[RP] Der Wald (Geschichtswettbewerb)

  • Der Wald


    Einer ihrer ersten Ausflüge in Simkea führte Diodon in den Dämmerwald.
    Mit großen Augen schaute sie sich um, als sie den schmalen Pfad in den Wald hinein betrat. Da, wo sie herkam, gab es das nicht. Nicht so. Die Bäume, Sträucher und Gräser, das laute Zwitschern der Vögel, ab und an knackte es im Geäst. Welche Tiere sich in dem Dickicht verbargen, konnte sie nur erahnen.


    Der Sonnenschein flutete die Lichtungen und zauberte ganz wundervolle Schattenspiele herbei. Immer tiefer lief sie in den Wald hinein und vergaß all ihre Ängste und Sorgen.


    Tag und Nacht verbrachte sie im Wald.
    Bald wusste sie genau, welcher Baum zum Klettern geeignet war. Wo die Eichhörnchen schliefen und ihre Jungen aufzogen. Wo Spechte nisteten und wo die Bienen wohnten, die sie anfangs so zerstochen hatten. Die Rehe stieben nicht mehr auseinander, wenn sie lautlos zu ihnen trat. Und wenn sie eines von ihnen erlegte, erkannte sie genau, welche Mutter gerade säugte und welches Tier schwach oder lahm war. Das Fleisch tauschte sie in der Stadt gegen Essen, die Felle gegen Kleidung und Schuhe. Es gab kaum etwas, das unnütz und nicht verwertbar gewesen wäre.


    Die Simkeaner in der großen Stadt Trent nahmen sie freundlich auf und auch bald unter ihre Fittiche.
    Sie lernte durch ständiges Ausprobieren, wie man aus Wolle erst Garn und dann auch Stoff herstellte. Nach und nach gingen ihr all diese Tätigkeiten leicht von der Hand, und sie schlief auch häufig in der Stadt. Doch der Ruf des Waldes ließ nie lange auf sich warten. Dann musste sie wieder hinaus, die Mauern und das Stimmengewirr hinter sich lassen und durch den Wald streifen. Manches Mal saß sie einfach still in einer Astgabel und fütterte die Eichhörnchen mit Apfelkernen. Sie genoss das Gefühl der rauen Borke des Baumes unter sich und die Freiheit der Wipfel und des Himmels über sich. Nie war sie sich selbst so bewusst wie in diesen Momenten und dann wurde ihr klar, dass sie nur ein Teil des großen Kreislaufs war.


    Eines Tages, als sie wieder ihren Lieblingsbaum aufsuchen wollte, war ihr, als ob ganz plötzlich noch mehr Pfade durch den Wald führen würden. Warum war ihr das nie aufgefallen?! Neugierig rannte sie los, wieder einmal alles um sich herum vergessend. Der Wald erschien ihr mit einem Mal riesengroß und ihre Herz klopfte aufgeregt. Bald wusste sie nicht mehr, wo sie war, doch das machte nichts. Sie war sicher, ihr würde nichts geschehen.


    Den ganzen Tag dauerte ihr Streifzug, doch noch immer war keine Waldgrenze auszumachen. Sie kletterte mal auf diesen, mal auf jenen Baum, doch selbst vom höchsten Wipfel aus sah sie nur mehr die Baumkronen. Als es dämmerte, wurde ihr klar, dass sie wohl einige Tage brauchen würde, um alles zu erkunden. Sie machte sich auf die Suche nach einer geschützten Stelle, an der sie die Nacht verbringen konnte. Doch es wurde immer dunkler und sie fand nichts, was ihr geeignet erschien.


    Mal stachen sie spitze Dornen, wenn sie sich niederlassen wollte, dann knurrte ein Wolf mit leuchtenden Augen in der Dunkelheit. So sehr sie sich auch bemühte, sie fand einfach keine Ruhe. Die Nacht war nun vollends hereingebrochen und sie sah kaum mehr die Hand vor den Augen. Zweige peitschten ihr ins Gesicht, zu allem Überfluss begann es noch zu regnen. Den Umhang hatte sie natürlich zu hause gelassen. Es schien ihr bis zu diesem Moment unmöglich, dass sie jemals in ihrem Wald frieren und nass werden würde! Nun wurde ihr doch etwas mulmig zumute. Den Goblins wich sie furchtsam aus, doch immer wieder geriet sie ins Stolpern. Als sie auf einen spitzen Stein trat und ihre Schuhe dabei zerriss, war sie mit ihren Kräften am Ende. Dumpf grollte Donner durch die Nacht und ließ sie erschaudern. Blitze zuckten über den Himmel, grell und bedrohlich, und das Prasseln des Regens auf den Blättern wurde immer lauter. Der Boden verwandelte sich in Matsch, die dünne Laubschicht darauf barg keine Sicherheit mehr. Immer häufiger fiel sie hin und ihre Kleidung klebte kalt, nass und schlammig an ihrem Körper. Es kostete sie Mühe, sich wieder und wieder aufzurappeln.


