Der Wald
Einer ihrer ersten Ausflüge in Simkea führte Diodon in den Dämmerwald.
Mit großen Augen schaute sie sich um, als sie den schmalen Pfad in den Wald hinein betrat. Da, wo sie herkam, gab es das nicht. Nicht so. Die Bäume, Sträucher und Gräser, das laute Zwitschern der Vögel, ab und an knackte es im Geäst. Welche Tiere sich in dem Dickicht verbargen, konnte sie nur erahnen.
Der Sonnenschein flutete die Lichtungen und zauberte ganz wundervolle Schattenspiele herbei. Immer tiefer lief sie in den Wald hinein und vergaß all ihre Ängste und Sorgen.
Tag und Nacht verbrachte sie im Wald.
Bald wusste sie genau, welcher Baum zum Klettern geeignet war. Wo die Eichhörnchen schliefen und ihre Jungen aufzogen. Wo Spechte nisteten und wo die Bienen wohnten, die sie anfangs so zerstochen hatten. Die Rehe stieben nicht mehr auseinander, wenn sie lautlos zu ihnen trat. Und wenn sie eines von ihnen erlegte, erkannte sie genau, welche Mutter gerade säugte und welches Tier schwach oder lahm war. Das Fleisch tauschte sie in der Stadt gegen Essen, die Felle gegen Kleidung und Schuhe. Es gab kaum etwas, das unnütz und nicht verwertbar gewesen wäre.
Die Simkeaner in der großen Stadt Trent nahmen sie freundlich auf und auch bald unter ihre Fittiche.
Sie lernte durch ständiges Ausprobieren, wie man aus Wolle erst Garn und dann auch Stoff herstellte. Nach und nach gingen ihr all diese Tätigkeiten leicht von der Hand, und sie schlief auch häufig in der Stadt. Doch der Ruf des Waldes ließ nie lange auf sich warten. Dann musste sie wieder hinaus, die Mauern und das Stimmengewirr hinter sich lassen und durch den Wald streifen. Manches Mal saß sie einfach still in einer Astgabel und fütterte die Eichhörnchen mit Apfelkernen. Sie genoss das Gefühl der rauen Borke des Baumes unter sich und die Freiheit der Wipfel und des Himmels über sich. Nie war sie sich selbst so bewusst wie in diesen Momenten und dann wurde ihr klar, dass sie nur ein Teil des großen Kreislaufs war.
Eines Tages, als sie wieder ihren Lieblingsbaum aufsuchen wollte, war ihr, als ob ganz plötzlich noch mehr Pfade durch den Wald führen würden. Warum war ihr das nie aufgefallen?! Neugierig rannte sie los, wieder einmal alles um sich herum vergessend. Der Wald erschien ihr mit einem Mal riesengroß und ihre Herz klopfte aufgeregt. Bald wusste sie nicht mehr, wo sie war, doch das machte nichts. Sie war sicher, ihr würde nichts geschehen.
Den ganzen Tag dauerte ihr Streifzug, doch noch immer war keine Waldgrenze auszumachen. Sie kletterte mal auf diesen, mal auf jenen Baum, doch selbst vom höchsten Wipfel aus sah sie nur mehr die Baumkronen. Als es dämmerte, wurde ihr klar, dass sie wohl einige Tage brauchen würde, um alles zu erkunden. Sie machte sich auf die Suche nach einer geschützten Stelle, an der sie die Nacht verbringen konnte. Doch es wurde immer dunkler und sie fand nichts, was ihr geeignet erschien.
Mal stachen sie spitze Dornen, wenn sie sich niederlassen wollte, dann knurrte ein Wolf mit leuchtenden Augen in der Dunkelheit. So sehr sie sich auch bemühte, sie fand einfach keine Ruhe. Die Nacht war nun vollends hereingebrochen und sie sah kaum mehr die Hand vor den Augen. Zweige peitschten ihr ins Gesicht, zu allem Überfluss begann es noch zu regnen. Den Umhang hatte sie natürlich zu hause gelassen. Es schien ihr bis zu diesem Moment unmöglich, dass sie jemals in ihrem Wald frieren und nass werden würde! Nun wurde ihr doch etwas mulmig zumute. Den Goblins wich sie furchtsam aus, doch immer wieder geriet sie ins Stolpern. Als sie auf einen spitzen Stein trat und ihre Schuhe dabei zerriss, war sie mit ihren Kräften am Ende. Dumpf grollte Donner durch die Nacht und ließ sie erschaudern. Blitze zuckten über den Himmel, grell und bedrohlich, und das Prasseln des Regens auf den Blättern wurde immer lauter. Der Boden verwandelte sich in Matsch, die dünne Laubschicht darauf barg keine Sicherheit mehr. Immer häufiger fiel sie hin und ihre Kleidung klebte kalt, nass und schlammig an ihrem Körper. Es kostete sie Mühe, sich wieder und wieder aufzurappeln.
Diodon war verzweifelt. Als sie wieder im Schlamm ausrutschte und hart auf den Boden schlug, gab sie auf. Tränen liefen ihr über das Gesicht, als sie mühsam zwischen zwei Baumstämme kroch und sich fragte, warum ihr nur noch trübe Gedanken durch den Kopf gingen und sie sich in „ihrem“ Wald überhaupt nicht mehr sicher fühlte.
Plötzlich brach die Erde unter ihr weg. Noch während sie fiel, versuchte sie, sich an am Erdreich, an Steinen oder Wurzeln festzukrallen. Doch alles, was sie griff, löste sich und fiel mit ihr immer weiter in die Tiefe. Scharfe Steinchen schrammten ihre Haut, und als sie endlich liegenblieb, tat ihr alles weh. Zerschunden rappelte sie sich auf und bewegte vorsichtig ihre Glieder.
