Eine Prise Gestern und einen Löffelvoll Heute
Der farbenfrohe Frühling hatte in Simkea schon längst seinen Einzug gehalten, doch war im Rodegebiet in dieser kühlen und windstillen Nacht nicht wirklich viel von ihm zu spüren. Nur der flackernde Lichtschein unzähliger Kerzen, der aus zwei kleinen Fenstern eines bunten Wanderhäuschens auf das umliegende Gebiet geworfen wurde, ließ erahnen, dass auch hier der Kreislauf des Lebens fleißig im Gange war. Und zwar Bäume, die mit einer Schnelligkeit nachwuchsen, sodass man dabei im Tageslicht - mit etwas Geduld im Gepäck - verblüfft zusehen konnte. Nur war dies in der Dunkelheit eine ganz andere Geschichte. Da „entstanden“ diese Bäume scheinbar, ohne dass man deren Wachstum bewusst wahrnahm … und inmitten dieser wunderreichen Umgebung stand mit den Füßen fest im Boden verankert eine im dunkelroten Umhang gehüllten Frau, deren scharf polierte Axtklinge im Lichtschein funkelte kurz bevor sie auf den harten Baumstamm traf und im immerwährenden Rhythmus in dieselbe Kerbe einschlug bis der Baum mit einem Knall auf den mit Moos und Holzspänen bedeckten Boden krachte.
Wie jedes Mal, wenn ihr etwas gelang, was sie sich vor Monaten nie gewagt hätte, überhaupt zu träumen, dass sie das schaffen könnte, zierte ein zugleich stolzes und ungläubiges Lächeln ihr Gesicht, die Axt wurde fallen gelassen und die bernsteinäugige Zigeunerin klatschte begeistert kurz in die Hände. Das Leben, das sie hier in Simkea führte war so anders als das mit Ihresgleichen in Noröm.
Kein Tag verging, an dem sie sich nicht wünschte, Andere von ihrem Blute in Simkea Willkommen zu heißen, aber bisher war ihr diese Freude leider vergönnt geblieben. Die Einsamkeit und Sehnsucht zerriss ihr manchmal nahezu das Herz, ein Gemütszustand, den niemals Simkeaner zu Gesicht bekommen würden. Rose sprach nie über ihre Zeit vor Simkea, ging es erstens niemanden was an, und zweitens fehlte das Vertrauen dazu an sämtlichen Ecken und Kanten. Wer außer jemand, der ein Ähnliches Schicksal erlitten hatte, würde das Verständnis und Mitgefühl dafür aufbringen können, wenn man ihnen erzählen würde, dass man auf einem Fluchtschiff dabei hilflos zusehen musste, wie die eigenen drei Kinder langsam verhungerten und fest in den mütterlichen Armen gekuschelt die Schwelle zum Jenseits überschritten? Wer würde da nachvollziehen können, wie es sich anfühlt, damit leben zu müssen und dabei immer wieder erfolglos versucht, den Sinn zu begreifen, warum man selbst bei dieser Grausamkeit vom Tode verschont blieb und der eigene Mann kurz darauf nach einem Meeressturm, der das Schiff zerstörte, als verschollen oder auch tot galt? Wer würde da verstehen, wie viel Stärke und Kraft es erforderte, jeden Tag aufs Neue weiterzumachen und nicht in Selbstmitleid und Schmerz zu versinken? Wer würde erkennen, dass Mitleid die Allerschlimmste Reaktion auf eine solche Geschichte wäre? Nein ... über so etwas redete man nicht, wenn es wie üblich in Simkea um Handeln, Berufe, Erfolge und Niederlagen, Feste, Ereignisse und den Sorgen und Belangen Anderer ging. Sich zu öffnen stellte für Rose ein viel größeres Risiko dar, als es das Schweigen tat.
So schob sie ihren Schmerz in die dunkelste und tiefste Kammer ihres Herzens und erfreut sich nun stattdessen jeden Tag aufs Neue an das spannende und magische Leben, das ihr in Simkea geboten wird und an dem sie sich immer mehr gewöhnt.
Auch in dieser Nacht war sie guter Dinge, beflügelt von den Erfolgen und das schnelle Dazulernen im Holzabbau. Die geheimnisvolle und mystische Umgebung trug zu ihrer guten Stimmung bei, fühlte sie sich immer in den simkeanischen Nächten beim Arbeiten wohl, auch wenn seit einigen Tagen unablässig zwei gelbe Augen, die eines wilden Wolfes, sie aufmerksam beobachteten. Auch wenn oberflächlich gesehen einem der Anblick in der Dunkelheit schon Angst machen konnte, spürte Rose nur die Neugierde des Raubtiers. Sie fasste sich nach einigen Stunden ein Herz und begann, gelegentlich ein oder zwei Fleischbrocken in seine Richtung zu werfen. Vielleicht hatte er ja genau darauf gewartet ...