    Diodon war verzweifelt. Als sie wieder im Schlamm ausrutschte und hart auf den Boden schlug, gab sie auf. Tränen liefen ihr über das Gesicht, als sie mühsam zwischen zwei Baumstämme kroch und sich fragte, warum ihr nur noch trübe Gedanken durch den Kopf gingen und sie sich in „ihrem“ Wald überhaupt nicht mehr sicher fühlte.


    Plötzlich brach die Erde unter ihr weg. Noch während sie fiel, versuchte sie, sich an am Erdreich, an Steinen oder Wurzeln festzukrallen. Doch alles, was sie griff, löste sich und fiel mit ihr immer weiter in die Tiefe. Scharfe Steinchen schrammten ihre Haut, und als sie endlich liegenblieb, tat ihr alles weh. Zerschunden rappelte sie sich auf und bewegte vorsichtig ihre Glieder.


    Glücklicherweise hatte sie sich nichts gebrochen. Auch sehen konnte sie noch, stellte sie beim vorsichtigem Öffnen ihrer Augen erleichtert fest. Zwar herrschte hier nur mehr Zwielicht, doch nach einiger Zeit gewöhnten sie sich an diese Beinahe-Dunkelheit. Sie schaute sich um und versuchte, nicht in Panik auszubrechen. Bestimmt vier Schritt über ihr erkannte sie das Loch, durch welches sie gefallen war. Sie hörte von oben das Gewitter toben, doch hier unten war es kühl und klamm. Nun, jetzt war sie vor den Blitzen und dem Regen geschützt, versuchte sie sich ganz optimistisch vor Augen zu führen.
    Die Grube schien auf den ersten Blick gar nicht groß, vielleicht drei Schritt von einer Wand zur anderen. Sie beschloss, die Wände abzutasten und zu überlegen, an welcher Stelle sie am ehesten wieder nach oben gelangen würde. Der Rucksack blieb dort, wo sie startete, und vorsichtig tastete sie sich an der Erdwand voran.


    Die Wände bestanden aus Erde, so viel war klar, aber so glatte Erde hatte sie noch niemals gefühlt oder gesehen. Ob diese Höhle gar nicht natürlichen Ursprungs war? Hatte jemand hier gegraben? Nach ungefähr der Hälfte des Weges stieß sie auf eine Vertiefung, fast sogar ein enger Tunnel, welcher noch weiter hinein ins Erdreich führte. Zögernd ging sie in die Hocke und versuchte, hineinzuschauen. Das spärliche Licht reichte jedoch einfach nicht aus. Sie konnte nichts außer Schwärze erkennen. Nun, vielleicht ein Tierbau? Sie wusste es nicht und wollte sich schon wieder erheben, als sie ein leises Geräusch vernahm. Erschrocken hielt sie die Luft an und lauschte. Da, wieder – ein leises Stöhnen. Sie war sich nun ganz sicher.
    Leise flüsterte sie in den Tunnel: „Hallo! Hallo, wer ist da?“
    Als Antwort ein weiteres Ächzen, doch scheinbar mit mehr Anstrengung als zuvor. Lag etwa jemand in diesem engen Loch?! Ohne zögern legte sie sich auf den Bauch.
    „Ich komme, ich hole dich heraus, hab keine Angst.“


    Sie robbte auf dem Bauch in den Tunnel, die Hände tastend vorgestreckt. Weit war sie nicht gekrochen, da fühlte sie zwischen ihren Fingern dürre Äste. Als sie sie beiseite schob, schoss ihr durch den Kopf, dass vielleicht auch etwas nach ihr rief, was ihr nicht wohlgesonnen sein könnte. Und ihr wurde außerdem klar, dass sie gerade bis zur Taille auf dem Boden liegend in einem sehr engen Loch steckte. Aber dieses klägliche Stöhnen, welches sie nun erneut vernahm, ließ sie ihre Zweifel vergessen. Wenn dort jemand in Not war, würde sie helfen! Sie tastete sich weiter und bekam etwas Festes zu greifen. Noch einmal flüsterte sie: „ganz ruhig, hab keine Angst, ich hole dich hier raus!“.


