Krutz und der Windgeist

  • Selbst die schlimmste Lage schien ihre heiteren Momente zu besitzen. Isimud hatte diese Erfahrung bereits als kleines Kind gemacht: Wenn er und sein Zwilling krank das Bett hatten hüten müssen, hatte es manchmal etwas Besonderes zu Naschen gegeben. Waffenknechte der Familie, die von den neuen Herren zu tödlichen Arenaspielen einberufen wurden, hatten sich allen Ernstes darauf gefreut, einmal im Leben aus dem Tal im Delta des mächtigen Buranum-Stroms heraus und in eine große Stadt zu kommen. Selbst die Sklaven auf den Feldern des elterlichen Guts hatten bisweilen miteinander gescherzt (und damit war nicht das Dauergrinsen gemeint, das sie zur Schau trugen, wenn sie sich nach ihrem Erschöpfungstod in die Reihen der Skelettkrieger, die die Urkhart´schen Besitzungen schützten, einreihten).
    So erging es an diesem Morgen auch dem Verbannten. Die Sonne war noch nicht über den Horizon getreten, doch war ihre Ankunft bereits zu erahnen. Dies war die Stunde der Diebe – Isimud gedachte sie zu nutzen.
    “Wir sind Vogelfreie, Krutz!” sprach Isimud verschwörerisch zu dem Goblinkind. “Feinde der Menschheit!” Er beugte sich zu seinem Schützling hinunter. “So wie Piraten, nur eben auf dem Land!”
    Krutz kicherte. Ohne den Übersetzunsgzauber verstand das Kind kein Wort von Isimuds Rede, doch der Tonfall munterte es auf.
    “Weißt du, was wir jetzt tun? Wir stehlen die Äpfel aus dem Hain!”


    Um ganz Trent herum wuchsen Apfelbäume. Sie gehörten der Stadt, also gleichzeitig niemand und jedermann. Die Trenter Bürger durften jederzeit von diesen Bäumen pflücken. Ob das auch noch für einen Verbannten galt, wagte Isimud zu bezweifeln.
    “Komm! Hier geht´s lang!”
    Das Kind hinter sich herziehend, rannte Isimud die letzten Meter bis zu den Bäumen. So früh am Morgen befand sich noch kein Obstpflücker hier draußen. Lediglich ein paar Jugendliche kaum jünger als Isimud selbst schliefen tief und fest unter den Bäumen. Sie hatten am gestrigen Abend Äpfel geerntet und dabei entweder ihre Kräfte überschätzt. Möglicherweise sahen es auch als eine Mutprobe an, die Nacht im Hain zu verbringen.
    Volle Körbe mit Äpfeln standen neben den Jugendlichen. Krutz wollte darauf zu eilen und sich bedienen, doch der Windgeist hielt ihr Handgelenk fest.
    “Nicht von den Kindern!” rügte er das Mädchen. Dabei warf er allerdings einen Seitenblick auf die Proviantbeutel der jungen Obstpflücker. Ob da vielleicht einer Isimuds Lieblingsspeise, Windbeutel, bei sich trug? So bald würde ihm niemand wieder welche backen. Da durfte, nein, da musste man zugreifen, solange sich die Gelegneheit bot! Und er würde den solcherart Bestohlenen ja auch etwas ähnlich Wertvolles in die Beutel stecken, nahm sich Isimud vor.
    Glücklicherweise hatten ihre Eltern die Jugendlichen nicht mit derartigen Leckerbissen ausgestattet, so dass die Moral des Verbannten in dieser Hinsicht nicht auf die Probe gestellt wurde.

    Isimud deutete auf die Äste, an denen bereits wieder saftige rote Früchte zu reifen begannen. “Die holen wir uns!”
    Krieger und Goblin reckten sich, um an die untersten Äste zu gelangen. Sie sprangen aus dem Stand nach den Früchten und wetteiferten, wer wohl einen Apfel mit einem Steinwurf vom Ast zu schlagen vermochte. Schließlich hob Isimud die kleine Krutz auf die Schulter und sie biss vor Übermut von einem Apfel ab, während der noch am Ast hing. Eifrig knabberten die Goblinzähne rundherum, bis am Ende nur noch ein Kerngehäuse hängen blieb.
    Stolz zeigte das Kind dem Windgeist sein Werk. Isimud grinste, doch da bemerkte er, dass sich die Schlafenden zu rühren begannen.
    “Los, weg hier!”

    Mit ihrer Beute machten sich die beiden “Vogelfreien” davon.
    Nachdem sie eine Weile gerannt waren, liefen sie in normalem Tempo weiter, dabei in ihre gestohlenen Äpfel beißend. Isimud verspeiste seinen mit Griebs und allem, Krutz hingegen zupfte sorgsam eine fette Made aus ihrem heraus, um diese erst als Nachspeise zu verputzen.
    Die Sonne kam allmählich über den Horizont. Es versprach, ein angenehmer Tag zu werden und so schritten Isimud und Krutz beschwingt und guter Dinge aus.

    Nachdem sie eine Weile so gewandert waren, stellte sich die Frage: Wohin nun?

  • ENDE
    Nein, nicht wirklich, 14 Kapitel sind´s schon noch - hoffe, der eine oder andere bleibt bis zum Ende dran (büdde?).
    Aber in gewissem Sinne ist die Geschichte wirklich zuende, denn ich habe gerade die Rohfassung fertig geschrieben ^^


    Isimud und das Goblinmädchen wanderten nach Westen. Es hatte sich einfach so ergeben. Ohne es zu merken, hatte Isimud vom Obstheim aus den Weg zum Meeresstrand eingeschlagen. Hier hatte er als frisch in Simkea eingetroffener Flüchtling seine ersten Heller als Fischer verdient und natürlich auch für den eigenen Kochtopf geangelt. Lange her erschienen dem Krieger diese Zeiten nun, an die in der Gegenwart lediglich ein Ohrring in Form eines Fisches erinnerte. Keck baumelte das Schmuckstück von Isimuds Kopf, sein Maul ins rechte Ohrläppchen des Trägers verbissen, als habe sich beim Schnappen nach einem Köder am Angelhaken verhakt.
    Nun würde Isimud wohl oder übel seine vernachlässigte Anglertätigkeit wieder aufnehmen müssen, um sich zu ernähren. Noch trug der Verbannte eine professionell gefertigte Rute, einen Metallhaken, eine Auswahl Blinker sowie ein Messer mit einer Eisenklinge bei sich. Später würde er all dies aus Stein und Knochen improvisieren müssen, wie ihm auch eine einfache Keule die Waffe ersetzen musste.
    Bei dem Gedanken an die Waffen in seinem Gürtel stockte Isimud und hielt in seinem Marsch inne.
    Krutz blieb ebenfalls stehen. Die im Rücken der beiden allmählich aufsteigende Morgensonne kitzelte sie ihm Nacken und Krutz reckte ihren kleinen Körper vor Wonne.
    Isimud aber blickte sich um, obwohl er sich vorgenommen hatte, genau das nicht zu tun. Dort im Osten (und von seiner Warte aus auch über seinem Kopf), erhob sich das stolze Trent über das Meer. Erhoben hatte sich allerdings auch jemand anders…
    “Ich habe nie wirklich die Stadtbewohner schützen wollen”, flüsterte Isimud. “Jedenfalls nicht in erster Linie. Ich kämpfte immer nur für meinen eigenen Stolz. Genau wie ein Goblin auch bloß!”
    An jenem Tag gestand sich das der Krieger erstmalig ein. Die Erkenntnis lähmte seine Schritte, als er weiterlief, denn Isimud wusste nicht, wie er mit seinem neuen Wissen umgehen sollte. Ab und zu holte er eine der grauen Federn, die er sich kurz nach seiner Begegnung mit Krutz ausgemausert hatte, hervor und spielte gedankenverloren damit.

    Schließlich erreichten die beiden Wanderer den Strand. Meilenweit weißer Sand, im Sonnenlicht blinkende Muschelschalen und sogar eine kleine Anlegestelle lockten mit dem Versprechen auf endlose Stunden Strandvergnügen! Doch wenn man ein Verbannter war und noch dazu einen Goblin zum Begleiter hatte, in diesem Fall umging man diesen Bereich lieber und suchte sich eine von hohem Strandgras und Dünen vor neugierigen Blicken abgeschirmten Stelle zum Baden.
    Nachdem Isimud und das Kind geschwommen waren, warfen sie sich in den Sand und blieben dort liegen wie die Heringe, welche die Fischer zum Trocknen in die Sonne legten. Krutz bewies dabei die größere Ausdauer und dämmerte auch gleich noch zu einem Mittgasschläfchen weg.
    Isimud nutzte die Zeit zu einer kleinen Bastelei: Vorsichtig nahm er seinen Ohrring ab und flocht die Federn hinein, so dass ein etwas größeres, aber noch immer bequem zu tragendes, Gehänge entstand. Nun wusste er dadurch zwar immer noch nicht, wie er sich in Zukunft verhalten sollte, doch das Gebammel würde ihn zumindest stets an seine Erkenntnis bezüglich seines Wesens erinnern.

    Gegen Abend kehrten die beiden an den ausgebauten Strandabschnitt zurück.
    Damals gab es noch weitaus weniger befestigte Rastplätze als heutzutage. Isimud und Krutz verbrachten die erste Hälfte der Nacht daher in zwei Strandliegen, wobei der Verbannte gefühlt jede Stunde wieder aufwachte. Die beiden ergriffen die Flucht vom Strand, noch bevor die Fischer gegen Ende der Nacht hier ankamen. Denn obwohl es ihm nicht verboten war, jeglichen Unterstand im Umland der Stadt zu benutzen, wollte Isimud nicht gesehen werden.

    Ihr Windgeist mochte das Meer, soviel begriff Krutz. Aber Goblins mochten das Meer nicht! Und so freute es das Mädchen sehr, dass der Geist am zweiten Tag ihrer Reise den Weg nach Osten einschlug. Nicht in die befestigte Menschensiedlung zurück, sondern daran vorbei und schnurstracks weiter in Richtung der Berge. Isimud hoffte, dort in einer natürlichen Höhle Unterschlupf zu finden. Fischen für den Lebensunterhalt lies sich in den Gebirgsbächlein ebensogut wie am Meer und wenn es ihm zu einsam werden sollte, konnte er seine Freunde die Bergleute besuchen.

  • Obwohl er keinen anderen Weg nahm als schon so oft zuvor, und sein Rucksack auch nicht praller gefüllt war, fiel die Wanderung zum Adoragebirge Isimud diesmal schwerer. Streckenweise schleppte er sich mühsam voran, während Krutz um ihn herum vor- und zurücksprang, mutig Krabbler aufklaubte, die bissen, und sich Krabbler, die nicht bissen, in den Mund steckte.
    Als die beiden gegen Mittag rasteten, fühlte sich Isimud so erschöpft, dass er nur schluckweise aus seinem Wasserschlauch zu trinken vermochte.
    Krutz schien keinen Durst zu haben. Sie rupfte eifrig Wildblumen aus dem Boden und zupfte deren Blütenblätter von den Kränzen.

    “Was mache ich nur mit dir”, seufzte der Verbannte. Als ob seine aktuelle Lage nicht schwer genug wäre, wanderten seine Gedanken in eine sechs Monate vor ihm liegende Zukunft. Wie sollte er den Städtern sein Anhängsel erklären? “So, da bin ich wieder, ich verspreche, niemand mehr abzumurksen, ach übrigens, ich habe da im Wald was gefunden...” etwa?! Wie die Trenter darauf reagieren würden, war ja wohl klar. Oder...?
    Was, wenn sie nun gar nicht den Goblin in Krutz sahen, sondern einfach nur ein Waisenkind? War dies denn nicht Simkea, die neue, bessere Welt? Isimud hätte seine Karten offen auf den Tisch legen sollen, dann wäre ihm die Verbannung womöglich erspart geblieben und jemand anderes hätte nun den Goblin am Rockzipfel. Doch diese Einsicht kam spät, womöglich zu spät. Und möglicherweise hätte sich Krutz ja auch nie an das Stadtleben gewöhnt. Im Wald hingegen schien sie sich bestens auszukennen, womöglich sogar in der Lage zu sein, auf sich allein gestellt zu überleben.
    Wieso eigentlich nicht? überlegte Isimud. Das ist ein Wesen des Waldes und gehört hierher.
    Daher erschien es das Vernünftigste, die Kreatur einfach auszuwildern!


    Er wandte sich dem Goblinkind zu:
    “Tjaaaaaaaa, Krutzilein, sieht so aus, als trennten sich unsere Wege hier... He, hörst du mir überhaupt zu?!”
    Natürlich hatte Krutz NICHT zugehört, wie denn auch, war sie doch nichts anderes als ein etwa vier- bis achtjähriges Kind und damit ebenso leicht abzulenken wie für etwas Neues zu begeistern. Einen Ort großer Macht hatte sie erblickt, dort, linker Hand, zwischen den Bäumen. Diesen wollte sie sich näher ansehen. Womöglich fand sich dort ja etwas, womit sich der Windgeist noch zuverlässiger an sie binden lies? So dass er jeden Befehl ausführte, ja, Krutzens Wünsche erriet und erfüllte, bevor sie sie aussprechen musste?
    Zügig, jedoch nicht seine Umgebung aus den Augen lassend, marschierte das Kind auf jenen Ort der Macht zu.
    “Krutz, nein!“ rief Isimud. „Bleib stehen! Nicht zur Segnung! Da landen wir alle noch früh genug!”
    Geist rauscht heftig... Will Windgeist aufhalten Krutz? Klingt so!
    Fachmännisch nickte das Goblinkind. Wenn der Geist nicht wollte, dass sie den Machtplatz aufsuchte, dann musste sich dort etwas befinden, das ihm schaden konnte. Und gleich würde sie es besitzen, sie allein! Ha! Ha und nochmals ha! Der würde sich wundern!

    “Wo rennst du denn schon wieder hin?!” rief Isimud entnervt. “Bleib gefälligst stehen, damit ich dich ordentlich aussetzen kann!”
    Krutz schwang nun selbstsicher die Arme beim Laufen und hatte begonnen, fröhlich zu pfeifen.
    “Stehen sollst du bleiben!!!” Isimud stampfte mit dem Fuß auf. “Wenn dir nun was passiert! - Ach, sinnlos, du hörst ja ohnehin nicht.”
    Die Lippen fest zusammengepresst und die Finger in die Träger seines Rucksacks eingehakt, stiefelte der Verbannte seinem Schützling hinterher.
    Linker Fuß, rechter Fuß, linker Fuß...
    “Da, schau mal, die schönen Schmetterlinge!”
    Waaas?! Wieso habe ich das jetzt gesagt? Bin ich die Mutter von dem Biest oder was?!

