Beiträge von Miriam Meernixe

    "Der Kairos ist vieles auf einmal: Der Unerreichbare, der Unbekannte und der Chancenbereiter."


    Miriam saß am Meer und dachte nach. Sie war jetzt seit einer Woche im verborgenen Dorf und hatte sich gut erholt. Ihr Knöchel schmerzte sie nicht mehr und der bohrende Hunger war schon längst gestillt. Im Grunde hatte Grono nur das bestätigt, was sie auch in ihrem Inneren fühlte:
    Sie war nur auf der Durchreise. Der Frieden hier täuschte, denn der Rest von Noröm war in Aufruhr und in Gefahr. Und so freundlich sie hier auch aufgenommen wurde, vermisste sie doch diejenigen, die ihrem Herzen am nächsten waren. Miriam musste zumindest versuchen, ihre Mutter und ihre Tanten im Reich der Nixen zu finden und sie warnen oder ihnen helfen, sich vor den Dämonen zu verstecken. Sie musste an Noreia denken, an Madanja und die anderen des großen Zirkus'.
    Die Welt war anders geworden, aber wenn sie sich hier verkroch, könnte sie sich nicht mehr selbst in die Augen schauen. Noröms Widerstand wartete auf sie, und Grono hatte ihr nur den Anschub gegeben, den sie brauchte. Trotzdem bedauerte sie, diese Oase hinter sich zu lassen. Aber dies war nicht der rechte Augenblick, zu verweilen. Sie würde jetzt am besten zurückgehen, sich von allen verabschieden und morgen in aller Frühe aufbrechen. Sie wusste, das war, was der Kairos von ihr wollte.

    "Den Kairos zu ergreifen kann uns ebenso zu unserem Schicksal führen wie ihn zu verpassen."


    Während Prugra am nächsten Morgen alle Wesen besuchte, die sie aus ihrer früheren Zeit kannte, setzte sich Miriam zu Grono und berichtete ausführlich von ihrer Reise. Immer wieder unterbrach ihre Erzählungen und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Der Schrecken des Erlebten hatte sich tief in ihr festgesetzt. Grono wartete geduldig und spendete wortlosen Trost. Das half der Meernixe, ihren ihren Bericht zu Ende zu bringen. "Und jetzt kann ich mich bei Euch verstecken, bis Lord Akuma mit seinen Truppen das Land verlassen hat?" fragte sie hoffnungsvoll.
    Grono schüttelt traurig den Kopf: "Das wird er nicht. Er wird ganz Noröm knechten. Viele sind gestorben in den letzten Wochen, noch mehr versklavt, es gibt noch einige Verstecke wie dieses, aber wir werden alle um unsere Freiheit kämpfen müssen. Ich habe Deine Zukunft gesehen. Sie liegt nicht hier, so gerne wie ich Dich hier habe, Miriam. Deine Zukunft liegt anderswo. Zunächst musst Du da draußen versuchen, den anderen zu helfen. Du bist eine Kämpfernatur. Wenn Du Dich dem Kampf nicht stellst, dann werden wir mehr Seelen an die Dämonen verlieren. Ich mache Dir nichts vor, dieser Kampf wird nicht einfach und er wird leidvoll. Aber ich habe in Deiner Zukunft auch gesehen, wie Du eines Tages friedlich und in aller Seelenruhe im Wald unter einem Blaubeerbusch schlafen wirst, während ein Reh neben Dir grast. Ist das keine Aussicht, für die es sich zu kämpfen lohnt?"

    "Manchmal müssen wir innehalten, damit der Kairos uns finden kann."