    Sie griff nach dem Festen, ließ erschrocken los, nur um dann noch kräftiger zuzupacken. Schultern und Arme. Tatsächlich, hier lag jemand lebendig begraben! Sachte schob sie ihre Hände unter die Achseln des Wesens und zog es zu sich. Sie robbte ein Stück zurück, zog, rutschte wieder zurück. Nur noch ein kleines Stück, dann hatte sie es geschafft. Endlich konnte sie sich aufrichten, und sie zog den Körper vollends aus dem schmalen Tunnel. Die Anstrengung ließ sie keuchen, doch sie wollte jetzt auf keinen Fall mehr aufgeben. Bald hatte sie auch die Beine aus dem Loch gezogen, und die Proportionen ließen auf einen Menschen schließen. Es war klar, dass von diesem Menschen hier keine Gefahr ausging.


    Regungslos und schwer hing er in ihren Armen, sein Atmen ging rasselnd und unregelmäßig.
    Sie zog ihn in die Mitte der Höhle, holte Wasser aus ihrem Rucksack und zerriss ihren Rock in schmale Streifen, um den Menschen zu säubern. Unter dem Dreck kam ein männliches, markantes Gesicht zum Vorschein. Ein dunkler, zottiger Bart verdeckte Lippen und Kinn, doch die Augenlider des Mannes flatterten. Leise sprach sie auf ihn ein, während sie ihn wusch und ihm dann vorsichtig einige Schlucke Wasser einflößte. Es ging nur mühsam und langsam von statten, doch endlich hatte er einen Becher frischen Wassers geleert. Sie bettete seinen Kopf auf ihren Schoß und wachte über ihn, bis der Tag anbrach. Noch mehrfach hatte sie versucht, ihn anzusprechen, doch er befand sich in einem so schlechten Zustand, dass er nicht antworten konnte. Ab und an hustete er kläglich, und immer wieder hielt sie ihm den Becher an die Lippen, damit er etwas trinken konnte. Sie hatte noch ein bisschen Obst bei sich, und so schälte sie mit ihrem Messer den Apfel sorgsam, nahm die Kerne heraus, schnitt ihn ganz klein und gab ihn mit einigen Blaubeeren und Erdbeeren in den leeren Becher. Mit einem Stock zerstieß sie das Obst zu einem groben Brei. Der Mann hatte noch immer nicht die Augen geöffnet, doch auch den Brei ließ er sich füttern und schluckte ihn mit zusammengekniffenem Gesicht hinunter.

  • Das musste nun erst einmal reichen. Wenn er wirklich lange nichts gegessen hatte, wollte sie ihm auch nicht zu viel auf einmal zumuten. Als die Morgendämmerung kam, schob sie ihm ihren Rucksack unter den Kopf und stand auf, streckte sich und blickte sich noch einmal gründlich um. Das Licht sickerte ganz langsam in die Grube, und nun sah sie tatsächlich, dass die Wände zumindest mit einem Spaten glattgestrichen wurden. Das vereinfachte die Sache überhaupt nicht. Schnell aß sie selbst eins der wenigen Brötchen, die sie noch bei sich trug und trank ebenfalls etwas Wasser, dann machte sie sich daran, den Plan umzusetzen, den sie in der Nacht gefasst hatte.


    Werkzeug hatte sie nur wenig bei sich. Ein Messer, den Becher und einen Weidenkorb. Also würde sie versuchen, eine Rampe in die Wand zu hacken, die es ihr möglich machen würde, sich und den Mann aus der Grube zu retten. Sie musste sofort anfangen und durfte keine Zeit verlieren, denn die Nahrung würde ihr ausgehen und auch das Wasser. Zudem brauchte sie das Tageslicht für ihr Unterfangen.
    Diodon wusste nicht, ob der Mann sie überhaupt verstand, dennoch erzählte sie ihm schnell, was sie sich ausgedacht hatte. Sein Atem ging etwas ruhiger, das Gesicht erschien ihr nicht mehr ganz so fahl, was aber auch am Tageslicht liegen mochte. Dann ging es los.


    Sie wählte die Stelle, an der sie hinab gefallen war, denn dort hatten ihre Finger die sonst glatte Wand schon ein wenig aufgerissen. Sie stach und hieb immer wieder in die Erde, schob herabgefallene Brocken beiseite und grub weiter. Sie wusste nicht, wie lange sie schon bei dieser schweißtreibenden Arbeit war, doch als die Sonne beinahe senkrecht in ihre Grube schien, legte sie eine Pause ein, aß ein wenig, fütterte den „Tunnelmann“, wie sie ihn in Gedanken nannte, mit Stückchen von ihrem Brot und gab ihm ebenfalls zu Trinken. Sie hatte das Gefühl, dass sein Zustand sich langsam besserte, doch sie musste sich gleich wieder an die Arbeit machen, wenn sie bis zum Abend fertig sein wollte.


