ihrer Eltern hinweg, setzte ihr normales Leben fort und beschloss, nie mehr über den Vorfall zu reden. Während sie bei ihren Zieheltern zu einer hübschen jungen Frau heranwuchs, geriet die Sache immer mehr in Vergessenheit.“
    Der Erzähler nahm einen großen Schluck von seinem Bier. In dieser Redepause fiel mir eine Unklarheit an der Geschichte auf.
    „Wie kommt es“, fragte ich, „dass Ihr davon wisst, wenn das Mädchen beschlossen hatte, nicht mehr davon zu sprechen?“
    Broccolus wischte sich Bierschaum aus dem Bart und lächelte. „Du musst wissen, dass die Sage vom blaugrünen Stein von Tamalon längst nicht so alt ist, wie sie zu sein scheint. Ehrlich gesagt, hatte ich selbst sie auf ein paar Jahrhunderte geschätzt. Den Namen Corianda Sativis hatte ich vorher noch nie gehört. Die letzten Inhaber des Erzmagieramtes waren fast alle männlich. Corianda war bis zu ihrem Verschwinden erst drei Monate im Amt gewesen und daher eher unbekannt. Sie war die direkte Vorgängerin des aktuellen Amtsinhabers Phaseolus Coccineo. Das kleine Mädchen von damals, Alisa, ist heute zweiunddreißig Jahre alt. Sie ist meine Frau.“
    Ich rechnete kurz. „Soll das heißen, dass die Geschichte gerade erst sechsundzwanzig Jahre her ist?“
    „So ist es.“
    „Dann hat Eure Frau Euch die Geschichte also doch erzählt?“
    „Tja, wie du weißt, kommt eine Beziehung irgendwann an einen Punkt, da die Frau meint, man dürfe keine Geheimnisse mehr voreinander haben...“
    „Ich bin fünfzehn. Woher soll ich das wissen?“
    Mit einem schiefen Blick musterte mich mein Gegenüber einen Moment, als sei ihm erst in diesem Moment mein relativ junges Alter aufgefallen.
    „Jedenfalls“, fuhr er fort, „hatte mich Alisa auch eines Tages nach irgendwelchen dunklen Einzelheiten meines Lebens ausgefragt. Du willst nicht wissen, was für Fragen ich beantworten musste...“
    „Mein Vater sagt immer, dass es besser ist, wenn man ehrlich ist.“
    Er lachte wissend. „Ja, in der Tat erst fünfzehn.“
    Damals hatte ich wirklich noch keine Ahnung, was er meinte.

    Buch 1 - Tavernengeschichten


    „Kennt Ihr die Sage vom blaugrünen Stein von Tamalon?“, pflegte Broccolus Radicius seine Geschichte zu beginnen. Er verbrachte viele Abende in unserer Dorftaverne Zum Bohnernden Hamster und erzählte jedem diese Geschichte, den es interessierte und der ihm die edle Spende von ein, zwei Bierhumpen entgegenbrachte.
    Es mag gut zehn Jahre her sein, als ich ihn das erste Mal traf. Ich musste so um die fünfzehn Jahre alt gewesen sein. Es war abends, ich kam gerade von der Arbeit auf dem Getreidefeld meiner Eltern. Den ganzen Tag hatten wir das Korn geerntet und gedroschen und ich hatte beschlossen, dass ich mir einen Humpen verdient hatte. Im ganzen Königreich Aliquandor gab es kein besseres Bier, wie hier in Sonnental. Zumindest behauptete dies der Großteil der Einwohner dieses beschaulichen Dorfes.
    Broccolus saß neben mir an der Theke. Sechzehn Jahre älter wie ich, großer muskulöser Körper, mit lumpigen Klamotten und einem dunkelbraunen Umhang bekleidet. Kopfhaar und Vollbart waren schwarz und wirkten relativ gepflegt.
    Nach kurzer Zeit kamen wir ins Gespräch.
    „Broccolus Radicius“, stellte er sich vor. „Bergmann und Metallhändler aus Tamalon.“
    „Hanswalter Roggenfeld“, erwiderte ich. „Bauernsohn aus der Gegend.“
    „Erlauben deine Eltern dir denn, dich um diese Zeit noch in der Taverne herumzutreiben?“ Ein sympatisches Lächeln verriet, dass dies keine Mahnung sein sollte.
    „Die schlafen schon. Wenn ich vor dem Morgengrauen zurück bin, wird niemand etwas merken.“
    „Und du dachtest, es wäre eine gute Idee sich einfach davonzuschleichen. Was bewegt denn einen Jungen deines Alters in die Taverne?“
    „Ich denke ich bin alt genug. Ronald vom Nachbarhof hat mir erzählt, dass hier oft Händler und Reisende vorbeikommen, die viele interessante Geschichten aus fernen Ländern zu erzählen haben.“
    „Du möchtest also eine Geschichte hören? “
    „Habt Ihr eine zu erzählen?“
    „Allerdings. Doch ohne die entsprechende Ölung vermag meine Kehle nicht sie hervorzubringen.“
    Ich verstand. „Lasst mich zunächst wissen, wovon sie handelt.“
    „Kennst du die Sage vom blaugrünen Stein von Tamalon?“
    „Ja, davon hat mir mein Vater schon erzählt.“
    Natürlich kannte ich die Sage vom blaugrünen Stein von Tamalon. Wer kannte sie nicht?


