Etwa zehn Minuten später:
„Was genau geht hier vor?“ zischte Patt.
Isimud hörte seine Worte nah an ihrem Ohr. Kein Wunder, saßen die beiden ja Rücken an Rücken gefesselt an Deck eines Schiffes mitten auf dem offenen Meer! Wie es dazu gekommen war, das war den beiden nur schwach bewusst. Hatte sie nicht eine Riesdenfledermaus angegriffen? In einer Höhle im Adoragebirge? Ja, so war es gewesen. Und obwohl weder Isimud noch Patt sich daran erinnerten, von dem Monster fortetragen worden zu sein, musste es sich wohl so zugetragen haben. Denn sonst wären sie ja nicht hier gelandet...
Der Himmel über den Köpfen der Gefangenen war dunkel, doch nicht etwa, weil die Nacht hereingebrochen wäre. Isimud erinnerte sich noch gut an die Düsternis, die von ihrer ersten Heimat Besitz ergriffen hatte. Eben jene unnatürliche Finsternis umhüllte sie nun wieder.
Noröm!
Hätte noch ein letzter Rest Zweifel daran bestanden, wo sie sich befanden, so zerstreute ihn ein Blick zum Himmel. Einst sollte dieser voller Sterne gehangen haben, doch nun drang nur das Licht der Hellsten unter diesen durch die Finsternis. Sie bildeten Isimud wohlbekannte Sternbilder.
In weiter Ferne zeichneten sich die Küszenlinien mehrerer Inseln ab. Dort drüben erhellten einige magisch erschaffene Kunstsonnen von der Art, wie sich auch über der Urkhart-Feste geleuchtet hatte, die ewige Nacht.
Nur wenige hundert Meter entfernt dümpelte ein aus zahllosen Pflanzensträngen geflochtenes natürliches Seil auf dem Ozean. Isimud „erkannte“ es sofort als den Äquator, dessen physische Existenz sie nie angezweifelt hatte. Worum es sich in Wirklichkeit handelte, wussten wohl nur die Matrosen auf dem Schiff.
Dies alles erklärte natürlich sowohl den Geruch nach Meeresluft als auch den Gestank einer Bodenranke, jedoch nicht, wie es zu dem Ortswechsel gekommen war.
„Wir sprachen über den Äquator“, erinnerte sich Isimud. „Und meine Kindheitsträume. Und irgendwie müssen wir durch die Höhle zurück nach Noröm gelangt sein, an einen Ort, der unseren Tagträumen entspricht.“
„Puh!“ stieß Patt aus. „Dann haben wir Glück gehabt. Hätten wir stattd deiner über meine Vergangenheit gesprochen, säßen wir jetzt womöglich in der Dunklen Zitadell…eächz!“
Patts Worte endeten in einem gequälten Ächzen, wie man es eben von sich gab, wenn man gerade eine Stiefespitze in die Magengrube gerammt bekam.
„Schnauze!“ befahl die bereits bekannte, Isimuds so ähnliche Stimme.
Die Gefangenen hoben die Köpfe. Direkt vor ihn stand, verächtlich auf sie herabblickend, ein beinahe perfektes Ebenbild Isimuds. Die andere trug weite, grün-schwarz-gestreifte Hosen, eine schwarze Weste über einem Fechthemd aus Seide sowie einen Dreispitz, in dessen Krempe eine blutrote Feder steckte. Um den Hals der Fremden baumelte ein Medaillon. Auf dem Deckel war eine Kreatur, von deren einem Wal ähnlichen Leib sich ein in einen lächerlich winzigen Schädel endender langer Hals in die Höhe reckte, abgebildet: das alte Wappen der Urkharts*. Ein Paar schwarzer Flügel spannte sich im Rücken des Anthronen und verdeckte beinahe die Sonne.
„Miya?“ flüsterte Isi. „Usumiya?“
„Ihr kennt euch?“ entfuhr es Patt. Wider besseres Wissen fügte er hinzu: „Und wieso hat die da Flügel?“
Das Isimud-Ebenbild hob seine Stiefel gerade weit genug, um den armen Patt an der Spitze riechen zu lassen. Es versetzte dem Gefangenen einen Stuppser zur Warnung, dann meinte es: „Warum wohl? Anthronenerbe, Dümmling. Wenn jemand in Lebensgefahr gerät, wachsen uns solche netten Schwingen. Tja, und wo ich und meine Männer auftauchen, da befindet sich nun einmal JEDER in akuter Lebensgefahr. So ist das.“
„Du bluffst, Bruderschwester“, erklärte Isimud. „Mag ja sein, dass du so im Grundsatz Recht hast, aber du hast nicht vor, mir oder Patt etwas anzutun. Denn sonst würden MEINE Flügel wachsen.“
Erneut erhielt Patt einen Tritt, obwohl er diesmal gar nichts gesagt hatte.
„Das passiert jetzt ihm jedesmal, wenn du ungefragt den Mund aufmachst“, warnte der Schwarzbeschwingte Isimud. „Ist wirksamer, als dich zu beuteln, lieber Zwilling.“
Und tatsächlich – Isimuds Mund stand vor Entsetzen offen, aber kein Laut entschlüpfte ihr. Ganz langsam schloss sie den Mund und presste die Lippen aufeinander. Sie, die einst ihren eigenen Zwilling eine Klippe hinunter gestoßen hatte, um zu sehen, was passieren würde, wollte nun um jeden Preis vermeiden, dass ihre Freunde litten. Und nicht nur diese, auch das Heil wildfremder Personen schien mit einem Male von Isimuds Selbstbeherrschung abzuhängen.
Noröm… Usumiya… wie konnte das sein? Doch wie auch immer die Antwort lautete, viel wichtiger war es, ja kein Wort darüber verlauten zu lassen, wo sie sich die vergangenen beiden Jahre über aufgehalten hatte. Isimud musste Simkea aus ihren Gedanken, ja, aus ihrer Seele, verbannen, als hätte es diese Welt nie gegeben. Denn wenn das Böse von der Portalinsel erführe… nein, dieser Gedanke war zu schrecklich, um ihn zu Ende zu denken.
„So Unrecht hat du allerdings nicht, Bruderschwester“, meinte der Schwingenträger. „Ich kann dir und deinem Sklaven das Leben zur Hölle machen, aber töten würde ich euch nur höchst ungern. Du findest uns ein wenig in der Klemme. Der dunkle Herrscher war nicht erfreut über meine Plünderung eines Konvois mit… ach, egal. Du musst nur wissen, dass er uns eine Queste aufgedrückt hat. Wir sollen einen ganz bestimmten Ort auf dem Meer ausfindig machen. Nur scheint der sich vor uns zu verbergen. Mir scheint beinahe, es steckt eine fremde Macht dahinter.“
Isimud biss sich noch heftiger als zuvor auf die Lippen, schaffte es aber, ihrem Zwilling fest in die Augen zu blicken, ohen sich anmerken zu lassen, dass sie genau verstand, um welchen Ort und welche Macht es sich handelte: die Portalinsel.
Patt jedoch zuckte bei der Erwähnung der „fremden Macht“, also des gütigen MasterX, sichtbar zusammen.
„A-ha!“ lachte der Schwarzbeschwingte. „Scheint mir ganz so, als wüsste da jemand, wovon ich spreche!“
Nein… nicht… bitte nicht… alle Götter… gebt uns Kraft!
* Urkhart - oder korrekterweise Urquhart - Castle ist in der Anderwelt eine Burg direkt am Loch Ness, daher musste natürlich Nessie in mein Wappen.