    Immer höher arbeitete sie sich voran. Oben konnte sie ihren Wald erkennen, und er vermittelte ihr wieder Ruhe und Kraft, so als sei nichts geschehen. Das spornte sie nur noch mehr an. Bald hörte sie ein Quieken und Keckern und eine kleine schwarze Nase schob sich über den Rand der Grube. War das etwa ein Dachs gewesen? Sie konnte es nicht genau erkennen. Doch schon hörte sie Krallen und Pfoten, die sich ihr von oben entgegen buddelten. Vor Dankbarkeit über diese unerwartete Hilfe traten ihr die Tränen in die Augen, welche sie jedoch rasch beiseite wischte, um sich eifrig wieder an die Arbeit zu machen. Schon bald war so etwas wie eine Rampe entstanden. Grob und bucklig zwar, doch genau das, was sie brauchte. Und noch war die Sonne nicht verschwunden. Sie war schneller fertig, als sie gedacht hatte.


    Prüfend kletterte sie hinauf. Ja, halten würde es! Und selbst, wenn sie den Tunnelmann tragen und ziehen müsste, sollte es funktionieren. Sie rutschte wieder hinab in die Grube, nahm sachte den Rucksack unter dem Kopf des Mannes weg und brachte erst ihre Sachen nach oben. Die Dachse, es war wohl eine ganze Familie, wichen zurück, doch sie verschwanden nie ganz. Immer wieder sah sie einen, der sie scheinbar aufmerksam beobachtete.


    Sie rutschte erneut hinunter, kniete sich zu dem Mann und erklärte ihm: „Ich kann uns nun hier hinaus bringen. Es wird eventuell schmerzhaft, denn ich bin nicht stark genug, dich den Weg hinauf zu tragen. Ich muss dich ziehen. Verzeih, wenn es wehtut, aber oben kann ich dir viel besser helfen. Glaubst du, wir schaffen das?“
    Die Frage hing in der Luft, denn bis jetzt hatte er nicht ein Wort gesprochen.
    Doch als ob ihre Pflege und ihr Mut schon etwas bewirkt hatten, öffnete er jetzt die Augen, sah geradewegs in ihre und sagte einfach: „Ja.“


    Diodon war überrascht über diese Reaktion, doch für Fragen war später noch Zeit. Sie griff dem Mann erneut unter die Achseln und zog ihn zu der Rampe, verschnaufte einen Moment und machte sich dann an den schwierigen Aufstieg. Rückwärts kroch sie die Rampe hinauf, zog den Tunnelmann ein Stück nach oben, verschaffte sich mit den Füßen Halt im Erdreich und so ging es langsam, aber stetig hinauf. Endlich waren sie oben angelangt. Ihre Kräfte hatten gerade so ausgereicht. Sie musste eine ganze Weile verschnaufen, den Mann halb auf ihrem Schoß, und sie stützte sich mit den Händen nach hinten ab und schaute in die Baumwipfel und zum Himmel hinauf, atmete tief ein und aus.
    Sie musste eine ganze Weile so gesessen haben, denn als sie den Blick wieder senkte, hatte sich ein ganz junger Dachs auf dem Bauch des Tunnelmannes zusammengerollt und schlief friedlich. Scheinbar hatte diese Dachsfamilie eine ganz besondere Bindung zu dem Mann.


    „Und wie geht es nun weiter?“ murmelte sie leise vor sich hin.
    „Folge dem... Dachs...“
    Der Tunnelmann sprach langsam, als fiele ihm jedes Wort unendlich schwer. Dem Dachs folgen? Diodon wusste nicht, was sie davon halten sollte. Redete er vielleicht wirr? Doch schon kam der größte der Dachse herbeigelaufen und stupste sie mit der Nase immer wieder an. Den Rucksack schob sie dem Tunnelmann wieder unter den Kopf, drehte sich noch einmal zu ihm um und ging dann in den Wald hinein – dem Dachs folgend. Sie war noch nicht lange unterwegs, aber das Tier wusste scheinbar genau, wo es hinwollte. Zielstrebig folgte es einem Pfad, den man nur erkennen konnte, wenn man wusste, dass es ihn gibt. Bald blieb ihr Führer stehen, und sie sah sich um. Was genau sollte sie nun hier?


    Sie musste schon sehr genau schauen, bis ihr auf einmal klar wurde, dass sie vor einer Hütte stand. Diese war so geschickt gewachsen – Moment! Gewachsen?! Ja, es schien so, als seinen die Wände lebendig, grün und braun, mit Ranken und Blättern versehen. Wie wundersam und schön zugleich! Sie trat in die Hütte. Es konnte nur die Wohnung dieses eigentümlichen Mannes sein, den sie aus der Erde gezogen hatte! Trockene Äste waren elegant verflochten, mit trockenem Laub und Moos gefüllt und luden förmlich zu einem bequemen Schlaf ein. Eine kleine Vertiefung, mit Steinen umrandet und etwas Asche darin, das musste die Feuerstelle sein. An Ranken und Zweigen hingen Kräuterbündel, Beeren und einige Käfer.
    Jetzt wusste sie, was sie zu tun hatte. Sie lief den schmalen Pfad zurück, den sie gekommen war, und der Dachs rannte eifrig mit ihr zurück. Der Mann hatte sich kaum bewegt und lag noch immer mit dem schlafenden Jungtier auf dem Bauch dort, wo sie ihn zurückgelassen hatte.