  • Soeben war Krutz noch forsch ausgeschritten und hatte dem Rauschen des Windgeistes gelauscht. Doch unvermittelt stockte sie in ihrem Lauf. Denn der Macht-Ort besaß einen Wächter und dieser Wächter war so grauenvoll in Erscheinung und Zauberkraft, dass allein sein Anblick das Goblinmädchen einfach nur paralysierte.
    Zwischen ihr und dem Ort der Macht schwebte ein Teufel in der Luft, eine Kreatur, die aus unzähligen Flügeln, Fühlern und Augen bestand, aber keinen richtigen Körper besaß. Ohne Unterlass schlugen die Flügel, und obwohl sich jedes einzelne Fühlerpaar in eine bestimmte Richtung ausrichtete, wusste man nie, wohin sich denn nun das Wesen als Ganzes wenden würde. Es sah alles, war überall und verwirrte den Betrachter durch ein Konglomerat aus grellen Farben.
    Goblins nannten diesen Teufel “Der Flattrige”. Sie flohen, wo immer sie seiner ansichtig wurden.

    Inzwischen hatte der Windgeist aufgeholt und stand nun an Krutzs Seite. Dass das Kind vor Angst schlotterte, entging ihm nicht.
    “Na? Aus der Nähe betrachtet ist die Segnung ganz schön beeindruckend, was? Aber keine Sorge! Das ist eine gute Macht.”
    Genau wie eine andere Steinstatue, an die sich Isimud in diesem Moment erinnerte... Er schmunzelte.
    Krutz entspannte sich kein bißchen.
    “Aber du musst da ja auch gar nicht hin!” erklärte Isimud. “Komm, lass uns weitergehen.”
    Als das Kind sich immer noch nicht regte, begriff der Verbannte, dass er seinem Schützling erst wieder Mut einflößen musste. Seufzend entnahm Isimud einen der am Vortag “gestohlenen” Äpfel aus seinem Gepäck. Diesen teilte er mit einem Messer in zwei Hälften, von denen er die eine an Krutz weiterreichte. Doch das Kind dachte nicht daran, zuzugreifen. Unverwandt starrte es auf die flattrigen Schmetterlinge, die sich hier im lichten Wald tummelten.
    “Ach so, die haben es dir angetan! Haha!” lachte Isimud. Offenkundig hatte das Goblinmädchen die Segnung schon wieder vergessen. “Wollen wir sie mal anlocken?”
    Isimud quetschte den Fruchtsaft aus der einen Apfelhäfte. Er lies ihn sich über die Finger laufen und hielt dann, winzige, sachte Schritte nehmend, auf die Falter zu, dabei die mit dem klebrigen Saft besudelte Hand nach vorn ausgestreckt. Kurz vor dem Schwarm hielt er inne. Nun brauchte es etwas Geduld...
    Und tatsächlich, bereits nach kurzer Zeit fanden sich ein, zwei, drei Schmetterlinge bereit, sich auf der Hand des Zweibeiners niederzulassen.
    Für einen Moment waren alle Sorgen in den Hintergrund gedrängt, ja, nichtig. Auch nach vielen Monaten in Simkea hatte das Füttern von Spatzen - oder eben wie heute Flattrigen Schmetterlingen - nichts von seiner Faszination eingebüßt. Isimud ahnte, dass er in dieser Beziehung selbst im hohen Alter stets das Flüchtlingskind aus Noröm bleiben würde, das staunend durch das Trenter Umland stapfte. Die Reinheit dieses Landes vermochte auch ein stinkender Goblin nicht zu stören. Oder ein nicht wesentlich weniger stinkender Sohn eines Nekromanten wie er selbst. In ihnen beiden war das Monster angelegt – Isimud hatte seine Vergangenheit als Kreatur des Schattens hinter sich gelassen, wieso sollte das nicht auch Krutz gelingen? Goblins und Anthronen taten wohl das Werk des Bösen, aber sie waren nicht von Geburt an befleckt!

    Mit dieser neuen Erkenntnis im Kopf wandte sich Isimud zu seiner Begleiterin um. Doch noch immer trat diese keinen Schritt näher auf die Segnung zu, trotz der fröhlich-bunten Schmetterlinge. Isimud beschloss daher, einfach mit seinen Passagieren zu dem Kind zurückzukehren. Diese tolerierten die „Entführung“, solange es noch genügend Fruchtsaft von den Fingern des Zweibeiners zu saugen gab. Krutz jedoch wich furchtsam zurück.
    Isimud lachte, als ihm aufging, was hier eigentlich los war: “Ach so, dich gruselt vor den Schmetterlingen, wie manchereinem vor Spinnen! Haha, na, dann zeige ich dir den Kleeblatt-Trick lieber gar nicht erst!”
    Isimud wartete, bis seine Gäste sich genügend an dem Apfelsaft gelabt hatten, dann lies er sie mit einem Gruß wieder fliegen.

    Da stand er nun wieder seinem Goblinbegleiter gegenüber, bereit, mit der Kleinen in die große weite Welt zu ziehen. Dabei hätte es nur eines einzigen Flattrigen Schmetterlings bedurft, um Krutz für immer los zu werden!
    Isimud dachte an seine Gedankenspiele vor dem Zwischenfall mit der Segnung und den Flattrigen zurück, als er das Mädchen hatte aussetzen wollten. Weil sie ja in den Wald gehörte. Er schämte sich dieser Gedanken nun. Denn ein “Wesen des Waldes” zu sein, schloss ein, an den Gefahren desselben zugrunde zu gehen. Allein die Vorstellung, dass der kleine Goblin einem Wolfsrudel zur Mahlzeit dienen könnte, schnürte Isimud die Kehle zu.
    “Ich bin eigentlich kein Kinderfreund, weißt du?” erklärte er seinem Schützling. “Die Kleinen machen mir Angst und die großen sind einfach nur lästig! Ich bin mir noch nicht mal sicher, ob ich dich leiden mag!”

    Krutz dachte überhaupt nicht. Sie fühlte nur heftig. Verflüchtigt hatte sich jegliche Anwandlung, den Windgeist binden zu wollen. Hatte er nicht dem schaurigen Flattermonster ein Stück aus dem Leib gerissen und dieses Fragment dann gezähmt? Einem Geist, der so mächtig war, dem gehorchte man aufs Wort und ohne Widerrede.
    Doch es war nicht nur das. Nicht allein Furcht, das Herrschaftsprinzip der Goblins, lies Krutz davon Abstand nehmen, gegen ihren Windgeist zu rebellieren. Er hatte sich ihrer angenommen und ihr so viele Dinge gezeigt, gar sein Leben im Willenskampf gegen den flattrigen Teufel für sie aufs Spiel gesetzt! Krutz besaß keine Begriffe für “Dankbarkeit” oder “Geborgenheit” in ihrer Sprache, daher vermochte sie diese neuen Gefühle auch nicht in Worten auszudrücken. Wozu auch, wenn eine feste Umarmung und ein dicker Schmatzer dasselbe aussagten!

  • Einige Tage waren vergangen. Auf ihrer Reise durch das Trenter Umland hatten Isimud und Krutz nun die Ausläufer des Adoragebirges erreicht. Die Pfade wurden schmaler, und führten immer öfter zwischen nebelverhangenen Abgründen auf der einen und steil aufragenden Felswänden auf der anderen Seite hindurch. Der Mischwald des Trenter Umlandes wich nach und nach einer reinen Nadelbaumkultur. Zudem war es hier oben merklich kühler - und gefühlt war es noch einmal ein wenig kälter. Da die hiesigen Bäume weniger dicht standen, fingen sie den Wind schlechter ab, so dass er scharf durch Krutz Lumpen und Isimuds Wanderkleidung fuhr.
    Als die beiden eines Tages schlotternd erwachten, wusste Isimud, dass es an der Zeit war, die guten Pelzkleider herauszuholen. Sich selbst warf er einen Fellumhang um, zog einen Rock aus Schaffell über seine Leggins und presste eine Filzkappe auf den Kopf. Krutz steckte er in eine Fellweste, die angesichts der Größe des Kindes diesem eine vollwertige Kutte ersetzte. Aus einem zweiten Filzhut und zwei Lederhandschuhen hatte Isimud eine Mütze geschustert, die auch die Goblinohren der Kleinen wärmte, ohne dabei das Gehör allzusehr zu beeinträchtigen. Wie lange das gute Stück halten würde, war fraglich, doch fesch sah es allemal aus. Jedenfalls fand Krutz das, wie sie Isimud nach einem Blick in den Gebirgsbach, an dem die beiden gerastet hatten, mitteilte: “Schick!”


    Wann sein Schützling dieses Wort aufgeschnappt hatte, wusste der Erwachsene nicht mehr zu sagen. Sicher war nur, dass Krutz sich das Simkeanische viel schneller aneignete als Isimud in der Lage gewesen wäre, Goblinisch zu erlernen. Simkeaner nutzten die unterschiedlichsten Worte, oftmals mehrere für sehr ähnliche oder gar denselben Sachverhalt. Goblins hingegen kamen mit weniger Vokabeln aus, da sie sehr viel über Betonung oder Körpersprache ausdrückten. Selbst wenn Isimud diese Kommunikationsform in ihrer Gänze verstanden hätte, so wäre seine Kehle noch lange nicht dafür ausgelegt gewesen, sich ihrer auch zu bedienen. Also lernte Krutz Simkeanisch - an diesem Tag bestand die Lektion aus einer ganzen Reihe von Flüchen und Schimpfwörtern. Nachdem die beiden nämlich weiter gewandert waren, stießen sie auf die Überreste eines Lagerplatzes. Wer immer hier gerastet hatte, schien es nicht eilig gehabt zu haben, aufzubrechen. Die Spuren deuteten auf einen geordneten Abzug in aller Ruhe hin. Dennoch lagen überall verstreut Fischgräten, Kirschkerne und sogar ein Tonbecher, durch den sich ein breiter Riss zog. „Lass liegen, tritt sich fest“ schien die Devise der Reisenden zu lauten.
    “!§$%&/?+*!” entfuhr es Isimud. “Wenn das so weiter geht, haben wir hier in spätestens einem Jahr ein Pumaproblem. Ist ja direkt eine Einladung zum Büffet...”
    Unter weiteren Flüchen erklärte der Monsterjäger, dass es sich bei Pumas um scheue Bergbewohner handelte. Normalerweise wichen sie den Zweibeinern aus, gab es bei ihnen ja nichts zu holen, für das man eines seiner neun Katzenleben aufs Spiel hätte setzen wollen. “Doch mit zunehmendem Reichtum und vor allem der Nachlässigkeit der Städter geschuldet”, erläuterte Isimud, “wird dieser Teil des Gebirges attraktiver für die Pumas. Dann legen sie ihre Scheu ab. Genauso ist es im Trenter Wald mit den Wahnsinnigen Würmern und den Ameisenspähern abgelaufen. Ich habe das selbst miterlebt!”
    Er musste seine Rede noch mehrfach umformulieren, bis Krutz sie in ihrer Gänze verstand. Geduldig suchte der Kämpfer nach Worten und Vergleichen, die den Sachverhalt einem Angehörigen der Goblinkultur verständlich machten. Erst als er sicher war, dass das Kind alles begriffen hatte, forderte Isimud es zum Weiterwandern auf.
    Doch sie hatten kaum die ersten zehn, zwölf Meter zurückgelegt, als Krutz die Ohren deutlich sichtbar spitzte. Auch Isimud meinte, etwas zu hören. Das Murmeln des Baches übertönte das Geräusch beinahe, doch waren da nicht Schritte zu ihrer Rechten?

    “Wen hat uns Sir Camulos denn da geschickt?” ertönte da plötzlich eine Stimme. “Eine Furie und einen Osterhasen?”
    Hinter einem Felsen rechter Hand traten zwei Männer hervor. Ihrem Aussehen nach handelte es sich um Bergleute aus dem Volk der Menschen. Isimud erkannte sie als zwei abenteuerlustige Gesellen, die sie sich hier am Bach als Goldsucher betätigten. Bisher waren die Versuche der beiden, aus dem Wasser des Baches Goldstaub zu waschen, nicht von Erfolg gekrönt gewesen.
    Isimud lachte! “Unsinn! Der „Hase“ ist ein Waisenkind aus dem Dämmerwald und ich bin Isimud Urkhart aus Trent...”
    “...abkommandiert, um die Steinmetze, Erzgräber und questenden Helden davor zu beschützen, die falschen Schneebälle aufzusammeln”, beendete der erste Goldsucher den Satz. “Die Sorte nämlich, die sich selber wirft!”
    “Wir ha´m übrigens gleich gewusst, dass du´s bist”, ergänzte sein Kamerad. “So wie du vorhin, so zetert nur eine östlich von Trent!” Der Mann schlug Isimud kameradschaftlich auf die Schulter. Lachend fügte er hinzu: “Unsere Isi - immer so höflich, so zuvorkommend, darauf bedacht, dass ja kein böses Wort fällt. Haha! Aber kaum isse eine Tagesreise fort von der Stadt, da schimpft sie wie ein Rohrspatz, sobald sich nur mal ihr Schnürsenkel löst!”
    “So sind wir wechselhaften Windgeister nun einmal”, erwiderte Isimud. Als die beiden Menschen daraufhin die Stirn runzelten, erklärte sie: “Das ist eine lange Geschichte für einen langen Abend mit viel Bier und...” bei den letzten Worten deutete sie mit dem Kopf auf ihre Begleiterin. “...Apfelsaft, der so lange geschüttelt wird, bis er schäumt wie Bier.”
    “Klingt gut. Du kochst?”
    “Na sicher!”
    Die beiden Goldsucher tippten noch einmal zum Gruß an ihre Mützen, dann begaben sie sich zum Bachufer, um ihre Arbeit wieder aufzunehmen.
    “Aber Recht hat sie”, hörte Isimud den ersten noch murmeln, “die Städter verschandeln das ganze Gebirge mit ihrem Unrat!”
    Isimud ergriff Krutzs Hand. “Komm, Krutz! Ich weiß, wo die beiden wohnen! Da gehen wir jetzt hin.”