Glücklicherweise hatte sie sich nichts gebrochen. Auch sehen konnte sie noch, stellte sie beim vorsichtigem Öffnen ihrer Augen erleichtert fest. Zwar herrschte hier nur mehr Zwielicht, doch nach einiger Zeit gewöhnten sie sich an diese Beinahe-Dunkelheit. Sie schaute sich um und versuchte, nicht in Panik auszubrechen. Bestimmt vier Schritt über ihr erkannte sie das Loch, durch welches sie gefallen war. Sie hörte von oben das Gewitter toben, doch hier unten war es kühl und klamm. Nun, jetzt war sie vor den Blitzen und dem Regen geschützt, versuchte sie sich ganz optimistisch vor Augen zu führen.
Die Grube schien auf den ersten Blick gar nicht groß, vielleicht drei Schritt von einer Wand zur anderen. Sie beschloss, die Wände abzutasten und zu überlegen, an welcher Stelle sie am ehesten wieder nach oben gelangen würde. Der Rucksack blieb dort, wo sie startete, und vorsichtig tastete sie sich an der Erdwand voran.
Die Wände bestanden aus Erde, so viel war klar, aber so glatte Erde hatte sie noch niemals gefühlt oder gesehen. Ob diese Höhle gar nicht natürlichen Ursprungs war? Hatte jemand hier gegraben? Nach ungefähr der Hälfte des Weges stieß sie auf eine Vertiefung, fast sogar ein enger Tunnel, welcher noch weiter hinein ins Erdreich führte. Zögernd ging sie in die Hocke und versuchte, hineinzuschauen. Das spärliche Licht reichte jedoch einfach nicht aus. Sie konnte nichts außer Schwärze erkennen. Nun, vielleicht ein Tierbau? Sie wusste es nicht und wollte sich schon wieder erheben, als sie ein leises Geräusch vernahm. Erschrocken hielt sie die Luft an und lauschte. Da, wieder – ein leises Stöhnen. Sie war sich nun ganz sicher.
Leise flüsterte sie in den Tunnel: „Hallo! Hallo, wer ist da?“
Als Antwort ein weiteres Ächzen, doch scheinbar mit mehr Anstrengung als zuvor. Lag etwa jemand in diesem engen Loch?! Ohne zögern legte sie sich auf den Bauch.
„Ich komme, ich hole dich heraus, hab keine Angst.“
Sie robbte auf dem Bauch in den Tunnel, die Hände tastend vorgestreckt. Weit war sie nicht gekrochen, da fühlte sie zwischen ihren Fingern dürre Äste. Als sie sie beiseite schob, schoss ihr durch den Kopf, dass vielleicht auch etwas nach ihr rief, was ihr nicht wohlgesonnen sein könnte. Und ihr wurde außerdem klar, dass sie gerade bis zur Taille auf dem Boden liegend in einem sehr engen Loch steckte. Aber dieses klägliche Stöhnen, welches sie nun erneut vernahm, ließ sie ihre Zweifel vergessen. Wenn dort jemand in Not war, würde sie helfen! Sie tastete sich weiter und bekam etwas Festes zu greifen. Noch einmal flüsterte sie: „ganz ruhig, hab keine Angst, ich hole dich hier raus!“.
Sie griff nach dem Festen, ließ erschrocken los, nur um dann noch kräftiger zuzupacken. Schultern und Arme. Tatsächlich, hier lag jemand lebendig begraben! Sachte schob sie ihre Hände unter die Achseln des Wesens und zog es zu sich. Sie robbte ein Stück zurück, zog, rutschte wieder zurück. Nur noch ein kleines Stück, dann hatte sie es geschafft. Endlich konnte sie sich aufrichten, und sie zog den Körper vollends aus dem schmalen Tunnel. Die Anstrengung ließ sie keuchen, doch sie wollte jetzt auf keinen Fall mehr aufgeben. Bald hatte sie auch die Beine aus dem Loch gezogen, und die Proportionen ließen auf einen Menschen schließen. Es war klar, dass von diesem Menschen hier keine Gefahr ausging.
Regungslos und schwer hing er in ihren Armen, sein Atmen ging rasselnd und unregelmäßig.
Sie zog ihn in die Mitte der Höhle, holte Wasser aus ihrem Rucksack und zerriss ihren Rock in schmale Streifen, um den Menschen zu säubern. Unter dem Dreck kam ein männliches, markantes Gesicht zum Vorschein. Ein dunkler, zottiger Bart verdeckte Lippen und Kinn, doch die Augenlider des Mannes flatterten. Leise sprach sie auf ihn ein, während sie ihn wusch und ihm dann vorsichtig einige Schlucke Wasser einflößte. Es ging nur mühsam und langsam von statten, doch endlich hatte er einen Becher frischen Wassers geleert. Sie bettete seinen Kopf auf ihren Schoß und wachte über ihn, bis der Tag anbrach. Noch mehrfach hatte sie versucht, ihn anzusprechen, doch er befand sich in einem so schlechten Zustand, dass er nicht antworten konnte. Ab und an hustete er kläglich, und immer wieder hielt sie ihm den Becher an die Lippen, damit er etwas trinken konnte. Sie hatte noch ein bisschen Obst bei sich, und so schälte sie mit ihrem Messer den Apfel sorgsam, nahm die Kerne heraus, schnitt ihn ganz klein und gab ihn mit einigen Blaubeeren und Erdbeeren in den leeren Becher. Mit einem Stock zerstieß sie das Obst zu einem groben Brei. Der Mann hatte noch immer nicht die Augen geöffnet, doch auch den Brei ließ er sich füttern und schluckte ihn mit zusammengekniffenem Gesicht hinunter.