    „Ich habe eine Hütte entdeckt, das ist bestimmt deine? Soll ich dich dorthin bringen?“ fragte sie aufgeregt.
    „Ja – bitte!“ Die Antwort kam leise, aber gut verständlich, und sie glaubte auch, dass sie ihn tragen könnte. Es war nicht weit, der Weg war eben und der Mensch nicht mehr als Haut und Knochen. Sie ging in die Hocke und zog seine Arme von hinten um ihren Hals. Sie umklammerte seine Beine fest an ihrer Hüfte und trug ihn versuchsweise zwei Schritte weit. Es ging. Herje, er war doch schwerer, als sie angenommen hatte, doch es ging. Musste irgendwie gehen. Das Tierjunge sprang von seinem Bauch, die ganze Dachsfamilie tapste nebenher und vorweg, als sie ihn Schritt für Schritt zu seiner Hütte trug. Sie war schweißgebadet und schnaufte, als sie ihn endlich auf das Laubbett ablegen konnte, doch sie war auch einfach erleichtert, dass er bis jetzt alles wohl gut überstanden hatte. Sie konnte sich selbst kaum mehr auf den Beinen halten, und nachdem sie ihm noch einmal etwas zu Trinken gegeben hatte und das letzte Brot mit ihm teilte, rollte sie sich auf dem Boden zusammen und war sofort eingeschlafen.


    Von einem seltsam feuchten Gefühl an ihrer Wange wachte sie auf. Mühsam hob sie ein Augenlid und nahm verschwommen etwas Schwarzes wahr. Wieder knuffte etwas ihr Gesicht, und sie riss die Augen auf. Weder wusste sie, wo sie war, noch, warum ihr alles wehtat. Ein Dachs leckte ihr über das Gesicht. Wie? Ein Dachs? Mit einem Mal fiel ihr alles wieder ein, und der Schmerz in den Beinen, den Armen, am Po... - wo tat es eigentlich nicht weh?! - Muskelkater, Prellungen und kleine Schürfwunden, über die sich sich gestern Abend keine Gedanken mehr gemacht hatte. Sanft schob sie den Dachs ein Stückchen von sich und setzte sich auf. Mit einem protestierendem Quieken purzelte ein Dachsjunges von ihrer Brust auf den Boden, blieb kurz verdutzt sitzen und flitzte dann zu seiner Mutter. Vorsichtig bewegte sie Arme und Beine, um die Steifheit aus ihren Gliedern zu vertreiben und stand dann auf. Der Tunnelmann! Wie lange hatte sie geschlafen?
    Wie ging es ihm nach den schrecklichen Erfahrungen, die er wohl gemacht haben musste? Sie trat zu ihm ans Lager und betrachtete ihn. Licht drang durch die Blätter dieser eigentümlichen Behausung, die ersten Vogelstimmchen begrüßten in den Baumkronen den Tag. Der Tunnelmann lag ruhig atmend auf der Seite im Laub, und sie traute ihren Augen kaum, als sie feststellte, dass seine Decke nichts anderes als unfassbar viele Tiere waren! Dicht an dicht kuschelten sich Jäger und Beute aneinander. Auf seinen Füßen lag ein Fuchs, eine Mausfamilie hatte sich in eine Hand geschmiegt und das dort, war das etwa eine Eule? Einige dieser Tiere hatte sie noch nie gesehen! Dieses Bild war so friedlich, dass ihr ganz warm ums Herz wurde. Versonnen stand sie da und betrachtete die Schlafenden.