  • Waren Isimud und Krutz bisher dem Wasser gefolgt, so verließen sie den Lauf des Baches nun und schlugen sich tiefer in den Gebirgswald. Das Lager der Goldsucher war leicht zu finden. Wozu es auch verbergen? Im Adoragebirge musste man sich nicht vor Räubern oder intelligenten Monstern fürchten und gegen unerwünschte Besuche wilder Tiere half ein helles Feuerchen zuverlässiger als jede Waffe oder von Menschenhand gemachte Tarnung.
    Unter einem Felsüberhang hatten die beiden Männer ihre Küchengeräte und eine gemütliche Sitzecke aufgebaut. Ein kleines, freistehendes Regal bewahrte allerlei Kleinkram sowie einige ältere Ausgaben des Trenter Boten.
    Das Zelt der beiden Menschen stand ein wenig weiter abseits, damit die darin Schlafenden nicht etwas bei einem plötzlichen Steinschlag Leben ließen.
    Ebenfalls abseits, jedoch noch immer im Schutz des Lagers, stand der Taubenschlag, in dem drei Brieftauben nisteten. Simkeanische Brieftauben waren, so wusste Isimud, im Gegensatz zu ihren anderweltlichen Verwandten auf den Mann dressiert. Einmal freigelassen kehrten sie nicht zu ihrem Schlag zurück, sondern machten zielsicher den Empfänger der ihnen anvertrauten Botschaft ausfindig, um erst danach in ihren heimatlichen Schlag zurückzukehren. Es musste Magie in diesen Tieren stecken, wie in so vielem in diesem Land!
    Für einen Moment empfand Isimud Neid auf seine/ihre* Begleiterin. Denn genaugenommen war Simkea Krutzs Land, nicht ihres. So gekonnt Isimud auch mit der in ihrem Stab gebundenen Zaubermacht um sich schießen mochte, wie sicher sie die Wildnispfade beschreiten mochte, sie blieb der Fremdling hier. Kein unwillkommener Fremdling, befand sie sich ja in Gesellschaft anderer Noröm-Flüchtlinge, aber dennoch nicht Teil dieser Welt wie es die kleine Krutz war.
    Wenn ich schon meine, den Wald leise zu mir singen zu hören, wieviel deutlicher muss sie es erst hören? Und was sind diese Geister, von denen sie spricht? Nun, ich bin schonmal keiner, aber nur, weil sich die Kleine in mir irrt, heißt das ja nicht, dass es nicht wirklich echte Naturgeister gäbe. Ich darf mir nicht anmaßen, das als Aberglaube abzutun.

    Nachdem die Wanderer ihr Gepäck abgelegt hatten, verschaffte sich Isimud einen Überblick über die vorhandenen Vorräte. “Die gute Nachricht ist”, meinte sie zu Krutz, “dass wir den halben Tag Zeit haben, aus den Zutaten hier etwas Genießbares fürs Mittagessen zu zaubern. Die schlechte ist, dass es mit den einfachen Mitteln, die wir hier nur haben, auch wirklich so lange dauern wird.” Sie rieb sich die Hände. “Also gut, packen wirs an. Bringst du mir den Kessel?”
    Mit Feuereifer spurtete Krutz los. Gern wäre sie ihrem Windgeist-Freund zur Hand gegangen, doch musste sie vor dem schieren Gewicht des gewünschten Objekts kapitulieren.
    Isimud ihrerseits lachte, als sie sah, was das Goblinmädchen da zu stemmen versuchte: “Nein, doch nicht Hams Sessel! Den Kessel! Sessel haben vier Beine und Kessel... naja, genaugenommen können die auch Beine haben, aber...” Isimud merkte, dass sie den Faden hoffnungslos verloren hatte. So holte sie den Kessel selbst herbei.
    “Die beiden Männer, die wir heute kennengelernt haben, heißen Patt und Ham”, erklärte sie dem Kinde dabei. “Sie sind herzensgut, aber ein bißchen einfach gestrickt...”

    “Herzensgut, aber ein bißchen einfach gestrickt”, wiederholte Patt unterdessen am Bach. Nur mit dem Unterschied, dass der Goldsucher sich dabei auf Isimud bezog. “Oder glaubst du die Geschichte mit dem Waisenkind etwa?”
    “Das sie im Dämmerwald gefunden haben will? Kein Stück! So weit oben gibt´s keine Siedlung mehr, da findet man höchstens nen Goblin. Außerdem ist Isi ein Kinderfeind. Die hätte ein Findelkind eher bei Marry in den Briefkasten gequestscht, anstatt es selbst zu behalten!"
    “So sehe ich das auch. Ich denke, das Kleine ist ihr eigenes. Sie hat nicht aufgepasst und schwupps, neun Monate später, Mama.”
    “So wird´s sein.“ Ham richtete seinen Oberkörper auf. Er legte die Goldwaschpfanne ab, wischte sich den Schweiß von der Stirn und meinte dann zu Patt: „Du, ich war ja baff, wie groß das Gör schon ist! Ich meine, ich wusste zwar schon vorher, dass diese Anthronen aus Eiern oder Kokons oder sowas schlüpfen und dann schon sprechen und laufen können... aber es mit eigenen Augen zu sehen, das ist was ganz anderes!”
    “Stimmt. - Was meinst du, Ham, wer ist der Vater?”
    “Hm - Sir Camulos?”
    “Nein, kann ich mir nicht vorstellen. Klar, sie sagt dauernd Camulos hier, Camulos da, aber wie sie von ihm spricht, sieht Isi ihn eher als einen Ersatzvater. Ich denke, es war irgendjemand in ihrem Alter!”

    Während Patt und Ham Wetten auf den Vater von Isimuds vermeintlichem Sprössling abschlossen, köchelte in ihrem Lager unter dem Felsüberhang eine dicke Fischsuppe. Isimud war mit der Zubereitung des Hauptgangs beschäftigt und Krutz spielte Fischgrätenmikado (Genaugenommen spielte man Mikado ja mit lebendigen Sprotten, die noch zappelten, doch das hatte ihr der Windgeist streng verboten).
    Die Schuld, beinahe einen unschuldigen Menschen getötet zu haben, und das damit einhergehende Verbannungsurteil waren zwar nicht vergessen, aber für den Moment weit in den Hintergrund von Isimuds Bewusstsein getreten.


    *... Wie schon mal im Tagebuchthread erwähnt empfinden die meisten Bergleute Isi als weiblich.

    Fairness ist nicht, allen die gleichen Chancen auf Zieleinlauf zu geben, sondern dafür zu sorgen, dass jeder ankommt.


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    Und das Simsblog auch.

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  • Pünktlich zum Mittag kehrten dann auch Patt und Ham ins Lager zurück.
    „Na, etwas gefunden?“ begrüßte Isimud die beiden.
    Ham nickte. „Einen Brocken Baumharz mit einem Krabbler drin, eine Handvoll wilde Beeren und ein halbes Dutzend verschossene Pfeile eines Jägers.“
    „Nur kein Gold…“
    „Ach was! Wer braucht schon Gold, wenn er seine Freiheit hat. Der Bach gibt uns alles, was wir brauchen und was wir nicht benötigen, verkaufen wir in Trent. Ist allemal besser als die Plackerei als Johnnys Gehilfen vor Zeiten.“
    Isimud nickte zustimmend. Sie verstand die beiden Männer nur zu gut, hatte sie es ja selbst zu nichts gebracht im Leben. Zwar besaß Isimud in gleich zwei Berufen einen anerkannten Meistertitel, doch in diesen Berufen zu arbeiten, kam ihr nur dann in den Sinn, wenn es wirklich unumgänglich war. Andere Flüchtlinge legten einen dem einstigen Burgfräulein wesensfremden Geschäfssinn an den Tag, sie rechneten in Goldmünzen, betrieben Marktstände und beschäftigten ihre eigenen Arbeiter. Unter ihren Händen wuchs Trent in alle Richtungen und so mancher einfache Arbeiter lebte in Verhältnissen, die sich nicht von denen der adligen Urkharts mit ihrem Rittergut unterschieden. So sehr die Kriegerin den Wohlstand und die Sicherheit zu schätzen wusste, das damit einhergehende emsige Treiben würde ihr vermutlich nie zusagen.
    Krutz, über deren Kopf der kurze Austausch hinweggegangen war, streckte die Finger nach dem glitzernden Bernstein aus. „Krorlie!“ rief sie begeistert.
    Ham zog seine Hand zurück, dann lies er das Kleinod vor Isimuds Nase baumeln. „Kaufst du´s für deine Kleine?“
    „Kaufst du das Mittagessen, das auf dem Tisch steht?“ erwiderte diese.
    „Haha! Gut gegeben. Da – nimm!“ Mit diesen Worten warf der Goldsucher Isimud das Steinchen zu. „Was gibt´s denn Gutes heute?“
    „Zuerst Suppe, dann Fischbällchen mit dicken Kartoffeln und gehäckseltem Grünkraut. Und zum Nachtisch süße Blaubeerpfannis.“
    „Ich seh schon, du willst in Wirklichkeit gar nicht uns, sondern die Pumas füttern“, scherzte Patt. „Indem du uns für die lieben Tierchen kugelrund mästest!“
    Lachend nahm die Gruppe am Tisch Platz. Patt hatte so Unrecht nicht. Isimuds Menü hätte einem hart arbeitenden Bergmann gerade so die am Vormittag verbrauchte Kraft zurückgegeben. Die beiden Goldsucher hingegen hatten die Arbeit nicht gerade erfunden und kamen viel weniger hungrig als ihre Kollegen, dafür aber mit demselben Appetit, heim.

    Während sich die vier über das Essen hermachten, fragten Patt und Ham ihren Gast nach Neuigkeiten aus dem Westen des Landes aus.
    „Jemand hat den Häuptling der Goblins im Dämmerwald erschlagen“, gab Isimud Auskunft. „Und in Trent gab es einen Gerichtsprozess wegen fahrlässiger Körperverletzung. Der Angeklagte wurde aus der Stadt verbannt.“
    „Alle Achtung!“ entfuhr es Patt. „Den Goblinhäuptling erschlagen, sagst du? Komm, sag, warst du das etwa selbst?“
    „Nein. Aber ich habe trotzdem etwas aus seinem Hort bekommen.“
    „So? Was denn?“
    „Seine Tochter.“
    „Häh?“ entfuhr es Ham und auch Patt setzte keinen besonders intelligenten Gesichtsausdruck auf. „Warte mal… soll das heißen…“ War das von den Zehen bis zu den Ohrspitzen eingemummelte Kind an Isis Seite etwa besagte Häuptlingstochter? Wieso würde ausgerechnet Isimud sie aufgenommen haben? Doch nicht etwa, weil sie das gemeinsame Kind von Goblin und Monsterjäger war? „Hast du etwa mit dem Goblinhäuptling rumgemacht, Isi?!“
    Isimud schüttelte sich vor Unbehagen. „Nein! Igitt! Ich würde doch nie mit nur einer halben Person…“ Sie errötete, als sie begriff, gerade ihre beiden Freunde beleidigt zu haben. „Öhm, entschuldigt bitte. Ich wollte sagen, es wäre mir unangenehm, mit einem nur eingeschlechtlichen Individuum Liebe zu machen.“
    „Puh… und ich dachte schon…“
    „Und überhaupt! Was passt dir denn nicht am stattlichen König der Goblins?“ erkundigte sich Isimud. Sie versuchte, ihrer Stimme einen plaudernden, gar neckenden Anklang zu geben, doch ihr Herz klopfte bis hoch in den Hals. Was die beiden Männer wohl antworten würden?
    Ham zuckte die Achseln. „In Trent rennen allerlei Wesen herum, die man auf den ersten Blick für Monster halten könnte. Wenn du mit ihnen redest, stell´n sie sich dann oft als die vernünftigsten heraus. Und dieser Kerl, der in den Ruinen haust, den sie den Wilden nennen, naja, was immer der so treibt, er bleibt da drin und kommt nicht raus. Aber der Goblinhauptmann, der hat seine Männer gezielt auf Menschen gehetzt und war nicht bereit, mit uns zu reden. Also, der sah nicht nur so aus, der war tatsächlich ein Monster.“
    „Und ein Goblin, der nie etwas Böses getan hat? Was würdest du zu dem sagen, Ham? Und du, Patt?“
    „Gar nichts würde ich sagen, abhauen würde ich, so schnell ich kann!“ bekannte Patt. „Weil ich Schiss hätte, dass dem seine Sippe in der Nähe ist.“
    „Ist sie nicht. Da kannst du ganz beruhigt sein.“
    Vorsichtig zog Isimud die Mütze von den Ohren seines Schützlings. Winzige schwarze Äuglein in einem faltigen, grünhäutigen Gesicht saßen über einer Schnauze gleich der eines Schweins. Aus dem breiten Mund lugten Hauer. Lange schwarze Haarsträhnen umspielten die Fledermausohren der Kreatur. Ohne Zweifel – die war definitiv ein Goblin.
    Es wäre übertrieben, zu sagen, dass die Goldsucher beim Anblick des kleinen Goblinmädchens in Entzückensschreie ausgebrochen wären. In ihren Gesichtern stand eine gehörige Portion Skepsis zu lesen und sie fassten ihre Esswerkzeuge unwillkürlich fester – Patt mit den Händen, Ham notgedrungen mit den Zähnen, denn er hatte seinen Löffel im Moment der Enthüllung in den Mund gesteckt. Doch nach dem ersten Schock fanden sie zur Gelassenheit eines Bergbewohners zurück. Ham nahm den Löffel aus dem Mund und schaffte es auch, diesen wieder zu schließen. Über Patts Gesicht huschte sogar ein Lächeln, denn in den fremdartigen Gesichtszüge des Mädchens spielte die gleiche Mimik wie bei einem Menschenkind.
    „Du machst Sachen…“ ächzte Ham.
    Patt nickte. „Erzähl, Isi… von Anfang an!“
    Isimud schmunzelte. „Das ist sicher das Beste. Ich kann das alles nämlich selbst noch nicht richtig glauben. Es ging so Schlag auf Schlag!“