    Joninn führte sie durch einen Spalt im Fels in ein Gangsystem. Er hatte eine Fackel dabei, und Miriam war froh, dass er so zielstrebig den Weg vorgab, da sie die engen Tunnel sehr beklemmend empfand. Doch nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete sich der Gang in eine große Höhle. In der Höhle waren mehrere Gruppen von Wesen, die um einzelne Feuer saßen oder arbeiteten. Es war eine enorme Anzahl von verschiedenen Wesen: Miriam sah Bärenmenschen, Werwölfe, Feen, Zwerge, Trolle und andere Wesen. Eine solche Vielfalt hatte sie an einem einzigen Ort noch nie gesehen. Es beeindruckte sie, wie friedlich alles wirkte. Auch wenn sie im Inneren eines Berges war, hatte sie fast das Gefühl, all das Furchtbare der letzten Wochen wäre nicht passiert.
    Joninn strebte in den hinteren Teil der Höhle, und Prugra und Miriam folgten ihm.
    Dort saß in einer Nische im Fels ein kleiner Drache, alles in allem etwa einen Meter lang. Trotz dieser geringen Körpergröße wirkte er königlich. Joninn stellte ihn Miriam vor: "Das ist Grono. Er ist das Oberhaupt dieser Siedlung und ein großartiger Hellseher. Er hat den Einfall der Dämonen vorher gesehen und er hat auch gewusst, dass ihr heute ankommen würdet." Der Drache begrüßte die beiden. "Setzt Euch zu uns und esst. Danach schlaft Euch aus. Morgen ist dann noch genug Zeit, sich auszutauschen, jetzt aber solltet ihr Euch von Eurer Reise erholen." Miriam war dankbar über diese Einladung. Und so genoss sie den Abend in der friedlichen Atmosphäre, die ihr einiges an verlorener Kraft zurückgab.

    "Sei wachsam! Halte den Karios nicht deswegen für einen Bettler, weil er sich einen schmutzigen Umhang umgelegt hat."


    Miriam hockte sich neben die Werkatze und umarmte sie, um der anderen ein wenig Trost zu spenden. Sie schaute sich um und entdeckte keine Leichen. Sie überlegte, was das zu bedeuten haben könnte. Erst wollte sie es Prugra sagen, damit sie daraus Trost fassen könne, aber dann erinnerte sie sich an die schaurige Nacht und es beschlich sie die Angst, dass den Bewohnern etwas Schlimmeres als der Tod widerfahren sein könnte.
    Plötzlich hörten sie etwas rascheln. Instinktiv verwandelte sich Prugra wieder in einen Panther und Miriam zog ihre Waffe aus dem Stiefel. In dem Moment trat ein kleiner Troll aus den Ruinen hervor. "Frieden, Prugra", sagte er mit angenehmer Stimme. "Joninn! Was ist hier nur passiert? Waren es die Dämonen?" Prugra war auf das kleine Wesen voller unterdrückter Wut losgeschossen und hatte dieses fast umgerissen. "Gemach, meine Dame, dies ist eine Finte, um den Feind zu täuschen. Grono hatte vor einigen Wochen eine Vision von einem Heer von Dämonen, die das Land verwüsten. Wir sind daraufhin in die unterirdischen Höhlen gezogen, die wir ja schon als Versteck gegen die Menschen eingerichtet hatten. Zur Tarnung vor dem Feind haben wir die alten Hütten niedergebrannt. Heute hat Grono mich hierher geschickt. Er hat vermutlich gesehen, dass ihr kommen würdet." Der Troll blickte skeptisch zu Miriam. Prugra übernahm die Vorstellung: "Das ist Miriam. Sie ist eine Halbnixe und wäre beinahe von Dämonen getötet worden. Sie hat furchtbare Neuigkeiten mitgebracht, die sie Euch erzählen muss." Joninn nickt. "Dann sollte ich Euch zu Grono bringen. Er wird wissen, was zu tun ist. Folgt mir." Dankbar, dass sie endlich wieder unter Gleichgesinnte kommen sollten, folgten sie dem Troll.

    "Kairos ist wankelmütig und unvorhersehbar in seiner Gunst."