  • Ein Knurren riss sie aus ihrer Verwunderung, und ihr wurde bewusst, dass sie gestern das letzte Brot gegessen hatten. Ihr Magen machte sie nun deutlich darauf aufmerksam. Zudem war ihr recht frisch um die Beine – ihren Rock hatte sie nicht nur vergessen, er existierte nur mehr als Verband und Putztücher. Auch die schönen Stiefel lagen irgendwo im Wald, und sie wackelte unbehaglich mit den Zehen. Was nun? Sie würde den Weg nach Trent zurück finden müssen, sich Kleidung und vor allem Nahrung für sich und den Tunnelmann besorgen und die fragenden Blicke ignorieren. Dann würde sie hier wieder herkommen und sehen, was sie tun konnte. Leise seufzend griff sie nach ihrem Rucksack, schulterte ihn und trat aus der Hütte. Wie sollte sie den Weg nur finden? Sie hatte sich gestern gründlich verlaufen. Sie lief einfach los, in irgendeine Richtung musste sie sich ja wenden. Nur vom Rumstehen kam sie auch nicht nach Trent. Sie musste sich beeilen.
    Also hastete sie durch die Büsche, zwischen den Bäumen entlang und hoffte einfach, dass ihr Wald sie nicht im Stich lassen würde. Sie hatte ihr Vertrauen nicht verloren und glaubte fest daran, dass das unheimliche Gewitter gestern nur dazu gedient hatte, den Tunnelmann zu finden. Es grenzte an ein Wunder, dass sie unbeschadet und ohne einen Dorn in den Füßen auf einmal den Apfelbaum fand, den sie schon so oft um ein paar saftige Äpfel erleichtert hatte! Nun war es ja gar nicht mehr weit. Im Vorbeigehen schnappte sie sich eine Frucht, biss vergnügt hinein und schnippste die Kerne von sich. Nur noch ein paar Meilen, dann war sie in Trent. Sie lief den Weg entlang, am Sägebock vorbei - zum Glück war hier noch niemand - und stand bald vor dem Stadttor. Der freundliche Blue verwahrte ihre Sachen, und sie wusste, dass sie dort auch noch in einer der Kisten einen neuen Rock und auch Stiefel finden würde.
    Hinter einem Stapel Säcken zog sie sich schnell an und angelte noch das ein oder andere nützliche Ding aus ihrem Fundus. Auf dem Markt erstand sie Essen und Trinken, dazu noch Hemd und Hose für den Tunnelmann, stopfte alles in ihren Rucksack und rannte dann die Gassen entlang, zurück zum Wald.


    Mit schlafwandlerischer Sicherheit fand sie den Weg zur Behausung zurück. Wie hatte sie sich hier nur jemals verlaufen können? Jetzt sah sie die Hütte schon von weitem, aber wer davon nicht wusste, würde sie vermutlich niemals finden. Leise trat sie über die Schwelle. Möglich, dass der Tunnelmann noch schlief, sie war wohl knapp drei Stunden fort gewesen.


    In der Hütte hatte sich nichts verändert. Die Tiere schliefen, der Mann schlief, und die Dachse hatten sich auch noch zu ihm gelegt. Sie legte den Rucksack sachte ab und holte das Essen heraus. Ihr Magen knurrte noch immer, sie hatte ja nichts weiter gegessen als den einen Apfel. Leise holte sie Brot und Kakao hervor und das leckere Gemüse mit Reis, welches sie am Markt extra gekauft hatte. Den Muttertrunk stellte sie vorsichtshalber auch schon bereit. Möglich, dass der Mann sich nicht erkältet hatte, aber schaden konnte der Trank gewiss nicht. Die Kleidung legte sie ordentlich gefaltet daneben. Sie kreuzte die Beine und setzte sich zum Essen auf den Boden. Sollte sie ihn wecken?
    Unsicher trank sie einen Schluck Kakao und sah aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Sie blickte zum Lager und sah gerade noch den Fuchs, wie er sich aufsetzte, schnell übers Fell leckte und dann aus der Tür lief. Nach und nach erhoben sich die Tiere, huschten an ihr vorbei, als gäbe es sie gar nicht und verschwanden im Wald. Als nur noch die Dachse übrig waren und scheinbar das gemütliche Lager nicht aufgeben wollten, öffnete der Mann die Augen und sah sie direkt an.


    Befangen schaute sie auf den Kakaobecher in ihrer Hand und wusste für einen Moment nicht, was sie sagen sollte. Dann besann sie sich, sprang auf und lief zum Lager und half ihm, sich aufzusetzen. Es ging besser als erwartet. Bald lehnte er mit dem Rücken an der Wand aus Baumstämmen und sie brachte ihm einen Becher mit Kakao. „Danke“. Mehr sprach er nicht, konnte aber den Becher halten und auch selbstständig trinken. Sie sah es und brachte ihm schnell auch noch Reis und Brot.


    „Kannst du allein... soll ich?“ brachte sie hervor. „Ich heiße Diodon, aber alle nennen mich Dio. Wer bist du? Wie bist du in dieses... dieses Loch da geraten?“ Erschrocken hielt sie inne. Sie plapperte schon wieder zu viel, war zu neugierig.
    Der Mann ließ sich von ihr nicht aus der Ruhe bringen und aß und trank mühsam, aber gierig. Er musste völlig ausgehungert sein. Er leerte den Teller bis auf den letzten Krümel, aß beinahe das ganze Brot und ließ sich noch einen Becher Kakao geben. Diodon hielt ihm den Muttertrunk hin, und nachdem er daran gerochen hatte, trank er die Mixtur in einem Zug.