  • Im Lager der Goldsucher ging das Leben einen gemütlichen Gang.
    Vormittags brachen die Männer zum Bach auf, während Isimud sich um den Haushalt kümmerte. Die Monsterjägerin verstand darunter hauptsächlich die Pflege von Waffen und Werkzeugen sowie das Verwalten einer kleinen Hausapotheke. Beim Anlegen derselben half die kleine Krutz fleißig mit, hatte ihr doch ihre Ziehmutter im heimatlichen Stamm bereits viel über Wundheilung, das Haltbarmachen von Heilpflanzen und natürlich das Zähneziehen beigebracht.
    Den Nachmittag verbrachte man mit Dösen, Geschichtenerzählen oder Spielen Brach dann die Dämmerung herein, zog Isimud mit Krutz zum Fischen oder Jagen, während Patt und Ham jenem Teil des Familienlebens nachgingen, der im Allgemeinen vor Kindern in Krutzs Alter geheim gehalten wurde. Dies war allerdings die einzige Stunde des Tages, zu der das Goblinmädchen dem Pärchen unerwünscht war. Mal nahm Ham sie zur großen Wäsche an den Steinen am Bachufer mit, dann wieder zeigte ihr Patt, wie man Tierfigürchen aus Holzklötzen schnitzte und dann wieder saßen sie zu dritt ums Lagerfeuer und die beiden Erwachsenen gruben alte Kinderverse aus ihrem Gedächtnis aus.
    Es sah ganz so aus, als hätte das Schicksal den beiden Männern, die – mit Ausnahme schwarzer Magie – nie auf Nachwuchs hätten hoffen dürfen, ein Kind zugespielt.
    Isimud war es nur Recht so. Die alleinige Verantwortung für ein Goblinkind – für überhaupt irgendein Kind! – hätte sie nicht tragen wollen, doch sie stellte fest, ganz selbstverständlich in eine Tantenrolle zu schlüpfen und das zudem noch zu genießen. Besonders dann, wenn das Bild des von ihrer eigenen Hand grausam zugerichteten Baumeisters wieder einmal vor dem inneren Auge der Verbannten aufstieg, und sich Krutz dann an sie ankuschelte, weil sie instinktiv spürte, das etwas nicht stimmte, anstatt, wie es den Goldsuchern zu eigen war, Isimud durch polternde Scherze auf andere Gedanken zu bringen zu versuchen.
    Vielleicht war ein Familienidyll dieser Art in ganz Simkea möglich, möglicherweise aber auch nur hier draußen in der Wildnis, Isimud vermochte es nicht einzuschätzen. Doch wie dem auch sei, so, wie es war, funktionierte es bestens.
    Es kam sogar der Tag, an dem Krutz einen Strauß Wildlumen auf den Esstisch stellte. Nicht, um sich die Erwachsenen gewogen zu stimmen, auch nicht als sichtbaren Beweis ihres Mutes, sich in den Wald getraut zu haben, sondern aus dem einzigen Grund, dass sich die Großen freuten. Das war natürlich hochgradig ungoblinisch, doch Krutz störte sich nicht weiter daran. Als Geheimnisfrau tat man eben manche Dinge anders als der normale Goblin. Basta!

    So hätte Isis Queste als erfolgreich beendet gelten können und das restliche halbe Jahr ihrer Verbannung wäre in Wohlgefallen verflossen. Wäre da nicht Krutz gewesen, deren Beherrschung des Simkeanischen von Tag zu Tag besser wurde. Was allerdings nicht für ihre Selbstbeherrschung galt…

    Eines Tages, Isimud kehrte gerade von einem Kampf gegen allzu aufdringliche Böse Schneebälle zurück, durchdrang Krutz lautes „Will, will, will!“ den Frieden der Bergwelt. „Will endlich Magie lernen!“
    Vergebens redeten die Goldsucher auf das Kind ein. Als Krutz Isimud erblickte, schob sie die beiden Menschen von sich und rannte auf den „Windgeist“ zu.
    Erschöpft von ihrem gerade bestandenen Kampf, den Bogen noch in der einen Hand und sich mit der anderen den Schweiß von der Stirn wischend, seufzte Isimud: „Und ich hatte so gehofft, sie hätte das vergessen…“
    „Tun sie nie“, meinte Ham grinsend.
    Patt stemmte die Fäuste in die Hüfte. „Ja, und wo liegt genau das Problem? Isi ist doch regelmäßig hier bei uns in den Bergen, da kann sie der Kleinen die Zauberei beibringen. Wird das Kind eben Zauberer!“ Der Mann schaute ein wenig traurig drein, als er etwas leiser fortfuhr: „Klar hätte ich gern nen Sprössling gehabt, der mir mal in meinem Beruf nachfolgt, aber heutzutage haben die Kinder ihren eigenen Kopf. Damit müssen wir leben.“

    Aber Isimud war kein Zauberer. Ihre angeborenen magischen Kräfte nutzte sie vornehmlich, um einmal täglich in einem besonderen Ritual ihren Geist auszusenden und den Gefangenen des Bösen in Noröm Visionen von der Portalinsel zu senden. Diese Fähigkeit teilte Isimud mit einigen hundert Simkeanern, von denen den erfolgreichsten zu Ehren sogar ein Clubhaus im Norden Trents gestiftet worden war. In der Zauberei mit Runen oder am Verzauberungstisch war die Kriegerin völlig unbeschlagen und was sie von der Theorie der Magie verstand, war zu lückenhaft, um fundiert weitergegeben zu werden. Ein Schüler hätte eher Schaden als Nutzen daraus gezogen (einmal ganz davon abgesehen, dass sich die Hälfte von Isis diesbezüglichem Wissen auf finsterste Schwarzmagie bezog).
    Nein, da half alles nichts. Wenn sie ihr Versprechen halten wollte, musste Isimud einen richtigen Lehrer für Krutz auftreiben.
    „Schicken wir ein Täubchen nach Trent, vielleicht findet sich ja jemand bereit“, meinte sie.

    Und so geschah es.
    „Wir suchen für unsere Tochter (ca. 6) einen Lehrer, der sie in Zauberei und Benehmen unterrichtet. Unterkunft kann gestellt werden, bezahlt wird in Gold.“
    So lautete der kurze Text, den die Goldsucher dem Botenvogel in einer Kapsel ums Bein schnallten. Es folgten Anweisungen, wie das Lager der Goldsucher zu finden war.
    Isimud hob den Kopf.
    „In Gold? Ist das nicht ein wenig vorschnell? Bisher habt ihr keins gefunden!“
    „Einzelheiten, Einzelheiten“, meinte Ham handwedelnd. „Das findet sich schon zuzeiten.“
    Das untrügliche Gefühl, dass sie bei der Beschaffung des Goldes eine nicht unerhebliche Rolle spielen würde, beschlich Isimud. Allerdings war es schwer, dem gewinnenden Lächeln der Goldsucher zu widerstehen. Zudem hatten sie die Verbannte ja ohne Weiteres aufgenommen, da gehörte es sich, dass man das Seine zum Familienleben beitrug.

    Die Brieftaube machte sich auf den Weg in Richtung Trent. Nun konnten die vier nur abwarten, was weiter geschehen würde.

    Fairness ist nicht, allen die gleichen Chancen auf Zieleinlauf zu geben, sondern dafür zu sorgen, dass jeder ankommt.


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    Einmal editiert, zuletzt von Isimud ()

  • „Von welcher Art Monster stammen die eigentlich?“ erkundigte sich Patt eines Tages bei Isimud. Dabei deutete er auf die grauen Federn, die als exotischer Ohrring von den Ohrläppchen der Kriegerin baumelten. „Sicher ein Saurier von der Abenteuerinsel?“
    „Nein, kein Saurier“, erwiderte die Besitzerin der Federn. „Die hat sich ein Monster aus Noröm ausgemausert.“
    „Oh!“ Unwillkürlich zuckten Patts Finger auf das Gehänge zu, dann lies er sie wie ertappt wieder sinken. „Ich besitze keinerlei Andenken an die alte Welt“, gestand er mit leiser Stimme. „Oder an meinen ersten Partner. Meine Schwester, ihr Junge und ich konnten lediglich unser nacktes Leben retten.“
    „Patt… das tröstet dich jetzt sicher kein bißchen, aber ich vermisse meine Familie schrecklich, da hilft auch kein Andenken. Selbst wenn ich unseren kompletten Hausrat dabei hätte, wöge dieser Verlust nicht leichter.“
    „Ja, das verstehe ich.“


    „So ein Goblin“, fuhr Isimud fort, dabei augenscheinlich das Thema wechselnd, „der wächst in seine Stammesriten hinein, weil er nie etwas anderes kennenlernt. Aber Menschen – und Menschenartige wie ich – haben die Wahl zwischen Gut und Böse. Und schon vor fünfhundert Jahren gab es solche, die sich freiwillig auf die Seite des Bösen gestellt haben. Nicht aus Furcht oder Verzweiflung oder um ihr Leben zu retten, sondern obwohl es ihnen vorher gut ging. Das ist so krank…“
    Patt seufzte. „Du denkst oft über solche Sachen nach, stimmts? Gut, Böse, was heißt das schon? Ich bin sicher kein böser Mensch, aber ich laufe auch nicht herum, und vollbringe Heldentaten. Klar, wenn es sich ergibt, legt man mal bei nem Achsbruch mit Hand an oder so, aber ich suche nicht gezielt nach Möglichkeiten, anderen zu helfen. Ich habe einfache Wünsche: gutes Essen, wenig Arbeit, so ein feines Spinnenseidenhemd aus der Stadt und Ham einmal im Leben im Dosenwerfen zu schlagen. Darum dreht sich die Welt und der Rest ist, vergib mir, nur was für die Gelehrten! Die wenigstens von denen können richtig zupacken, sie arbeiten immer nur mit dem Kopf, da ist es doch klar, dass sie Langeweile bekommen, die sie mit solchen Gedankenspielen füllen müssen.“
    „Und wenn du mal Scheiße gebaut hast?“ forschte Isimud. „So richtig, meine ich. Belastet dich das überhaupt nicht?“
    „Du meinst…“ Patt grinste bei seinen nächsten Worten: „Wie beispielsweise jemand nen Eiszauber ins Gesicht gejagt zu haben? Na, die Suppe müsste ich halt auslöffeln, ist ja nur gerecht. Vorwürfe würde ich mir machen, vielleicht auch ein wenig sauer auf den Richter sein, das ist nur menschlich. Bloß anfangen, darüber philosophisch zu werden, nee, das nimmer!“ Der Goldsucher schlug Isimud auf die Schulter. „Du hast doch Kraft in den Armen! Schlag eine Ladung Steine im Bruch unten, hau sie zu Mauersteinen zurecht und bring sie dem Baumeister als Wiedergutmachung mit, sobald du wieder in die Stadt darfst. Damit er sieht, dass es dir leid tut und du dich während deiner Verbannung nicht nur in der Sonne geaalt hast!“
    „So wie du und deine Familie es tun und das Ganze auch noch „Arbeit“ nennen?“ neckte Isimud. Dabei war ihr überhaupt nicht nach Scherzen zumute. Bobs Verletzung stellte ja nur eine ihrer Sünden aus einem fast zwanzigjährigen Leben auf Kosten anderer dar.
    Patt schien zu ahnen, was in der Kriegerin vorging. „Du musst loslassen!“ schärfte er ihr ein. „MasterX hat unsere Seelen nicht gerettet, damit wir uns mit Selbstvorwürfen zerfleischen! Eine zweite Chance haben sie uns geschenkt, unter Einsatz ihres Lebens - der Master und Sir Camulos und der Herr Rhys von Haldan, die Göttin erbarme sich seiner Seele! Diese Chance sollten wir annehmen und dem Master in Lebensfreude zurückzahlen!“
    Doch es würde noch ein weiteres Jahr ins Land ziehen müssen, bevor Isimud diesen Rat beherzigen konnte. An jenem Tag im Adoragebirge schrie sie Patt an: „Und wenn ICH deinen ersten Partner ermordet hätte? Würdest du mir dann denselben Rat erteilen?“
    „Ja! Aus weiter Entfernung, zu unser beider Sicherheit, aber ich würde nichts anderes sagen als gerade eben. Nichts kann Emmet wieder lebendig machen und nur die Zeit kann den Schmerz über seinen Tod heilen. Rache fügt dem Leid nur weiteres hinzu.“
    „Das sagst du bloß, weil die Situation nur ausgedacht ist.“
    Patt seufzte. „Isi! Wir sind Noröm entkommen! Glaubst du nicht, dass jeder von uns dort Schuld auf sich geladen hat? Willst du wissen, wer ich in Noröm war? Was ich getan habe?“
    Unwillkürlich schüttelte Isimud den Kopf, doch Patt war bereits zu sehr in Fahrt, als dass er sich um eine Antwort geschert hätte.
    „Ich sage es dir trotzdem: Die Leute aus meinem Dorf wurden gezwungen, irgend so eine Dunkle Zitadelle zu errichten. Wir haben gemauert, Fließen verlegt und Szenen, bei deren Anblick ich Albträume bekam, in Wandteppiche geknüpft. Der Dorfschreiner hat die Tische für die Folterkammer gehobelt und der Schmied die Werkzeuge angefertigt. Niemand wagte es aufzumucken, gehorcht haben wir, und so mancher hat sich sogar ins Zeug gelegt, damit´s ihm und seiner Familie besser ginge als dem Rest. Erst als es hieß, wir würden nicht mehr benötigt, da bekamen wir es endlich ausreichend mit der Angst zu tun, um einen Fluchtversuch zu wagen. Drei haben´s geschafft – ich fürchte, das sind genau drei mehr, als überlebt hätten, wären wir im Dorf geblieben.
    Genau in diesem Moment leiden womöglich Unschuldige in dem Gemäuer, und ich, ich habe dabei geholfen, das alles einzurichten! Glaubst du vielleicht, das sei leicht für mich?“
    Der Mann holte tief Luft.
    „Ihr Anthronen schwebt immer so über allen Dingen, obwohl ihr keine Flügel habt. Vielleicht verschafft es euch ja den ultimativen Kick, so vor euch hin zu leiden. Aber für uns Menschen muss auch mal irgendwann Schluss sein.“
    „Wir… wir haben Flügel,“ bekannte Isimud. „Manchmal. Die Federn stammen von mir.“
    „Waaaaaas?! Das ist ja widerlich!“ Patt schüttelte sich vor Ekel! Das war ja, als bastle er sich eine Halskette aus seinen eigenen abgeschnittenen Zehnägeln! „Pfui Teufel! Bei solchen Manieren ist es kein Wunder, dass du mit Goblins rumhängst!“
    Der Ausbruch des Goldsuchers lies Isimud ihre Selbstzweifel vorübergehend vergessen. „Du müsstest dich mal wüten sehen!“ lachte sie. „Schau am besten in den Bach!“
    „Nö – da gehörst eher du rein! Damit du Hü-geh-nie lernst!“
    Sekunden später hörte man es nur noch platschen…

  • Wer wen in den Bach gestoßen hatte, wussten weder Isimud noch Patt zu sagen. Jedenfalls hatten sie großen Spaß an ihrer unschuldigen Balgerei und hätten sich auch noch Ham und Krutz dazu gesellt, es hätte ein wundervoller Nachmittag werden können.
    Stattdessen kam Wasser.
    Viel Wasser.
    Schmelzwasser vom vergangenen Winter hatte den Bach in höheren Lagen anschwellen lassen und hinter einem Biberdamm hatte sich ein ungewöhnlich großer See angestaut. Dieser Damm nun war nicht mehr in der Lage, die nachflutenden Wassermassen aufzuhalten. Eine Flut bahnte sich ihren Weg durch das Gebirge, dabei mitreißend, was immer ihm in den Weg geriet.
    Den beiden Menschen(artigen) riss es den Boden unter den Füßen weg, noch bevor sie vollständig begriffen, was vorging.
    „Fest – gluck – halten!“ gurgelte Isimud.
    Patt befolgte den Rat und griff nach einer ins Wasser ragenden Wurzel. Sekunden später hatte er zu beider Überraschung einen vollständig entwurzelten morschen Baum in der Hand.
    Der Goldsucher hiefte sich auf den heftig im Wasser rotierenden Stamm und streckte von dort aus Isimud die Hand entgegen. Auf diese Weise besaßen die beiden zwar nun eine hölzerne Rettungsinsel, doch wohin ihre Reise ging, vermochten sie nicht zu beeinflussen.


