Selbst die schlimmste Lage schien ihre heiteren Momente zu besitzen. Isimud hatte diese Erfahrung bereits als kleines Kind gemacht: Wenn er und sein Zwilling krank das Bett hatten hüten müssen, hatte es manchmal etwas Besonderes zu Naschen gegeben. Waffenknechte der Familie, die von den neuen Herren zu tödlichen Arenaspielen einberufen wurden, hatten sich allen Ernstes darauf gefreut, einmal im Leben aus dem Tal im Delta des mächtigen Buranum-Stroms heraus und in eine große Stadt zu kommen. Selbst die Sklaven auf den Feldern des elterlichen Guts hatten bisweilen miteinander gescherzt (und damit war nicht das Dauergrinsen gemeint, das sie zur Schau trugen, wenn sie sich nach ihrem Erschöpfungstod in die Reihen der Skelettkrieger, die die Urkhart´schen Besitzungen schützten, einreihten).
So erging es an diesem Morgen auch dem Verbannten. Die Sonne war noch nicht über den Horizon getreten, doch war ihre Ankunft bereits zu erahnen. Dies war die Stunde der Diebe – Isimud gedachte sie zu nutzen.
“Wir sind Vogelfreie, Krutz!” sprach Isimud verschwörerisch zu dem Goblinkind. “Feinde der Menschheit!” Er beugte sich zu seinem Schützling hinunter. “So wie Piraten, nur eben auf dem Land!”
Krutz kicherte. Ohne den Übersetzunsgzauber verstand das Kind kein Wort von Isimuds Rede, doch der Tonfall munterte es auf.
“Weißt du, was wir jetzt tun? Wir stehlen die Äpfel aus dem Hain!”
Um ganz Trent herum wuchsen Apfelbäume. Sie gehörten der Stadt, also gleichzeitig niemand und jedermann. Die Trenter Bürger durften jederzeit von diesen Bäumen pflücken. Ob das auch noch für einen Verbannten galt, wagte Isimud zu bezweifeln.
“Komm! Hier geht´s lang!”
Das Kind hinter sich herziehend, rannte Isimud die letzten Meter bis zu den Bäumen. So früh am Morgen befand sich noch kein Obstpflücker hier draußen. Lediglich ein paar Jugendliche kaum jünger als Isimud selbst schliefen tief und fest unter den Bäumen. Sie hatten am gestrigen Abend Äpfel geerntet und dabei entweder ihre Kräfte überschätzt. Möglicherweise sahen es auch als eine Mutprobe an, die Nacht im Hain zu verbringen.
Volle Körbe mit Äpfeln standen neben den Jugendlichen. Krutz wollte darauf zu eilen und sich bedienen, doch der Windgeist hielt ihr Handgelenk fest.
“Nicht von den Kindern!” rügte er das Mädchen. Dabei warf er allerdings einen Seitenblick auf die Proviantbeutel der jungen Obstpflücker. Ob da vielleicht einer Isimuds Lieblingsspeise, Windbeutel, bei sich trug? So bald würde ihm niemand wieder welche backen. Da durfte, nein, da musste man zugreifen, solange sich die Gelegneheit bot! Und er würde den solcherart Bestohlenen ja auch etwas ähnlich Wertvolles in die Beutel stecken, nahm sich Isimud vor.
Glücklicherweise hatten ihre Eltern die Jugendlichen nicht mit derartigen Leckerbissen ausgestattet, so dass die Moral des Verbannten in dieser Hinsicht nicht auf die Probe gestellt wurde.
Isimud deutete auf die Äste, an denen bereits wieder saftige rote Früchte zu reifen begannen. “Die holen wir uns!”
Krieger und Goblin reckten sich, um an die untersten Äste zu gelangen. Sie sprangen aus dem Stand nach den Früchten und wetteiferten, wer wohl einen Apfel mit einem Steinwurf vom Ast zu schlagen vermochte. Schließlich hob Isimud die kleine Krutz auf die Schulter und sie biss vor Übermut von einem Apfel ab, während der noch am Ast hing. Eifrig knabberten die Goblinzähne rundherum, bis am Ende nur noch ein Kerngehäuse hängen blieb.
Stolz zeigte das Kind dem Windgeist sein Werk. Isimud grinste, doch da bemerkte er, dass sich die Schlafenden zu rühren begannen.
“Los, weg hier!”
Mit ihrer Beute machten sich die beiden “Vogelfreien” davon.
Nachdem sie eine Weile gerannt waren, liefen sie in normalem Tempo weiter, dabei in ihre gestohlenen Äpfel beißend. Isimud verspeiste seinen mit Griebs und allem, Krutz hingegen zupfte sorgsam eine fette Made aus ihrem heraus, um diese erst als Nachspeise zu verputzen.
Die Sonne kam allmählich über den Horizont. Es versprach, ein angenehmer Tag zu werden und so schritten Isimud und Krutz beschwingt und guter Dinge aus.
Nachdem sie eine Weile so gewandert waren, stellte sich die Frage: Wohin nun?