  • „Mein Name ist Korjin. Ich bin ein Druide dieses Waldes. Du, Diodon, hast ein Recht darauf, zu erfahren, was mir zugestoßen ist. Du hast mich gerettet und damit vielleicht auch diesen Wald. Ich danke dir von Herzen dafür.“


    Seine Stimme klang warm und angenehm in ihren Ohren, und sie freute sich, dass es dem Tunnelmann -nein, Korjin!- besser ging, als sie erhofft hatte. „Das war selbstverständlich“, winkte sie ab. „Ich glaube, der Wald hat mich geradewegs zu dir geführt“.
    Korjin nickte. „Ja, das war das Letzte, zu dem ich noch in der Lage war. Doch du hättest mir nicht helfen müssen. Du hättest dich selbst befreien und retten können. Es ist nicht selbstverständlich!“
    Seine Stimme wurde kräftiger, die letzten Worte stieß er beinahe ungläubig hervor.


    Während sich die Dachse auf seinem Schoß zusammenrollten und eins der Jungen zu ihr sprang, um sich kraulen zu lassen, redete er weiter: „Ich lebe schon sehr lange in diesem Wald. Wenn du möchtest, kannst du mich als seinen Beschützer ansehen. Viele Menschen und andere Wesen habe ich kommen und gehen sehen. Sie alle kamen mit Frieden im Herzen und verhielten sich respektvoll. Sie fällten keinen Baum aus Habgier, und sie töteten keine Tiere nur aus Blutdurst.“
    Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, und Diodon wurde bange bei diesem Blick. Sie lauschte ihm aufmerksam und wollte ihn auch nicht unterbrechen. Also sprach er weiter, mit kaum verborgener Wut in der Stimme.


    „Eines Tages kamen diese Goblins. Du hast sie schon gesehen, nicht wahr? Ihr Herz muss aus Stein, ihre Gefühle nur aus Bosheit bestehen. Rücksichtslos fielen sie hier ein, bauten eine Stadt und töteten jedes Tier, welches ihnen in die Finger kam. Ich war zu allem entschlossen. Niemals durften sie diesen Wald und all das Leben hier zerstören. In meinem Zorn sammelte ich alle Kraft, die ich finden konnte und brannte ihre hässliche Stadt nieder. Ich vernichtete viele von ihnen und mich dabei fast selbst. Ihre Anführer starben durch meine Hand! So dachte ich zumindest. Doch einige haben überlebt und wollten sich an mir für das rächen, was ich ihren hässlichen Brüdern und Vätern angetan hatte.
    Ich war zu schwach, um mich zu wehren...“


    Seine Stimme brach, und er verbarg den Kopf für einen Moment in den Händen. Sie ließ ihm Zeit, sich zu sammeln und wartete, bis er fortfuhr.


    „Also“, begann er, „also nahmen sie mich gefangen und schaufelten mir ein Grab, tief unter der Erde. Sie versiegelten es und verfluchten diesen Ort, auf dass niemand mich finden würde. Sie konnten mich nicht töten, denn ich hätte sie mit in den Tod genommen. Also war das ihre Idee. Mich langsam sterben lassen. Auch wenn ich stärker als andere Menschen bin, auch wenn der Wald mein Verbündeter und lebenslanger Partner ist – die wenigen Wurzeln und Käfer hätten mich nicht mehr ewig am Leben halten können. Wärst du nicht gekommen... Diese Brut wäre wieder erstarkt, ich bin mir sicher. Ich lag lange in der Dunkelheit und ich weiß nicht, wie viel Zeit seither vergangen ist. Aber nun bin ich wieder hier und kann meinen Wald verteidigen. Ich werde mich noch erholen müssen, aber ich bin stärker, als ich aussehe.“


    Diodon meinte, ein Blitzen in den tiefgrünen Augen gesehen zu haben, doch sie war sich nicht sicher.
    Sie erzählte ihm von den Ruinen der Stadt, und dass sich dort nur die mutigsten Kämpfer hinein wagen würden. Dass im Wald immer noch einzelne Goblins anzutreffen waren und oft auch böses Wurzelwerk, welches einen angriff, wenn man nicht achtgab. Dass der Wald dennoch für sie ein Ort der Ruhe und des Friedens war und sie ihm gerne geholfen hatte.