    Isimud und Patt waren der Flut ausgeliefert. Mal über der Wasseroberfläche und mal von einer Welle überspült, ging es bachabwärts mit ihnen. Patt betete stumm zu seiner Göttin, Isimud hingegen hielt sich schon nicht mehr mit Göttern auf, sondern machte sich darauf gefasst, ins allumfassende Licht einzutreten, aus welchem dem Glauben ihres Volkes nach sowohl Götter als auch Sterbliche hervorgegangen waren (wobei die meisten sterblichen Rassen wohl das Produkt des Schöpferdranges einer Gottheit darstellten).
    Dann aber lachte sie unvermittelt! Patt hörte es nicht, seine Ohren waren voll Wasser gelaufen und die meiste Zeit über hätte ohnehin nur das dumpfe Schlagen seines eigenen Kopfes gegen den Baumstamm in seinem Gehör widerhallt. Auch Isimuds Körper schmerzte von zahlreichen Remplern, doch ein einziger Teil blieb erfreulich schmerzfrei: die Schulterblätter. Hätten sie oder Patt sich in Lebensgefahr befunden, müssten sich ja wieder die Flügel ihren Weg durch die Haut zu bahnen versuchen! Denn so besagten es die Legenden der Anthronen: In Augenblicken höchster Not anderer wuchsen ihnen Flügel, auf dass sie den Bedrängten zu Hilfe eilen und jegliche Opposition mit einem kräftigen Schwingenschlag zurückdränge konnten.
    Isimud besaß keine Kontrolle über den Prozess, nicht einmal unterbewusst. Das Erscheinen oder Wegbleiben der Schwingen schien von außen gesteuert zu werden. Dass sie nicht hervorzubrechen versuchten, stellte Isis Meinung nach einen deutlicher Hinweis darauf dar, dass die Lage der beiden Fortgeschwemmten als zwar bitter, aber keinesfalls lebensbedrohlich eingestuft werden musste!


    Ihre Sicherheit zu überleben gab Isimud Mut. Ihr Griff um den Stamm sowie den Freund wurde fester, ihre Sinne klarten sich und richteten sich wieder auf das Diesseits.
    Dies wiederum schenkte Patt Kraft. An mehreren Stellen verhinderte das Duo mit schierer Willensanstrengung ein Kentern. Durch ein rasches Werfen (oder eher Winden) in die Gegenrichtung vermieden sie, mit ihrem Baumstamm an einem aus dem Wasser aufragenden Felsbrocken zu zerschellen. Nach jeder dieser Ausweichaktionen fühlten sie sich großartig. Ihr Lachen übertönte das Rauschen des Wassers, doch um der Wahrheit die Ehre zu geben klang es eher hysterisch denn fröhlich.
    Immer weiter ging die wilde Fahrt…

    Irgenwann hatte der Bach genug von seinem Spiel und warf die beiden auf festes Land, zuerst den Goldsucher, dann den Stamm und schließlich die Monsterjägerin. Patt schaffte es gerade noch, sich abzurollen, um nicht unter dem Stamm begraben zu werden.
    Da lag er nun auf dem überschwemmten Waldboden, Mund und Nase im Schlamm.
    Mit dem Oberkörper noch immer auf dem Baumstamm aufliegend und jede einzelne Rippe überdeutlich spürend, spuckte Isimud Wasser.
    „Wenn der Buranum daheim so über die Ufer trat, haben wir uns gefreut“, nuschelte sie dann. „Weil er fruchtbaren Schlick oder so auf die Felder schmiss…“
    „Ich jauchze vor Entzücken“, versetzte Patt. Der Mann stemmte Hände und Knie in den Morast, richtete sich auf und blickte sich um. „Wo sind wir?“
    „Ich weiß nicht genau.“ Isimud zog sich in sitzende Lage und nahm dann rittlings auf dem Stamm Platz. Sie deutete in die Richtung, aus der die beiden gekommen waren. „Ich glaube, der Bach hat sich hier früher mal gegabelt. Die Springflut hat uns in das alte, heutzutage ausgetrocknete Bett gespült.“
    Zusammen mit den Zweibeinern waren auch einige Lachse aus dem Bachbett geworfen wurden. Zumindest Hunger würden Patt und Isimud also nicht leiden müssen. Sie sammelten die Fische ein und fanden sogar nach einigem Herumirren eine Höhle, in der sie ihre Kleider trocknen konnten. Holz für ein Feuer schnitten sie in Form tiefhängender Äste von den Bäumen. Das feuchte Holz qualmte fürchterlich, doch ein kleiner Hustenreiz war einer Lungenentzündung vorzuziehen.
    „Ham wird sich Sorgen machen“, klagte Patt.
    Isimud nickte stumm. Sie wollte nicht aussprechen, was ihr durch den Kopf ging. Es war so albern! Sie und Patt waren doch diejenigen, die in der Klemme steckten, nicht Ham und das Goblinmädchen. Dennoch vermochte Isimud nicht von der Hand zu weisen, dass sie sich um Krutz sorgte…

  • Einige Zeit lang hatten Patt und Isimud stumm ihren eigenen Gedanken nachgehangen. Die Sonne hing nun bereits sehr tief. Ihr Licht fiel auf vielfarbige Adern, die durch Decke und Wänden der Höhle liefen. Hätten die Simkeaner damals schon Firnisonerz gekannt, die Farbschlieren der Felsformation hätten sie an dieses erinnert. So aber taten die Verirrten ihren Fund als Laune der Natur ab. Patt fehlte die Erfahrung im Bergbau und Isimuds Verständnis der Geologie hinkte weit hinter ihrer Fertigkeit in Erzabbau und –verhüttung hinterher.
    „Du erwähntest vorhin den Buranum“, nahm Patt das Gerspräch wieder auf. „Fließt der nicht nahe am Äquator? Stammst du von dort?“
    „Ja.“
    Patt hob interessiert den Kopf. Vor dem Fall Noröms hatten er und seine ausgedehnte Verwandtschaft eine Kutschenstation am Rande eines kleinen Dorfes betrieben. Diese Dorf hatten sie höchstens einmal im Jahr verlassen, um den Jahrmarkt im nächstgrößeren Ort aufzusuchen. Doch die Lage der Siedlung an einer Handelsstraße hatte es mit sich gebracht, dass Reisende aus fernsten Teilen der alten Welt in der Station übernachtet hatten. Von den Geschichten dieser Reisenden hatten Patt jene der Seeleute am meisten beeindruckt. Besonders vom Äquator hatten diese Männer und Frauen gar wunderliches zu erzählen gehabt. Tief beeindruckt hatte sich der Mann vieles von deren Garn, das er für bare Münze nahm, gemerkt.
    „Und?“ forschte Patt. „Hast du ihn mal gesehen, den Äquator?“
    „Nein.“ Isimud seufzte traurig. „Der muss noch viel weiter im Süden übers offene Meer gespannt sein.“ Sie boxte Patt in die Seite. „Du, das habe ich noch niemand anders erzählt, aber als Kind wollte ich Pirat werden! Ja, und dann hätte ich den Äquator ganz sicher mindestens einmal berührt, wenn wir drunter durch gefahren wären.“
    „Nicht drüber weg?“
    „Das kann ich mir nicht vorstellen. Schiffe kreuzten ständig hin und her, schwer beladene Handelskoggen, aber kein Matrose hat jemals berichtet, mit dem Kiel am Äquator entlanggeschrammt zu sein. Ergo muss der recht weit oben hängen. Sonst blieben all die Koggen doch mit den Masten daran hängen…“
    „Eben deswegen muss der Äquator viel eher sehr, sehr tief unter Wasser verlaufen, Isi, du Möchtegernpirat! Tauchen hättest du danach müssen!“
    „Hm“, machte Isimud. Patts Erklärung kam unerwartet, ergab aber Sinn. Allerdings verfügte die Kriegerin über eine vortreffliche Konstitution und konnte die Luft dementsprechend lange anhalten. So oder so, der Äquator wäre nicht vor ihr sicher gewesen!


    „Ich hoffe, er ist nur wirklich tief da unten, wo ihn die Horden des Bösen nicht erreichen“, nahm Patt wieder das Wort an sich. „Heißt es nicht, das Ding hielte die Welt zusammen? Undenkbar, wenn das Böse ihn fände und damit experimentierte!“
    In ihren Tagträumen hatte sich Isimud gerade mittels ihres Taucherhelms zu einem dicken Pflanzenstrang vorgearbeitet. So stellte sie sich den Äquator vor – keine Magie hatte ihn erschaffen, sondern er war ein Teil der Welt. Der Äquator konnte demnach kein Tau oder ähnliches sein, sondern musste aus einem natürlichen Material bestehen. Aus einem magischen Erz oder eben einer gigantischen Pflanze. Nun zuckte diese Pflanze in ihrer Fantasie vor der Taucherin zurück.
    In der realen Welt hob Patt den Kopf. „Riechst du das auch?“
    Isimud schnupperte in die Luft. Als erstes trat ihr der Rauch des Feuers in die Nase, doch darunter lag ein anderer Duft. „Grünes Pflanzeneis?!“
    Erleichtert stieß Patt den Atem aus. „Der Göttin sei gedankt, du riechst es ebenfalls! Ich dachte schon, ich spinne!“
    Isimud sprang auf. „Nur jemand anderes aus Trent weiß, wie man Speiseeis herstellt!“ rief sie aus. „Komm, lass uns nachsehen, wer hier in der Einöde herumkriecht und was derjenige sucht!“

    Die beiden hatten vielleicht zehn oder fünfzehn Schritt in die Höhne hineingetan, als die Decke über ihren Köpfen niedriger zu werden begann. Dafür wurde der Geruch nach Grüner Bodenranke intensiver. Zudem drangen nun Geräusche, die die Erkunder noch nicht einzuordnen vermochten, an ihre Ohren. Hämmerte jemand auf einen Amboss? Klirrten Waffen aufeinander?
    „Ich glaube, hier ist ein Prospektor zugange“, mutmaßte Isimud. „Klingt beinahe so, als ob jemand Erzproben aus dem Fels schlüge.“
    „Ja.“ Patt drängte sich an Isi vorbei. Er beschleunigte seinen Schritt, dabei ausrufend: „Hallo! He, Kumpel!“
    Isimud folgte ihrem Freund. Es ging ein wenig bergab, um eine Biegung und dann wieder steil nach oben. Patt bewegte sich aufgrund seiner Bergmannserfahrung sicher und zügig durch die Höhle. Doch völlig unvermittelt blieb er stehen. Isimud konnte nicht mehr bremsen. Sie stieß gegen den Goldsucher und durfte das Muster auf Patts Lederweste aus extremster Nähe betrachten. Doch viel stärker als der Geruch nach Leder und Tran drang ihr nun eine Meeresbrise in die Nase.
    Patt versuchte, vor irgendetwas zurückzuweichen, wobei er Isimud unabsichtlich das Riechorgan quetschte.
    Isis Hand zuckte zum Waffengurt. Außer dem zum Überleben in der Wildnis unabdingbaren Messer trug sie an diesem Tag nur ihren Eiszauberstab bei sich. Hoffentlich reagierte, was auch immer Patt erschreckt hatte, darauf. Mit etwas Glück war es nur ein Puma, eine scheue Katze, die gewiss Reißaus nehmen würde, wenn ihr Fellchen nass wurde.
    Aber was hatte es verflixt nochmal mit dem Salzwasergeruch auf sich? Und dem Bodenrankenaroma?