    Der blaugrüne Stein von Tamalon, erschaffen durch die Erzmagierin von Aliquandor, Corianda Sativis, und benannt nach dem Ort seiner Entstehung, der Reichshauptstadt Tamalon, war faustgroß, kugelrund und hatte eine mittelgrüne mit königsblau marmorierte Färbung. Geplant hatte die Magierin, ihm Lebenskraft stärkende Eigenschaften zu verleihen, um ihn in ihrem umfangreichen Gemüse- und Kräutergarten als Ersatz für das viele teure Düngemittel einzusetzen. Doch die Verzauberung ging schief. Auffallend war, dass der Stein entgegen Coriandas Erwartung weich wie ein Stoffball geworden war, seine äußerliche Erscheinung aber beibehalten hatte. Er war viel leichter als zuvor. Man konnte ihn beliebig zusammendrücken, nach dem loslassen nahm er immer wieder seine Ursprungsform an. In umfangreichen Testreihen vermochte er nicht seine ursprüngliche Bestimmung zu erfüllen. Überhaupt schien er keinen außergewöhnlichen Nutzen zu haben. So landete er schließlich in der Spielzeugkiste von Norbert, Coriandas stubenreinen Wolf, den sie sich als Haustier hielt.
    Doch einige Tage später, als die Magierin Norbert sein inzwischen liebgewonnenes Spielzeug apportieren ließ, zeigte der Stein seine Fähigkeit, die ihm den sagenwürdigen Ruf verschaffte. Norbert war ihm wieder einmal nachgejagt, nachdem Corianda ihn quer durch ihr geräumiges Wohn- und Arbeitszimmer geworfen hatte, und hatte ihn sanft vom Boden aufgehoben. Dann stand er da, sabberte ihn voll und kaute darauf herum. Als er dann auch noch anfing, ihn wie ein frisch erlegtes Kaninchen hin und her zu schütteln, erstrahlte der Stein in einem hellen blauen Leuchten. Eine ähnlich texturierte Kugel bildete sich auf seiner Oberfläche und breitete sich aus, bis der ganze Wolf in einer riesigen Seifenblase zu stehen schien. Plötzlich war sie wieder verschwunden und mit ihr Norbert. Wie fallen gelassen schlug der Stein herrenlos auf Coriandas Teppichboden.
    Die Magierin war zunächst schockiert. Doch dann machte sie sich daran, herauszufinden, was mit Norbert geschehen war. Einige Wochen später kannte sie die Antwort: der Stein hatte ein Portal zu einer anderen Welt geschaffen und den Wolf aller Wahrscheinlichkeit dorthin transportiert. Wenig später fand Corianda auch heraus, mit welcher Bewegungsabfolge, die Norbert zufälligerweise erraten hatte, sich das Tor öffnen ließ. Sie öffnete das Portal erneut und eilte ihrem Haustier hinterher, um es vor möglichen Gefahren zu retten und bei der Gelegenheit auch die unbekannte Welt zu erkunden. Seitdem wurden Corianda und Norbert nicht mehr gesehen.
    Irgendwann fand eine Bedienstete das Protokollbuch, in dem die Magierin ihre Forschungsergebnisse zu dem Stein festgehalten hatte, und musste gleich ihren Freundinnen und Nachbarinnen davon erzählen. Der übliche Weg, wie Gerüchte und Sagen entstanden.

    [Gut versteckt in der Bibliothek von Professor Bloom befindet sich schon seit einigen Jahren die Vorgeschichte zu meinem Charakter Hanswalter. Als ich mit dem Schreiben begann, war noch geplant, dass sie einmal in dem Profil unter dem Punkt "Herkunft und Geschichte" veröffentlicht werden sollte. Ich wollte eigentlich nur einen kurzen Text schreiben und verzichtete daher auf einen vorherigen Entwurf. Die Ideen kamen mir alle während des Schreibens und es wurden immer mehr. Der Umfang der Geschichte nahm schnell zu und schon bald musste ich erkennen, dass sie wohl den Rahmen eines üblichen Profiltextes gesprengt hätte. Da entdeckte ich die Möglichkeit, die Geschichte in ein Buch im Spiel zu schreiben. Aus einem Buch wurden am Ende vier.


    Eigentlich hatte ich beabsichtigt, den Text ausschließlich als Spielelement bestehen zu lassen, doch ich denke, dass der Umstand, dass man sich mit seinem Charakter im Spiel in der Bibliothek aufhalten muss, um die Geschichte lesen zu können, dazu führt, dass sie kaum jemand liest. Daher und durch Anregung von Miriam Meernixe (siehe hier) habe ich nun beschlossen, sie auch hier im Forum zu veröffentlichen.


    Es würde mich freuen, wenn sich der eine oder andere Leser findet und vielleicht in dem Kommentar-Thread (siehe hier) etwas konstruktive Kritik hinterlässt.]