    „Und warum kennt dich hier niemand?“ fragte sie erstaunt. „Ich habe noch nie vorher von einem Druiden der Wälder gehört.“


    „Diodon – ich vertraue dir. Ich bitte dich, niemandem von mir und dem, was ich berichtet habe, zu erzählen. Ich kann nur in Einsamkeit leben. Wobei ich niemals einsam bin...“ fügte er schmunzelnd hinzu, als ihn ein Dachs empört die Nase in den Bauch drückte, ganz so, als hätte er die Worte genau verstanden. „Ich möchte niemals wieder in Gefangenschaft geraten.
    Wie leicht könnten meine Kräfte für das Böse missbraucht werden. Darum gehe ich den Menschen und anderen Wesen aus dem Weg. Niemand wird mich je finden, selbst wenn er wüsste, wonach er suchen müsste. Auch du, Diodon, wirst mich niemals wiedersehen.“


    Traurig blickte sie ihn an, konnte aber doch verstehen, warum er so handeln musste. Wenn er wirklich die Stadt der Goblins vernichtet hatte, vermochte sie sich kaum vorstellen, wozu er noch in der Lage war. Und er hatte ganz sicher Kräfte, die ihr Begriffsvermögen überstiegen. Diese Hütte, die Tiere... all das musste bewahrt werden.
    Und darum sprach sie: „von mir wird niemand etwas erfahren, Korjin. Du wirst auch weiterhin diesen Wald hüten können. Ich erkenne die Wahrheit in deinen Worten.“


    Langsam erhob sie sich, setzte den kleinen Dachs zu seiner Familie auf Korjins Lager und griff nach ihrem Rucksack. „Dann... gehe ich jetzt?“ fragte sie zaghaft.


    Geschmeidig erhob sich der Druide und trat zu ihr. Sie war erstaunt, dass er schon wieder so sehr bei Kräften war und musste wohl etwas ungläubig geguckt haben. „Mach dir um mich keine Sorgen, kleine Dryade. Du siehst, mir geht es schon viel besser.“


    Diodon schluckte. Ja, sie sah es. Und wie hatte er sie genannt? Dryade? Warum nur?


    Korjin legte ihr die Hände auf die Schultern und sah ihr, so meinte sie, geradewegs ins Herz. „Ich werde dir etwas schenken. Als Dank und als Erinnerung. Schließe die Augen.“


    Sie schloss die Augen, und ihr Puls beschleunigte sich. Sie fürchtete sich nicht, zumindest redete sie sich das fest ein.


    Sie spürte, wie sich etwas in ihr veränderte. Grünes, grelles Licht schien selbst durch ihre geschlossenen Augenlider, Wärme erfüllte sie bis in die Fingerspitzen und in ihren Ohren summte und knisterte es.


    Korjins Stimme erklang ganz nah an ihrem Ohr und flüsterte: „Du kannst die Augen nun wieder öffnen, kleine Dryade“. Während sie noch der Stimme lauschte, erlosch das Licht. Sie spürte seine Lippen auf ihrem Scheitel, und in ihr kribbelte es. Die Geräusche verstummten, und nach und nach hörte sie wieder das Zwitschern der Vögel und den Wind in Blättern der Bäume.


    Diodon öffnete die Augen.


    Verschwunden war die Behausung des Druiden, als hätte sie niemals existiert.
    Dafür stand eine gewaltige Buche an dieser Stelle, die sie vorher noch nie gesehen hatte.
    Sie blickte an dem mächtigen Baum empor und flüsterte: „Ich wünsche dir alles Gute, Korjin!“


    Sie fühlte sich stark und von einer inneren Freude durchdrungen, auch wenn sie wusste, dass sie den Druiden niemals wiedersehen würde. Im Herzen würde er immer bei ihr sein, und wenn sie hier im Wald war, wusste sie, dass er über sie wachte. Gelöst ging sie den Pfad entlang, zurück zu der Lichtung, vorbei an dem Apfelbaum. Ihre Kopfhaut juckte noch immer, und versonnen strich sie sich über die Haare.
    Diodon ließ die Hand erstaunt sinken – eine Ranke hatte sich um ihre Finger geschlungen, entspross ihrem Kopf und lag der Länge nach warm und pulsierend auf ihrer Haut.


    Der Kuss des Druiden...


    Sie wusste nun, wer und was sie war.
    Dryade – ein Kind des Waldes.

  • ^^ Anmerkung der Autorin:
    Ich würde mich über eure Meinung zu meiner ersten, selbstgeschriebenen und veröffentlichten Fantasy-Story sehr freuen, da ich selbst nur schwer einschätzen kann, wie solch eine Geschichte bei euch ankommt :)


    Edit: bitte postet eure Meinungen nicht hier, sondern schickt mir eine Taube. Darüber freue ich mich genauso, und es beeinflusst unsere Jury nicht ^^


    Vielen Dank,
    Dio (die sich auf Meinungen freut!)

  • Tolle Geschichte Dio!


    Rest Per Taube^^
    (hat nich geklappt , per Mail hatte ich ehr gefunden:-)