    „Packt sie!“ rief da plötzlich jemand.
    Isimud lies beinahe ihren gerade gezückten Zauberstab fallen, als sie die Stimme als ihre eigene erkannte.
    Dann hörte man das patschende Geräusch von nackten Fußsohlen, die sich nach einem kurzen Anlauf vom Boden abstießen und eines, das dem Flattern eines Fledergrausi nicht unähnlich klang. Eines menschengroßen Fledergrausi, genaugenommen. Ein Paar breiter schwarzer Schwingen entfaltete sich geräuschvoll und wem immer sie gehörten stürzte sich mit einem schrillen Kampfschrei auf die beiden Eindringlinge.
    Isimud fuchtelte mit ihrem Zauberstab, dann spürte sie etwas hartes gegen ihr Handgelenk schlagen und schrie vor Schmerz auf, lies die Waffe allerdings nicht los. Ihr Schrei wurde von einem Büschel schwarzer Federn erstickt, als ihr Gegner mit den Schwingen nach seinen Opfern schlug.
    Der Geruch nach Meer verstärkte sich, Isimud meinte, Segel im Wind schlagen zu hören, irgendwo tiefer in der Höhle johlten Männer und über die gesamte, verwirrende Szenarie erhob sich das Lachen einer Frau oder eines jungen Mannes – eine Stimme, die Isis eigener zum Verwechseln ähnlich klang…

  • Etwa zehn Minuten später:


    „Was genau geht hier vor?“ zischte Patt.
    Isimud hörte seine Worte nah an ihrem Ohr. Kein Wunder, saßen die beiden ja Rücken an Rücken gefesselt an Deck eines Schiffes mitten auf dem offenen Meer! Wie es dazu gekommen war, das war den beiden nur schwach bewusst. Hatte sie nicht eine Riesdenfledermaus angegriffen? In einer Höhle im Adoragebirge? Ja, so war es gewesen. Und obwohl weder Isimud noch Patt sich daran erinnerten, von dem Monster fortetragen worden zu sein, musste es sich wohl so zugetragen haben. Denn sonst wären sie ja nicht hier gelandet...


    Der Himmel über den Köpfen der Gefangenen war dunkel, doch nicht etwa, weil die Nacht hereingebrochen wäre. Isimud erinnerte sich noch gut an die Düsternis, die von ihrer ersten Heimat Besitz ergriffen hatte. Eben jene unnatürliche Finsternis umhüllte sie nun wieder.
    Noröm!
    Hätte noch ein letzter Rest Zweifel daran bestanden, wo sie sich befanden, so zerstreute ihn ein Blick zum Himmel. Einst sollte dieser voller Sterne gehangen haben, doch nun drang nur das Licht der Hellsten unter diesen durch die Finsternis. Sie bildeten Isimud wohlbekannte Sternbilder.
    In weiter Ferne zeichneten sich die Küszenlinien mehrerer Inseln ab. Dort drüben erhellten einige magisch erschaffene Kunstsonnen von der Art, wie sich auch über der Urkhart-Feste geleuchtet hatte, die ewige Nacht.
    Nur wenige hundert Meter entfernt dümpelte ein aus zahllosen Pflanzensträngen geflochtenes natürliches Seil auf dem Ozean. Isimud „erkannte“ es sofort als den Äquator, dessen physische Existenz sie nie angezweifelt hatte. Worum es sich in Wirklichkeit handelte, wussten wohl nur die Matrosen auf dem Schiff.
    Dies alles erklärte natürlich sowohl den Geruch nach Meeresluft als auch den Gestank einer Bodenranke, jedoch nicht, wie es zu dem Ortswechsel gekommen war.

    „Wir sprachen über den Äquator“, erinnerte sich Isimud. „Und meine Kindheitsträume. Und irgendwie müssen wir durch die Höhle zurück nach Noröm gelangt sein, an einen Ort, der unseren Tagträumen entspricht.“
    „Puh!“ stieß Patt aus. „Dann haben wir Glück gehabt. Hätten wir stattd deiner über meine Vergangenheit gesprochen, säßen wir jetzt womöglich in der Dunklen Zitadell…eächz!“
    Patts Worte endeten in einem gequälten Ächzen, wie man es eben von sich gab, wenn man gerade eine Stiefespitze in die Magengrube gerammt bekam.
    „Schnauze!“ befahl die bereits bekannte, Isimuds so ähnliche Stimme.
    Die Gefangenen hoben die Köpfe. Direkt vor ihn stand, verächtlich auf sie herabblickend, ein beinahe perfektes Ebenbild Isimuds. Die andere trug weite, grün-schwarz-gestreifte Hosen, eine schwarze Weste über einem Fechthemd aus Seide sowie einen Dreispitz, in dessen Krempe eine blutrote Feder steckte. Um den Hals der Fremden baumelte ein Medaillon. Auf dem Deckel war eine Kreatur, von deren einem Wal ähnlichen Leib sich ein in einen lächerlich winzigen Schädel endender langer Hals in die Höhe reckte, abgebildet: das alte Wappen der Urkharts*. Ein Paar schwarzer Flügel spannte sich im Rücken des Anthronen und verdeckte beinahe die Sonne.


    „Miya?“ flüsterte Isi. „Usumiya?“
    „Ihr kennt euch?“ entfuhr es Patt. Wider besseres Wissen fügte er hinzu: „Und wieso hat die da Flügel?“
    Das Isimud-Ebenbild hob seine Stiefel gerade weit genug, um den armen Patt an der Spitze riechen zu lassen. Es versetzte dem Gefangenen einen Stuppser zur Warnung, dann meinte es: „Warum wohl? Anthronenerbe, Dümmling. Wenn jemand in Lebensgefahr gerät, wachsen uns solche netten Schwingen. Tja, und wo ich und meine Männer auftauchen, da befindet sich nun einmal JEDER in akuter Lebensgefahr. So ist das.“
    „Du bluffst, Bruderschwester“, erklärte Isimud. „Mag ja sein, dass du so im Grundsatz Recht hast, aber du hast nicht vor, mir oder Patt etwas anzutun. Denn sonst würden MEINE Flügel wachsen.“
    Erneut erhielt Patt einen Tritt, obwohl er diesmal gar nichts gesagt hatte.
    „Das passiert jetzt ihm jedesmal, wenn du ungefragt den Mund aufmachst“, warnte der Schwarzbeschwingte Isimud. „Ist wirksamer, als dich zu beuteln, lieber Zwilling.“
    Und tatsächlich – Isimuds Mund stand vor Entsetzen offen, aber kein Laut entschlüpfte ihr. Ganz langsam schloss sie den Mund und presste die Lippen aufeinander. Sie, die einst ihren eigenen Zwilling eine Klippe hinunter gestoßen hatte, um zu sehen, was passieren würde, wollte nun um jeden Preis vermeiden, dass ihre Freunde litten. Und nicht nur diese, auch das Heil wildfremder Personen schien mit einem Male von Isimuds Selbstbeherrschung abzuhängen.
    Noröm… Usumiya… wie konnte das sein? Doch wie auch immer die Antwort lautete, viel wichtiger war es, ja kein Wort darüber verlauten zu lassen, wo sie sich die vergangenen beiden Jahre über aufgehalten hatte. Isimud musste Simkea aus ihren Gedanken, ja, aus ihrer Seele, verbannen, als hätte es diese Welt nie gegeben. Denn wenn das Böse von der Portalinsel erführe… nein, dieser Gedanke war zu schrecklich, um ihn zu Ende zu denken.

    „So Unrecht hat du allerdings nicht, Bruderschwester“, meinte der Schwingenträger. „Ich kann dir und deinem Sklaven das Leben zur Hölle machen, aber töten würde ich euch nur höchst ungern. Du findest uns ein wenig in der Klemme. Der dunkle Herrscher war nicht erfreut über meine Plünderung eines Konvois mit… ach, egal. Du musst nur wissen, dass er uns eine Queste aufgedrückt hat. Wir sollen einen ganz bestimmten Ort auf dem Meer ausfindig machen. Nur scheint der sich vor uns zu verbergen. Mir scheint beinahe, es steckt eine fremde Macht dahinter.“
    Isimud biss sich noch heftiger als zuvor auf die Lippen, schaffte es aber, ihrem Zwilling fest in die Augen zu blicken, ohen sich anmerken zu lassen, dass sie genau verstand, um welchen Ort und welche Macht es sich handelte: die Portalinsel.
    Patt jedoch zuckte bei der Erwähnung der „fremden Macht“, also des gütigen MasterX, sichtbar zusammen.
    „A-ha!“ lachte der Schwarzbeschwingte. „Scheint mir ganz so, als wüsste da jemand, wovon ich spreche!“
    Nein… nicht… bitte nicht… alle Götter… gebt uns Kraft!


    * Urkhart - oder korrekterweise Urquhart - Castle ist in der Anderwelt eine Burg direkt am Loch Ness, daher musste natürlich Nessie in mein Wappen.

  • Der Schwarzbeschwingte, den Isimud als „Bruderschwester“ bezeichnete, hatte befohlen, die Gefangenen unter Deck anzuketten. Damit sie „Muße zum Nachdenken“ fanden, wie er sich ausdrückte.
    Eingepfercht in einer Zelle, die selbst für eine Einzelperson unkomfortabel gewesen wäre, harrten Patt und Isimud einer ungewissen Zukunft. Über ihren Köpfen echoten die Schritte in schweren Stiefeln steckender Füße.
    „Wer ist eigentlich so dämlich und trägt auf einem Schiff Stiefel?“ wunderte sich Isimud laut.
    „Na, dein Bruder… Schwester… was auch immer. Der zum Beispiel.“
    „Unsinn! Usumiya geht barfuß.“
    Schon in der Höhle in Simkea hatte Usumiya keine Schuhe getragen.
    „So? Und was hat das Monster mir dann vorhin dreimal in die Magengrube gerammt?“
    „Na, seine nackten Zehen! Willst du etwa anderes behaupten?“
    Ja, genau das wollte Patt. Der Menschenmann beharrte darauf, einen bestiefelten Piraten zu sehen, wohingegen Isimud einen barfüßigen wahrnahm. Etwas stimmte hier ganz und gar nicht, begriff Isi! Einer plötzlichen Eingebung folgend fragte sie: „Welches Wappen zeigt sein Medaillon?“
    „Ich… ich habe nicht darauf geachtet“, gestand Patt. „Einen Orkkopf, glaube ich. Oder Goblin. So ein grünes Scheusal eben. Passt doch auch, wenn deine Familie Orkhart heißt!“
    Isimuds Mundwinkel zuckte nach oben, doch bevor sie sich ein Lächeln erlaubte, musste die Klarheit haben! Rasch hintereinander befragte sie Patt nach der Farbe der Kleidung des Piraten, dem Aufbau des Schiffes und ob der andere vielleicht den Äquator auf dem Wasser habe treiben sehen. In jedem Fall lag der Menschenmann falsch. Patt und Isimud nahmen ihre Umwelt zwar im Groben identisch wahr, die Details unterschieden sich jedoch teilweise äußerst drastisch.


    Hastig, denn die Schritte an Deck schienen sich nun der zum Unterdeck führenden Luke zu nähern, eröffnete Isimud Patt ihre Hypothese: „Das hier ist eine Illusion! Nicht echt! Jeder von uns sieht die Szene so, wie er sie sich vorstellt! Ich kenne mich ein wenig mit dem Piratenleben aus, daher stelle ich mir das Schiff realistischer vor. Dafür habe ich außer im Zirkus noch nie eine Kanone gesehen, du hingegen in deiner Zitadelle gleich eine ganze Batterie.“
    „Aber wenn unsere Fantasie die Szene ausfüllt, was ist denn dann tatsächlich um uns herum? Und wo, bei der Göttin, sind wir in Wirklichkeit?“ raunte Patt zurück.
    „Na, schon mal nicht bei deiner Göttin“, grinste Isimud. „Und hoffentlich auch nicht bei der Segnung.“

    In diesem Moment öffnete der Schwarzbeschwingte die Luke. Er nahm die Stufen zum Unterdeck und schritt den Gang entlang auf die Käfigzellen zu, in denen die beiden Simkeaner hockten.
    „Ich habe dieses Wesen für meinen Zwilling Usumiya gehalten“, überlegte Isimud laut. „Aber ich glaube, in Wahrheit sehe ich mich selbst, was aus mir geworden wäre, hätte ich Noröm nicht entfliehen können. Und dieses Parallel-Selbst hält logischerweise mich für seinen Zwilling, also für Miya.“
    „Äh… Isi, hör mal kurz auf zu reden!“
    Patt versuchte, in die Zelle hinein zurückzuweichen, was allerdings aufgrund des beengten Platzes nur dazu führte, dass er sich stattdessen in aufrechte Haltung stemmte, aufgrund der niedrigen Deckenhöhe jedoch mit dem Kopf gegen dieselbe prallte. „Au!“
    Der Mann packte Isimud bei der Schulter und schüttelte sie. „Ich meine, das ist ja alles schön und gut, aber der da vor der Tür zieht gerade einen Säbel!“

    „Tjaa, Bruderschwester, ohne viel herumzureden, denn das liegt mir nicht“, ergriff das Isimud-Ebenbild das Wort, „du wirst mir jetzt sagen, was du weißt, denn sonst steche ich deinen Sklaven ab wie ein Schwein und lasse ihn langsam ausbluten!“
    Isimud schluckte hart. Es war eine Sache, sich eine Theorie zurechtzulegen, doch sie auf Kosten eines Freundes zu prüfen, eine völlig andere. Flehentlich blickte Patt Isimud an. „Wenn es nur ein Tagtraum ist, dann kannst du ruhig alles verraten!“ schienen seine Augen zu sagen.
    Ja, wenn! Aber wenn nun nicht? In diesem Fall musste vor allen Dingen Simkea geschützt werden.
    Ein Held zu sein, das klang nur in den Geschichten toll. Jedenfalls wenn das Heldentum darin bestand, zuerst einem Freund beim Sterben zuzusehen und anschließend selbst das Leben zu verlieren. Denn unter keinen Umständen durfte Isimud sein Wissen um die Lage der Portalinsel preisgeben.


    „Isimud, warte!“ bat die echte Isimud ihr Ebenbild. Und siehe da, der andere reagierte auf die Ansprache mit dem eigenen Namen, als verstünde er sich tatsächlich als Isimud. Isi grinste Patt an. Siehst du, ich hatte Recht!
    Doch der Goldsucher zitterte weiter. Er wollte nicht von einer Säbelklinge durchbohrt werden, weder in Wirklichkeit, noch in dieser viel zu echt wirkenden Illusion! Und Isimud wollte sich nicht selbst dabei beobachten, wie sie einen Menschen folterte.
    „Hör mir zu“, wandte sie sich an sich selbst. Der andere jedoch rammte den Knauf seines Säbels gegen die Gitterstäbe der Zelle, so dass diese vibrierten.
    „Du warst gewarnt!“ knurrte er. „Wann immer du ohne Aufforderung dein Maul aufreißt, wird der da leiden. Wie stünde ich da, wäre auf mein Wort kein Verlass?“
    „I… si…“ ächzte Patt. „Ach, nein Miya, meine ich. Ihr beide! Hört bitte auf mit dem Scheiß! Ihr macht mir Angst!“
    Ein zufriedenes Schmunzeln umspielte die Mundwinkel des Isimud-Ebenbildes. „Vielen Dank, aber Schmeicheleien helfen dir jetzt auch nicht mehr.“
    Mit diesen Worten riss er die Zellentür auf.
    Patt und Isimud zuckten zusammen, dann begann Patt zu beten.