    Sie hatten Miriam einen weiteren Tag Ruhe gegönnt und ihr eine Krücke gebaut. Am darauffolgenden Tag brach sie zusammen mit Prugra auf. Sie kamen nicht besonders schnell voran, da Miriam mehr humpelte denn ging. Die Werkatze nutzte diese Zeit, um zu jagen und nach einem guten Platz für ein Lager zu suchen. Bereits am zweiten gemeinsamen Reisetag fielen die beiden in eine Routine. Miriams Knöchel ging es langsam besser, und so wurden die Tagesstrecken auch immer länger. Die Zusammenarbeit funktionierte so gut, dass man denken konnte, dass sie schon seit Monaten zusammen reisten. Miriam hatte aufgehört, die Tage zu zählen, und irgendwann sagte Prugra, dass sie abends Matala erreichen müssten. Das Dorf drängte sich zum Schutz an einem Berghang, und auf der anderen Seite des Berges lag das Meer. So verbarg er die Siedlung vor neugierigen Blicken. Und tatsächlich sahen sie am späten Nachmittag etwas vor sich, doch es war nicht das, was Prugra erwartet hatte. Diese fing sofort an zu laufen und lief Miriam davon. Doch auch die Meernixe mobilisierte all ihre Kräfte und hastete der Werkatze hinterher. Es dauerte eine Weile, bis sie Prugra fand: Sie lag in ihrer menschlichen Gestalt zwischen den verkohlten Resten des niedergebrannten Dorfes und weinte bitterlich.

    Man kann die Geschenke des Kairos teilen, ohne sie zu schmälern.


    Prugra verband und schiente Miriams Knöchel sorgfältig. Sie half ihr zu einer geschützten Stelle, und zusammen errichteten sie ein notdürftiges Lager. Die Werkatze ging jagen. Abends saßen sie an einem kleinen Feuer zusammen und grillten das Fleisch. Bei dieser Mahlzeit redeten sie sehr viel, bzw. Miriam erzählte und Prugra hörte zu. Die Werkatze war ein scheues Wesen und nicht gewohnt, mit anderen zusammen zu sein. Und so erzählte Miriam ausgiebig aus ihrem Leben. Als Prugra erfuhr, dass auch die Andere kein Mensch war, wurde sie im Umgang etwas entspannter. Zuletzt berichtete sie aber auch von der aktuellen Reise und den schrecklichen Dämonen. Das erschreckte Prugra zutiefst. "Es gibt eine kleine versteckte Siedlung, weiter im Westen nahe der Küste. Dort leben viele Wesen, die es unter den Menschen nicht leicht haben, es ist wie ein Bergfried vor der Verfolgung durch die Menschen. Ich habe dort auch eine Zeit lang gelebt, aber mir waren dort zu viele. Wenn jetzt die Dämonen nach Beute suchen, dann müssen wir sie warnen. Wir sollten aufbrechen, sobald Du etwas zu Kräften gekommen bist." Nachdem Prugra die ganze Zeit so verschlossen gewesen war, merkte Miriam sofort, dass dieses Anliegen der Werfrau wichtig war. Deshalb nickte sie. Zu später Stunde legten sie sich hin, um noch ein wenig zu schlafen.

    "Ganz selten bleibt der Kairos sogar stehen, damit du ihn staunend bewundern kannst, bevor er weiterläuft."


    Als Miriam erwachte, waren alle Schmerzen wieder da. Sie wusste nicht, wie lange sie bewusstlos gewesen war. Sie drehte den Kopf und erschrak: Neben ihr saß ein Panther und beobachtete sie lauernd. Jetzt war es endgültig vorbei, sie hatte weder den Willen noch die Kraft, sich noch einmal zu wehren. Und vermutlich war es auch besser, die Mahlzeit einer Wildkatze zu werden, als hier jämmerlich zu krepieren oder von Dämonen entseelt zu werden. So drehte sie nur müde den Kopf weg und zeigte dem Panther ihren bloßen Hals als Zeichen ihrer völligen Aufgabe. "Mach es schnell!" Miriams Stimme klang rau. Sie schloss in Erwartung des Schmerzes die Augen, doch dieser kam nicht. Stattdessen hörte sie eine Stimme. "Nicht so theatralisch. An Dirrr ist sowieso nicht mehr viel drrran! Ich beobachte Dich schon seit einer Weile und als Du gestürrzt bist, dachte ich, dass ich vielleicht helfen kann." Miriam drehte verblüfft den Kopf zurück. "Wer bist Du?" In diesem Moment verwandelte sich der Panther neben ihr in eine Frau. "Ich bin Prugra. ich bin eine Werkatze, seit meiner Jugend von den Menschen gejagt und verfolgt. Nun verbringe ich hier in der Einöde mein Leben. Ich bin nur noch selten in menschlicher Gestalt, da diese, wie Du selbst erkennen musstest, für dieses Gebiet völlig unbrauchbar ist. Doch genug von mir: lass mich Dir helfen." Miriam nickte dankbar und zog vorsichtig ihren Stiefel aus.

    "Vergiss nie, dass die Göttin der Hoffnung, Elpida, die Geliebte des Kairos ist."


    Es gab einen Grund, warum Gebiete nur spärlich bewohnt waren! Miriam fluchte, weil sie seit mehreren Tagen über Geröllhänge kletterte, auf denen kaum etwas wuchs. Manchmal gab es eine kleine Quelle, von der sie trinken konnte, aber viel zu essen fand sie nicht. Sie kaute auf dem einen oder anderen Zweig, um den Hunger in ihrem Magen nicht so sehr zu spüren, aber die anstrengenden Tage und Nächte forderten ihren Tribut. Ihr Kopf war leer und die Beine wollten ihr nicht mehr gehorchen. Erschöpft sah sie vor ihrem inneren Auge erneut die furchtbaren Bilder der Schreckensnacht. In diesem Moment rutschte das Geröll unter ihr weg, und sie verlor den Halt. Miriam hatte nicht die Kraft, sich aufzufangen und schlitterte ein gutes Stück den Hang hinab. Als sie sich aufsetzen wollte, fuhr ein stechender Schmerz durch ihren Knöchel. Sie hatte an zahlreichen Stellen Abschürfungen, aber ihren Fuß schien es am schlimmsten getroffen zu haben. Sie versuchte, ihn zu bewegen. Es tat höllisch weh, aber es ging. Noch einmal versuchte sie, sich etwas besser hinzusetzen. Diesmal begann sich die ganze Erde zu drehen. Miriam fiel erneut, aber dieses Mal in eine angenehme Schwärze.

    "Weil ich auf den Kairos höre, weiß ich, dass das Tal nur deswegen beschattet ist, weil die Sonne scheint."


    Miriam zog instinktiv ihr Messer aus dem Stiefel, aber sie war sich selbst der Hilflosigkeit dieser Geste bewusst. Trotzdem war sie nicht bereit, sich kampflos zu ergeben. Das Wesen mit den blutroten Augen und der feurigen Gestalt schüttelte aber den Kopf. "Ich will Dir nichts Böses. Ich wurde auf diese Welt gezwungen und mein Herz ist voller Rache, aber nicht gegen Dich." Miriam konnte nicht fassen, was sie hörte. "Aber viele meiner Brüder ist das egal. Die Magie zwingt uns, den Zauberer, der uns das angetan hat, zu schonen und so feiern viele meines Volkes ihre Wut, indem sie die Seelen der Wesen hier brechen und aussaugen. Aber ich kann nicht, Du musst fliehen. Möglichst in eine Richtung, wo wenig Leben ist, denn der Geruch des Lebens zieht uns an. Ihr nennt uns Dämonen, aber Du musst verstehen, dass es der Zauberer war, der unsere böse Seite nutzt und verstärkt, um Euch gefügig zu machen. Und jetzt geh, damit ich das Gefühl in mir behalten kann, dass ich wenigstens einem von Euch geholfen habe."
    Miriam nickte. Ihre Gedanken waren nicht mehr klar, nachdem was sie heute alles erlebt hatte. Da es sehr dunkel war, entschied sie sich, am Rand der Hügelkette nach Westen zu laufen, denn ein Abstieg war jetzt zu gefährlich. Außerdem wusste sie, dass sich im Westen eine karge, wenig besiedelte Landschaft anschloss. Und so suchte die Meernixe ihr Seelenheil in der Flucht.