    „Einfach…“
    Das Schiff schwankte – oder strauchelten zwei Zweibeiner irgendwo in den unebenen Gängen einer Höhle im Adoragebirge?
    „…nicht…“
    Die Klinge des Schwarzbefiederten blitzte auf – oder war es nicht eher das von der Kugel in Isis Eiszauberstab ausgehende Glühen?
    „…dran…“
    Möwen kreischten, viel zu weit weg vom Land – nein, das mussten Fledermäuse sein, die sich zum nächtlichen Schwärmen bereit machten.
    „… glauben!“ schrie Isimud.
    Im nächsten Moment bohrte sich der Säbel des Piraten in Patts Bauch, wo ihn sein Besitzer ein wenig drehte.
    Der Menschenmann jaulte auf…

  • „Auuuuuuuuuu!“ jaulte Patt, doch je länger er klagte, umso mehr wandelte sich sein Klagen zu einem Wutschrei: „Ich habe mir den Kopf an so einem dämlichen Stalagtiten gestoßen!“ Er stieß seine Begleiterin von sich. „Und nimm gefälligst deinen Zauberstab aus meiner Milz! Damit hast du doch schon in Trent genug Unheil angerichtet!“
    Isimud lachte voller Erleichterung! Sie wehrte sich nicht gegen den Rempler, sondern lies sich mit dem Rücken gegen die Felswand fallen. Die Wand war hart, kalt und ein glitschiger Grottenolm plumpste auf Isis Schulter, doch nichts davon vermochte die Kriegerin zu stören. Denn all dies war echt, so echt es nur irgend ging! Sie waren wieder in der Firnisonhöhle im Adoragebirge. Ach was, „wieder“! Nie verlassen hatten die beiden diesen Ort. Alles hatte sich allein in ihrer Fantasie ereignet.

    Patt ergriff Isimuds Hand. „Los, komm!“ forderte er sie auf. „Lass uns abhauen, bevor sich MEIN erster Berufswunsch manifestiert!“
    „Wieso?“ forschte Isimud. „Was wolltest du denn werden?“
    Doch Patt gab keine Antwort.
    Vorbei an ihrem Lagerfeuer und den vielfarbigen Erzadern hasteten die beiden nach draußen.
    Hier war es inzwischen finstere Nacht, doch eine Übernachtung in der Wildnis erschien der trügerischen Sicherheit der Firnisonhöhle allemal vorzuziehen.
    Patt fand einen Baum, dessen Flachwurzeln einigermaßen über den von der Springflut aufgeweichten Boden aufragten. Auf diesen improvisierten Bettgestellen legten sie sich zur Ruhe, um abwechselnd zu wachen und zu schlafen. Jedenfalls hatte Isimud das so angedacht. Doch schon zur ersten Wache schliefen beide gleichzeitig ein. Sie erwachten im Matsch neben der Wurzel, stellten fest, dass sie noch am Leben waren und machten sich daran, den Weg zurück zum Lager der Goldsucher zu suchen.

    „Was genau habt ihr getrunken?“ erkundigte sich Ham später, nachdem die beiden Verunfallten von ihrem Abenteuer berichtet hatten. Schlotternd vor Kälte saßen Patt und Isimud splitterfaßernackt um das heimatliche Feuer im Goldsucherlager. Ham rubbelte Patt trocken und Krutz tat dasselbe mit Isimud. Etwas abseits trockneten die Kleider der beiden.
    Draußen vor dem Überhang fiel seit Tagen ein strömender Regen, der den Verirrten ihren Heimweg nicht unbedingt leicht gemacht hatte.
    „Getrunken? Öhm – Wasser?“ bot Isimud an, während sie sich in eine Decke kuschelte, die ihr Ham reichte.
    „Drecksbrühe!“ korrigierte Patt. „Und wir haben sie auch mehr geschluckt als getrunken. Aber was danach geschah, das hat sich tatsächlich zu zugetragen, Schatz! Das musst du uns glauben!“
    Ham rieb sich skeptisch den Bart.


    Krutz hingegen hüpfte aufgeregt um die Zurückgekehrten herum. „Ihr alles falsch macht!“ rief sie dabei aus. „Geister in Kaverne ärgert! Fisch opfert, dann selbst fresst, da kein Wunder dass Geister pups-stinkig!“
    In einem wilden Pidging aus Goblinisch, Simkeanisch und unflätigster Gestensprache setzte das Mädchen den beiden Erwachsenen auseinander, was sie alles falsch gemacht gemacht hatten. Zuerst blickten die drei verwirrt drein, dann belustigt, doch nach und nach dämmerte es ihnen, dass ihr Schützling verstand, wovon sie da sprach. Immerhin war Krutz bei der „Geheimnisfrau“, also der Schamanin, ihres Stammes aufgewachsen!
    Was immer sich in der Höhle befand, es war mächtig, doch in dem Goblinkind besaßen die Bergbewohner offenkundig eine Sachkundige.
    „Krutz“, brachte Isimud, von mehreren Niesern unterbrochen, hervor. „Eines Tages kehren wir zusammen dorthin zurück, du, ich, und deine Väter. Wenn du unsere Sprache besser kannst… und wir verstehen, was du uns über die Höhle sagen willst… und wenn du Magie besser verstehst.“
    Krutz nickte. So und nicht anders würde es sich zutragen!
    „Aber bis dahin möchte ich, dass du dich wie ein ganz normales Kind benimmst. Und wenn du Patt und Ham mal so ärgerst, dass sie dir den Allerwertesten versohlen müssen, dann gehört das auch zum Leben. Ich will nicht, dass du etwas verpasst, schon gar nicht den allerwichtigsten Teil des Lebens, der nie wieder kommt! Weil… weil… weil du erst die Welt kennenerlen musst, bevor du dich den Geistern stellen kannst. Das Leben besteht aus mehr als Zauberei und Kämpfen, ja?“
    Ham grinste. Er konnte sich nicht verkneifen, die kurze Rede mit „Nimm´s dir selbst zu Herzen, Isi!“ zu kommentieren.

    Doch am nächsten Tag, als der Regen aufhörte, war Isimud bereits wieder auf und davon, Schnebälle der zahnbewerten Sorte zu bejagen. Zum Wiederfinden des inneren Gleichgewichts, wie sie sagte. Mehr als einmal baumelte ihr dabei das Ohrgehänge mit den grauen Federn ins Gesicht. Das waren die Momente, in denen Isimud an Selbstsicherheit gewann und zielsicherer als sonst traf. Wen störte es, dass die Dinger grau aussahen! Wichtig war doch allein, dass sie nicht schwarz waren, dass ihre Trägerin diesem Schicksal entronnen war!
    Isimud Urkhart hatte nicht als Held versagt. Sie hatte den ersten Schritt aus der Dunkelheit heraus getan und darauf durfte sie stolz sein. Die Anthronin beschritt nun einen Pfad, der möglicherweise zum Heldentum führte, es aber nicht musste. Bitterkeit, Verbissenheit, Schuldgefühle, überzogene Ansprüche an sich selbst… nichts davon machte Isimud zu einer
    edleren Person, ganz im Gegenteil verpesteten diese Gefühle die Welt um sie herum als diene die Kriegerin noch dem Bösen. Ihrer Familie half sie jedenfalls nicht auf diese Weise.


    Isimud musste loslassen. Wie genau das funktionieren sollte, war ihr noch nicht klar, doch was sich endlich eingestellt hatte, war die Bereitschaft dazu.
    Zudem war sie eine unerwünschte Tochter losgeworden, hatte stattdessen eine geliebte Nichte gewonnen und etwa fünfzehn Jahre in der Zukunft wartete ein Abenteuer in der Firnisonhöhle auf sie.
    Bis dahin aber gab es noch viel zu tun: die Mauersteine für Bob zu schneiden, das Gold zu schürfen, mit dem Patt und Ham Krutzs Lehrer bezahlen wollten und natürlich Böse Schneebälle zu jagen. Als die grausamen Elementarwesen merkten, dass die Stimmung ihrer Gegnerin an diesem Tag durch nichts zu trüben war, nahmen sie allerdings von ganz allein Reißaus.

    ENDE

  • Ein kleines Preisausschreiben für alle, die bisher durchgehalten haben:


    Die beiden Goldsucher Patt und Ham hießen in meinem Konzept noch "Pat" und "Tschätt".
    Wer hat da als Namenspatron gedient?


    Antwort mit Quellenangabe per PN an mich bis Freitag 23:59 Uhr


    Zu gewinnen gibt es wahlweise:
    1 Lapislazuli
    1 Tigerauge
    1 Floh


    Bei mehreren Einsendern entscheidet der Würfel (über das /dice Kommando)

  • Die beiden Goldsucher Patt und Ham hießen in meinem Konzept noch "Pat" und "Tschätt".


    Vielleicht hast du es inzwischen schon korrigiert, aber an einer Stelle hat mich beim Lesen der plötzlich auftauchende Name Tschätt etwas irritiert. Jetzt weiß ich, wo es herkam. ^^

    Hanswalter öffnet einen Glückskeks und liest folgenden Spruch: Wer zuletzt lacht, hat es als letzter verstanden.


    Falls jemand Langeweile hat: In Professor Blooms Bibliothek steht ein Werk in 4 Bänden zu der Vorgeschichte Hanswalters.

  • Ja, ist korrigiert. Theodias hat mich im Kommentarthread drauf aufmerksam gemacht.

  • Krutz und der Hutmacher


    Seit Isimuds Abenteuer in der Firnisonhöhle waren zwei Jahre vergangen. Die kleine Krutz lebte noch immer bei ihren neuen Vätern im Lage unter dem Felsenüberhang im Adora-Gebirge. Mittlerweile war natürlich eine etwas größere Krutz aus ihr geworden. Sie hatte die Sprache der Menschen erlernt und diese im Gegenzug hatten sich ein paar schlechte Manieren von dem Goblinmädchen angewöhnt. Hatte sich auch kein Lehrer bereitgefunden, ein Goblinkind in Magie zu unterweisen, so war das auch kein Beinbruch. Krutz war ja noch klein und hatte Zeit… soviel Zeit.
    Kurzum, das Leben der drei war schön und unbschwert.

    Eines Tages jedoch setzte Patt eine besorgte Miene auf, als er gerade vom Fischen heim kam.
    Weder neugierige, noch besorgte Blicke und schon gar keine Fragen, was er denn hätte, brachten den Goldsucher dazu, Auskunft zu geben, was genau ihn bedrückte. Erst, als später am Abend ein süßer Brei im Kessel blubberte und die drei Fisch am Stock über dem Feuer brieten, kam der Mann ganz von selbst darauf zu sprechen: „Der Hutmacher schleicht in den Bergen herum“, meinte er düster. „Ich habe ihn am Fuß des Plateauberges gesehen.“
    „Irrtum ausgeschlossen?“
    Nicken.
    „Oh.“
    In das unheilsschwangere Schweigen der Erwachsenen mischte sich Krutzs Kinderstimme ein: „Wer isn das?“
    „Der verrückte Hutmacher…“ Patt spielte gedankenverloren mit seinem abgenagten Fischstock im Feuer. „Wie erkläre ich das am Besten…“
    „Er ist irre!“ sagte Ham. „Nicht mit normalen Maßstäben zu messen. Völlig anders!“
    „Ihr seid auch anders“, konterte Krutz. „Und ich bin anders.“
    „Nun, der Hutmacher ist anders-anders“, beharrte Ham. „Pass mal auf! Du siehst doch den Brei dort im Kessel. Ich sage jetzt, du und Patt und Isimud, wenn sie da wäre, sollten sich jeder eine Portion holen. Was würde passieren?“
    Krutz überdachte ihre Antwort, bevor sie sprach: „Nun, ich wäre als erster am Kessel. Ich stecke die Hand rein und hole mir einen Klumpen raus. Dann kommt Isimud. Sie steckt einen Teller rein und holt sich auch was. Als letzter kommt Patt mit seinem Löffel. Damit klatscht er zwei Portionen auf zwei Teller, eine für sich und eine für dich.“
    Ham nickte eifrig. „Ja. Im Prinzip tun wir alle dasselbe. Aber nun kommt der Hutmacher. Und der greift sich den Kessel, stülpt ihn sich über den Kopf und tanzt damit ums Feuer. Was dabei in seinen Mund tropft, das ist seine Portion. Zum Nachtisch streut er Zucker auf Wattebällchen, die er dann vertilgt, als seien es Speiseeiskugeln! Oder irgendetwas in dieser Art.“
    „Ham hat Recht“, erklärte Patt. „Dieser Kerl ist einfach nicht mit normalen Maßstäben zu messen. Sein Denken ist zu bizarr für unsereinen. Man weiß daher nie, was er als nächstes tun wird!“
    Die Erwachsenen sagten nicht „halte dich fern“, das hätte nicht geholfen. Sie konnten nur hoffen, dass ihre Warnungen eindringlich genug waren.
    Und das waren sie auch.
    Jedenfalls in gewisser Weise…

    Das Adoragebirge.
    Am ersten Tag des Sommerfestes.

    Es war ein ausnehmend heißer Sommertag, ideal um sich von zuhause fortzuschleichen, fand Krutz. Ihre Papas würden faul am Bach liegen, die Zehen ins Wasser baumeln lassen und gar nicht auf den Gedanken kommen, dass Krutz etwas anderes tun könnte als ebenfalls zu faulenzen.
    Stattdessen befand sich das Kind auf dem Weg zum Plateauberg.
    Ihre Papas hatten ihr zwar erklärt, dass der Hutmacher nicht böse war, wohl aber zu unverständlich für Leute wie sie und selbst für ihren lieben Windgeist. Deswegen mochte er Reisenden gefährlich werden. Na, und irgendjemand musste diese Reisenden vor der Gefahr warnen, ganz klar! Und das war sie, Krutz. Auch völlig klar.
    Soweit, sogut.
    Da stand das Mädchen nun am Fuße des riesigen Gebirges. Hatte Krutz bisher geglaubt, Berge zu kennen, so klappte ihr beim Anblick des riesigen Felsmassivs wortwörlich die Kinnladen herunter. Erneut fühlte sie dieselben Ehrfucht wie damals, als Isimud den Flattrigen Teufel besiegt hatte. Krutz starrte und starrte.