    Mein Lieblingsweihnachtsgedicht:


    Markt und Straßen stehn verlassen,
    Still erleuchtet jedes Haus,
    Sinnend geh' ich durch die Gasssen,
    Alles sieht so festlich aus.


    An den Fenstern haben Frauen
    Buntes Spielzeug fromm geschmückt,
    Tausend Kindlein stehn und schauen,
    Sind so wunderstill beglückt.


    Und ich wandre aus den Mauern
    Bis hinaus ins weite Feld,
    Hehres Glänzen, heil'ges Schauern!
    Wie so weit und still die Welt!


    Sterne hoch die Kreise schlingen,
    Aus des Schnees Einsamkeit
    Steigt's wie wunderbares Singen -
    O du gnadenreiche Zeit!


    Joseph von Eichendorff

    "Alles ist den Händen des Kairos: Chaos und Ordnung, Leben und Tod, Freude und Schmerz, Vergangenheit und Zukunft."


    Miriam konnte den Blick von dem Treiben unter ihr im Tal nicht losreißen. Um sie herum wurde es immer dunkler und sie erkannte, dass heute Neumond war. Während ihr noch immer nicht klar war, was das alles zu bedeuten hatte, begannen plötzlich im Tal dumpfe Trommeln zu dröhnen. Sie hörte Schreie, aber sie konnte aus der Entfernung nicht sehen, was passierte. Dann aber wurde der riesige Scheiterhaufen entfacht, und sie sah entsetzt, dass man die Gefangenen an das Schwert gefesselt hatte und man diese nun bei lebendigem Leib verbrennen würde. Beinahe wäre sie aufgesprungen, um diesem fürchterlichen Tun irgendwie ein Ende zu setzen, doch gerade rechtigzeitig wurde ihr bewusst, dass sie nichts ausrichten konnte. Und so brannten sich die Schreie der Opfer in ihre Seele ein, als die Flammen immer höher schlugen. Eine dichte Rauchsäule stieg am Schwert in die schwarze Nacht empor. Aufgestachelt durch die Schreie der brennenden Menschen wurde der Rhythmus der Trommeln immer schneller und endete in einem Crescendo. In der plötzlichen Stille begann das unheilsvolle Schwert an zu glühen und schmolz. Aus der Glut entstigen dämonischen Wesen, die sich um das Feuer sammelten. Miriam musste fliehen, wenn sie eine Chance aufs Überleben haben wollte. Sie erhob sich leise, drehte sich um und blickte in blutrote Augen.

    "Der Kairos liebt das Unerwartbare."


    Die Nacht, als sie den Fluss verlassen hatte, war jetzt schon wieder ein paar Tage her. Miriam hatte den Überblick über die Zeit verloren. Die Hänge der Berge, die sie gerade erklomm, waren nicht sehr steil und stark bewaldet. Durch die Deckung, die die Bäume boten, konnte sie wieder tagsüber reisen. Während sie im Fluss Fische gefangen hatte, war seitdem ihre Ernährung spärlicher geworden. Meist aß sie nur die Beeren und Nüsse, die sie zwischendurch fand. Doch gleich hatte sie die Kuppe erreicht. Die Sonne stand schon sehr tief, sie würde deswegen warten, bis es dämmrig war, bevor sie weiterging, um das dahinter liegende Tal zu überblicken.
    Zwei Stunden später traute sich Miriam aus der Deckung und was sie vor sich sah, ließ ihren Atem stocken: Die Hänge vor ihr waren alle abgerodet. Unten im Tal gab es unzählige Lagerfeuer, und auf einer Seite der Ebene konnte sie eine Unmenge an Gefangenenwagen ausmachen. Doch was Miriams Blick sofort auf sich zog, war eine originalgetreue Nachbildung des Norömschwertes, welche am tiefsten Punkt des Tals stand. Zu ihrem Entsetzen schimmerte es bedrohlich schwarz, finsterer noch als die herannahende Dunkelheit. Am Fuß des Schwertes huschten Schatten hin und her. Es schien, als würden sie einen riesigen Scheiterhaufen aufbauen. Miriam schüttelte ungläubig den Kopf. Was passierte hier?

    "Jedes Problem hat seine eigene Zeit."


    Seit fünf Tagen und Nächten war Miriam wieder frei. Während des Tages versteckte sie sich, nachts was sie unterwegs. Sie war in der zweiten Nacht zu einem Fluss gekommen, den sie seitdem zur Reise nutzte. Dieser erschien ihr sicherer als die Straße, denn dort waren sehr viele Leuteunterwegs. Aber da es auch Dörfer entlang des Flusses gab, tauchte sie auch hier nur wenig auf. Sie hatte kein gutes Gefühl, jetzt mit anderen in Kontakt zu kommen.
    Obwohl sie wusste, dass ihr Gefängniswagen sie nach Norden bringen wollte, und auch Noreias schlechte Nachrichten aus dieser Richtung kamen, reiste sie weiter nach Norden. Vielleicht trieb sie die Neugier an, vielleicht auch etwas anderes.
    So schwamm sie flussaufwärts, auch wenn das sehr anstrengend war und der Fluss immer weniger Wasser führte. In ein paar Stunden würde sie ihn verlassen müssen und wieder zu Fuß weiterlaufen. Dann wurde es wieder gefährlicher: Eine Reise auf der Straße kam nicht mehr in Frage, aber auch eine nächtliche Reise abseits ausgetretener Wege war nicht einfach, da sie im Dunkeln nicht gut sehen konnte. Nun ja, jedes Problem zu seiner eigenen Zeit, dachte sie und schwamm weiter.

    "Der Kairos hilft denen, die sich selbst helfen."


    Miriam sog die Luft ein und griff nach dem Messer in ihrem Stiefel. Tong machte eine Handbewegung und die Hunde drehten sich um und fielen den Muskelprotz an, der sich gerade noch den Schlaf aus den Augen wischte. Da er noch am Boden war, waren die Hunde klar im Vorteil. Die Frau begann, leise Worte zu murmeln. Miriam reagierte instinktiv. Sie sprang vorwärts und warf ihr Messer. Sie war erstaunt, dass das Messer genau das Auge traf. Der Mann schrie jetzt, weil die Hunde ihn schon mehrfach gebissen hatten. Tong machte eine weitere Handbewegung und die Schreie verstummten.
    Miriam war sich sicher, dass beide Häscher tot waren und war erleichtert. Einen Moment dachte sie daran, ihr Messer nicht zurück zu holen, aber diesen Luxus konnte sie sich nicht leisten. Sie wappnete sich und war froh über die Dunkelheit, als sie das Messer wieder an sich nahm und es säuberte. Sie ging zurück zu Tong: "Ich danke Dir, ohne Dich wäre mir die Flucht nicht gelungen." "Ja, aber ohne Deine Hilfe hätte ich esvielleicht auch nicht geschafft. Wir sollten in unterschiedliche Richtungen fliehen, damit man unseren Spuren schlechter folgen kann, wenn jemand die beiden finden sollte. Ich nehme den Jungen mit, er schläft noch und er hat sich an mich gewöhnt." Miriam nickte. Wohin sollte sie sich wenden? Jetzt in der Nacht wäre die Straße der sicherste Weg. Die Feen waren nach Süden geflogen, also würde sie der Straße eine Weile weiter nach Norden folgen, bevor sie sich ein Versteck suchte. Sie umfasste Tongs Hand und drückte diese fest. Dann drehte sie sich um und verschwand in der Nacht.