    Wie das Kind da so stand und schaute, erblickte es einen Pfahl, den jemand weit über ihrem Kopf in den Fels gerammt hatte. Ein Tau verlief darum, doch war kein Pferd daran angepflockt. Dafür befand sich der Pfahl auch viel zu nah am Rand der Klippe. Allzuleicht hätten Ross oder Reiter den Halt verlieren und abstürzen können.
    Doch was war das?
    Nur einen Schritt vom Pfahl entfernt stand ein Mann, auf dessen Kopf ein riesiger Zylinderhut saß. Er knabberte an etwas, das an einen großen Wattebausch erinnerte, allerdings von rosa Farbe war.
    „Der Hutmacher!“ wisperte Krutz, denn um niemand anderen als den Verrückten konnte es sich handeln. Und er war nicht allein!
    Eine Fee oder Elfe oder ein Wesen, das beides war, hockte im Schatten des Pfahls. Um ein Fußgelenk des Wesens war mit dicken Knoten ein Seil gebunden, das die Gefangene mit dem Pfahl verband.
    Krutz knirschte voller Zorn mit den Zähnen! Jemand anzuketten war schon bösartig, aber auch noch eine Kreatur, die das freie Fliegen im weiten Himmel gewöhnt war? Nein, das ging zu weit, das war nicht einfach anders, das war abgrundtief gemein!

    Das Kind zog sich ein Stück zurück. Aus der Sicherheit eines Brombeergesträuches heraus beobachtete es, was nun weiter geschehen würde.
    Die Fee redete auf den Hutmacher ein. Was gesprochen wurde, konnte Krutz nicht verstehen. Das Kind sah nur, wie der Mann drei Finger in die Luft reckte.
    Was immer er damit ausdrücken wollte, der Hutmacher schien nicht bereit, seine Gefangene frei zu lassen.
    Ach, wäre doch nur ihr Windgeist hier, dachte Krutz! Selbst ohne Flügel würde der sich schon zu helfen wissen. Er könnte… könnte… genau! Isimud könnte dem Hutmacher einen Wurfhaken über den Kopf hauen und dann die Fee befreien!
    Da der Windgeist aber nicht hier war, musste sich das arme Ding selbst behelfen. In einem beherzten Satz stürzte sich die Fee in die Tiefe.
    „Ja, ja!“ rief Krutz begeistert, schlug sich jedoch sogleich auf den Mund. „Zerreiss das olle Seil!“ nuschelte sie in ihre Hände.
    Doch soviel Glück war der Fee nicht gegeben. Als das Seil, an dem sie hing, auf volle Länge gespannt war, zerrte es sie wieder zurück und zwar in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit.
    Krutz ballte ihre Finger zur Faust! Nein, was hier geschah, das konnte sie nicht länger mit ansehen! Beherzt verließ die Kleine ihre Versteck und lief auf den Fels zu. Das Kind machte sich an den Aufstieg…

    Viele Kratzer und Schrammen später erreichte Krutz die unterste Ebene des Plateauberges. Das Kind sah sich um.
    Noch immer warf der Pfahl seinen Schatten bedrohlich über den Abgrund. Noch immer saß dort die gefesselte Fee. Und noch immer sprach sie auf den Hutmacher ein.
    Langsam, vorsichtig schlich sich Krutz an. Im Laufen zückte sie ihr Essmesser, das sie stets bei sich trug. Wie oft geschah es, dass ein leckeres Vögelchen ihren Weg kreuzte, das dann aufgespießt werden musste. Oder es galt, einen Zweig von einem Strauch abzuschneiden, der voller saftiger Beeren hing, wenn man kein Behältnis bei sich trug, in dem man sie hätte heimtragen können. Doch heute sollte das Werkzeug zu einer Waffe im Kampf um die Freiheit der Fee werden!
    Heimlich wie eine Ratte näherte sich Krutz dem Pfahl. Und dann – säbel,säbel,säbel! – begann sie das Tau durchzuschneiden. Nicht vollständig natürlich, denn sonst hätte der Hutmacher ja Verdacht geschöpft. Nur ein wenig anschneiden wollte Krutz das Seil. Bei ihrem nächsten Fluchtversuch würde die Fee sich dann mit einem einzigen Ruck befreien können.

    Zufrieden mit ihrem Werk zog sich Krutz wieder zurück. Dabei bemerkte sie, dass die Fee den Knoten um ihren Fuß löste.
    „Abgemacht!“ hörte Krutz den Hutmacher sagen.
    Na was denn nun? Hatte der Kerl etwas doch ein Einsehen? Irgendetwas musste die Fee ihm im Tausch für ihre Freiheit versprochen haben. Ach, hätte sie doch nur mehr Geduld gezeigt! Dann wäre Krutzs schöner Plan aufgegangen, ohne dass jemand in der Schuld des Irren hätte stehen müssen! Manchen Leuten war echt nicht zu helfen!
    Verstimmt kehrte Krutz nach Hause zurück.

    Auch der Hutmacher begab sich an den Abstieg.
    Oben auf dem Plateauberg aber lag noch immer das angeschnittene Seil.
    Dort erhob sich nun auch die Fee in die Luft. In ganz Simkea war ihre glockenhelle Stimme zu vernehmen, als sie eine Wette herausposaunte: „Ich wette, dass die Simkeaner es nicht schaffen, dass sich heute Abend zwanzig von ihnen auf dem Plateauberg versammeln!“

    Krutz presste die Lippen zusammen. War es das, was die Fee hatte versprechen müssen? An ihrer statt zwanzig Unschuldige in die Gefangenschaft des Hutmachers zu bringen? Oh, nein, wie konnte nur alles, alles so schrecklich schief gehen!
    Ohne nach links oder rechts zu blicken, rannte Krutz durch den Gebirgswald, „Windgeist, Windgeist!“ rufend. Wo blieb der nur, wenn man ihn einmal wirklich brauchte!

    Unterdessen war die Fee wieder gelandet. Zufrieden schaute sie in die Runde.
    Der Pfahl und das Seil fürs Bungjeespringen standen bereit. Ihr Test war erfolgreich verlaufen. Auch der Hutmacher befand sich am gewünschten Platz. Er baute gerade seinen Stand auf, an dem er die Preise verteilen sowie allerlei Naschwerk verkaufen würde. Auch die Wette war ausgesprochen worden, so dass nun nichts mehr einem erfolgreichen Sommerfest mehr im Weg stehen würde!

    Außer vielleicht der geringfügigen Tatsache, dass das Seil noch immer angeschnitten war…

    Fairness ist nicht, allen die gleichen Chancen auf Zieleinlauf zu geben, sondern dafür zu sorgen, dass jeder ankommt.


    Mein Geschichtenblog freut sich über Besucher!
    Und das Simsblog auch.

    Einmal editiert, zuletzt von Isimud ()

  • Krutz und der Hutmacher
    (Forts. wg. Zeichenbegrenzung)


    „Ja, bist du denn von allen guten Geistern verlassen?!“ schrie Ham im Lager der Goldsucher. „Einfach so ohne Hilfsmittel in den Bergen herumzukraxeln! Dir hätte sonstwas zustoßen können, selbst ohne den Verrückten Hutmacher!“
    „Aber… aber…“ stotterte Krutz. „Darum geht es doch absolut überhaupt gar nicht!“ Das Kind stampfte mit dem Fuß auf. „Da sind zwanzig Leute in Gefahr, denen wir helfen müssen! Wir müssen sie irgendwie davon abhalten, den Plateauberg zu erklimmen! Alle Wurfanker verstecken oder… oder… oder den Bach umleiten, dass niemand ihn überqueren kann! Irgendwas!“
    „Ich weiß nicht“, brummte Patt. „Der Beschreibung nach war das Flummii, die du gesehen hast. Eine von MasterX persönlichen Helfern. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie einfach so Unschuldige in eine Falle locken würde.“
    Aus großen, flehenden Augen blickte Krutz den Mann an. „Wenn der Hutmacher sie aber nun verzaubert hätte?“
    Patt war sich dessen nicht so sicher. Dennoch blieb ein letzter Rest Zweifel. „Wir sollten vielleicht“, überlegte er laut, „einfach hingehen und schauen, was passiert.“

    Und das taten die drei dann auch.
    Obwohl Krutz die Männer vorantrieb, wurde bald klar, dass die drei den Plateauberg nicht mehr rechtzeitig erreichen würden. Krutz war das noch nicht aufgegangen, doch Ham und Patt tauschten hinter ihrem Rücken beredte Erwachsenenblicke aus.
    Bereits von weitem hörten die Ankömmlinge laute Schreie.
    „Also für mich klingt das eher vergnügt als leidend“, behauptete Ham. „Oder beides. So wie wir damals, als wir auf einem Baumstamm die Rutsche der Flöszer runtergefahren sind.“
    Patt lachte! „Genau so etwas in der Art passiert dort gerade wieder! Schaut!“
    Vor den Augen der drei Bergbewohner stürzten sich Männer, Frauen und Kinder einer nach dem anderen vom Berg. Jeder von ihnen hatte sich vor dem Sprung mit einem Seil gesichert, das ihn, sie oder es kurz vor dem Aufschlag auf dem Boden wieder in Sicherheit zurückbrachte.
    „Scheint Spaß zu machen“, kommentierte Patt. „Woll´n wir auch mal?“
    „Öhm… und was ist mit dem Seil? Immerhin hat unsere Tochter es heute Morgen angeschnitten, wie du dich erinnern wirst!“
    Patt schüttelte den Kopf. „Das Seil wird Flummii doch sicher vor dem ersten Sprung noch mal überprüft und ausgewechselt haben, als sie es kaputt vorfand!“ Der Goldsucher stockte. „Ich meine… in einer Geschichte wäre lustig, wenn es ein paar Sprünge hielte und erst dann risse. Aber wir befinden uns nicht… in… einer… Geschichte…“

    Mit einem Mal schien die sich Welt wie in Zeitlupe zu drehen. Mit jedem Wort des Mannes näherte sich der derzeitige Sprungkandiat dem Boden. Die Welt kannte Ironie, denn es handelte sich um Isimud Urkhart, dem seine Gabe der Flügel dummerweise nur dann zur Verfügung stand, wenn sich jemand anderes in Lebensgefahr befand. Er fiel… und fiel… und fiel…
    „Wiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiindgeiiiiiiiiiiiiiiiiist!“ schrie Krutz aus vollster Kehle.
    Tränen schossen dem Kind in die Augen. In ihrem Bemühen, das Richtige zu tun, hatte sie möglicherweise ihren Lebensretter zum Tode verurteilt.
    Dann, mit einem Male, Flupp!, spannte sich das Seil und Isimud flog auch ohne Schwingen, sicher, wenn auch ein wenig unbequem, wieder in die Höhe.
    Krutz aber brach in bitterliches Weinen aus. Denn obwohl ihrem Windgeist nichts geschehen war, war das alles ein wenig zu viel für ein Kind von sechs Jahren.

    Plötzlich hörten die drei eine Stimme: „Na, aber! Wer weint denn da? Das viele Wasser brauchen wir doch erst für die zweite Aufgabe!“
    Patt und Ham zuckten zusammen. „Der Hutmacher!“
    Der Angesprochene zog seinen Zylinder. „Der verrückte Hutmacher, bitteschön“, korrigierte er. „Aus der Mitte verschoben an einen anderen Ort.“
    Der Mann langte in einen Beutel, den er am Gürtel trug. „Hier, nehmt jeder ein wenig Watte!“ forderte er die Goldsucher auf. „Die müsst ihr euch in den Mund stecken, denn die Krummfrüchte steckt man sich heutzutage in die Ohren. Daher muss man die Watte essen.“
    Zögerlich nahmen die beiden Männer die Zuckerwatte entgegen.
    Der Hutmacher aber sprach bereits in vorwurfsvollem Tonfall weiter: „Euer Kind habt ihr allerdings gründlich falsch erzogen. Wie gesagt, das Tränenmeer brauchen wir erst viel, viel später. Voreiligkeit tut nicht wohl, schon gar keinem Kind.“
    Er beugte sich zu Krutz herunter.
    „He, kleiner Stinker!“
    Krutz schniefte vernehmlich.
    „Na komm, hör schon auf zu weinen! Tränen sind nichts für Kinder. Das heißt, sie sind eins der Dinge, von denen wir nicht wollen, dass ihr sie schon bekommt. Aber in diesem einen Fall, muss ich sagen, haben wir Erwachsenen damit auch mal Recht. Komm, fass dir ein Herz!“
    Mit diesen Worten drückte der Hutmacher Krutz ein Lebkuchenherz in die Hände.

    Unterdessen sprangen die Simkeaner munter weiter vom Plateauberg.
    „Nun denn“, sprach der Hutmacher. „Ich muss mal wieder los, Preise verteilen. Wenn ihr Springen wollt, dann könnte ihr das jederzeit tun. Es gab da ein kleines Problem mit dem Seil, aber das hat sich geklärt.“
    „Ist… ist jemand dabei zu Schaden gekommen?“ wagte Patt zu fragen.
    Mit ernster Miene nickte der Hutmacher.
    Unwillkürlich ergriffen die Männer die Hand des jeweils anderen.
    „Du“, antwortete der Verrückte, auf Patt deutend. „Und du.“ Dabei bekam Ham den Finger in den Bauch gerammt. „Und ganz besonders eure Kleine“, schloss der Hutmacher seine Aufzählung.
    „Niemand sonst?“
    „Nein, niemand sonst. Aber drei gequälte Seelen sind schlimm genug, und dass euch das nicht weiter zu berühren scheint, finde ich, verzeiht mir, ein ganz klein wenig irre.“

    Mit diesen Worten ließ der Hutmacher die beiden Menschen und das Goblinmädchen stehen.
    Erst, als er schon beinahe außer Sicht geraten war, drehte er sich noch einmal um und winkte der kleinen Familie.
    „Iss das Herz, Kind“, forderte er Krutz auf. „Ab in den Magen damit, denn an der rechten Stelle hast du ja schon eins!“