Feuerrote Flammen bedeckten eine Fläche soweit das Auge sehen konnte. Hinter
dem bedrohlichen Flammenmeer schimmerte am Horizont der Gipfel des
Violetten Berges. Kein Baum, kein Strauch, nicht mal ein winziger
Grashalm wuchsen am steinbedeckten Ufer. Hier stand Julin ängstlich
und starrte in die Flammen. Keinen Schritt näher traute er sich.
Noch nie hatte er sich so sehr gefürchtet und immer wieder blickte
er zu den Violetten Berg und fragte sich, wie er dort wohl hinkommen
sollte.
Mehr als einmal war er versucht einfach nach Hause zu purzeln und die
Grille und ihre Geige zu vergessen. Aber dann dachte er wieder an die
Bienen und das er ein Versprechen abgegeben hatte. Und ein
Purzeltroll hält sein Versprechen. Einzige Hoffnung schöpfte er aus
dem Rätselspruch vom weisen Kauz.
„Ich muss das doch lösen können.“ Am Ufer ging er grübelnd auf und
ab. „Das Werkzeug eines Schneiders. Eine Schere?“ Heftig
schüttelte der kleine Troll den Kopf, so dass die Trollmähne
flatterte. „Mit einer Schere kann niemand nähen“, stellte er
fest und überlegte dann weiter. „Aber mit einer Nadel. Oh ja, eine
Nadel ist gemeint!“ Seine Miene erhellt sich und er glaubte die
Lösung gefunden zu haben.
Doch dann kamen ihm die letzten Zeilen in den Sinn: „Der Seemann
braucht es, auf den Weg gib acht“, murmelte er vor sich hin und
dachte laut nach: „Für was soll den ein Seemann eine Nadel
brauchen? Um Fische aufzuspießen?“ Leise kicherte der kleine
Purzeltroll. Plötzlich schoss wie ein Blitz vom Himmel, eine Idee in
seinen Trollkopf. „Was bin ich für ein Dummtroll!Natürlich! Ist
doch ganz einfach.“
Schnell nahm er seinen Rucksack vom Rücken und begann darin zu kramen. „Ich
wusste es doch!“ rief er erfreut aus und zog aus den Rucksack einen
kleinen Kompass. „Ein Kompass ist die Lösung. Mit der Kompassnadel
kann man nicht nähen, aber ein Seemann braucht sie und findet damit
den richtigen Weg.“
Julin schaute auf die Kompassnadel, die sich dreimal im Kreis drehte und
dann still ruhte. “Moment mal. Das stimmt doch nicht. Im Osten geht
die Sonne auf und im Westen geht sie unter. Jetzt am Mittag steht die
Sonne im Süden. Aber nach meinem Kompass ist dort, wo die Sonne
steht, Norden. Das ist ja seltsam.“
Zuerst dachte Julin, der Kompass sei kaputt. Er schüttelte ihn und schaute
dann noch einmal. Doch nichts hatte sich verändert. Stur zeigte die
Nadel in die gleiche Richtung. Nachdenklich, den Blick auf den
Kompass, ging er in diese Richtung.
„Zum Flammenmeer bringst du mich? Willst du das ich verbrenne oder
kennst du einen Weg durch das heiße Feuer?“, fragte Julin den
Kompass.
Als hätte die Nadel ihn verstanden, drehte sie sich plötzlich nach
links. „Am Ufer entlang gefällt mir viel besser, als durch die
Flamen hindurch“ , sagte der kleine Purzeltroll leise und lief am
Ufer entlang. Vielleicht gab es ja einen Geheimweg zu den Violetten
Berg. Aber dann kreiste die Nadel wieder und zeigte direkt in die
Flamen.
Julin erschrak und rief: „Nein, ich geh nicht in die Flammen! Hörst du?
Ich geh und geh und geh da nicht hinein!“ Trotzig trampelte der
kleine Purzeltroll mit seinem Fuß auf. Jedes kleine Kind weiß
doch, das Feuer alles verbrennt. Was dachte sich die Nadel nur?
Zornig, aber auch verzweifelt, drehte er den Kompass und schüttelte ihn
tüchtig. Er warf ihn sogar mehrmals in die Luft. Doch egal was er
tat, die Nadel zeigte auf das Flammenmeer.
„Du willst also, dass ich in die Flammen gehe und verbrenne?!“ Ganz
wild klopfte Julins Herz. Er schaute seufzend zu dem Violetten Berg
und dann stellte er sich ganz nah an den Uferrand. So nah, das die
Flammen über seine Schuhspitzen leckten. Doch anstatt sie zu
versengen, bemerkte Julin, dass die Flammen nicht heißer waren als
ein warmer Luftzug im Sommer.
„Ein Zauberfeuer“, staunte der kleine Purzeltroll und atmete erleichtert
durch. Auch wenn er nun wusste, dass er nicht verbrennen würde, so
hatte er Angst im Flammenmeer zu versinken. Wie tief es wohl war?
„Ich muss es wagen.... jetzt!“ Langsam hob er einen Fuß und schob ihn
über den Uferrand. Den Fuß tauchte er langsam in die Flammen, die
sich plötzlich teilten. Julin sah, dass sich unter den Flammen eine
ovale Bodenplatte befand. Sie war so groß, dass er sich mit beiden
Füssen darauf stellen konnte.
„Hier scheint mir ein Weg durch die Flammenmeer zu sein“, stellte er
lächelnd fest. Wieder schaute er auf den Kompass und sah das sich
die Nadel nun nach rechts drehte. Er folgte und ertastet mit seinem
Fuß eine weitere Bodenplatte.
So kam er Stück für Stück vorwärts. Bei jedem Schritt prüfte er
sorgfältig ob er auch wirklich auf festen Untergrund trat. Doch bald
schon war das Ufer kaum noch zu sehen und vor ihm wurde der Violette
Berg immer größer und deutlicher sichtbar. Mühselig kämpfte er
sich zum anderen Ufer weiter.
„Geschafft!“
Mit einem Satz sprang der kleine Troll aufs feste Land und stand
direkt am Fuß des Violetten Berges, deren Spitze mit hellrosa Schnee
bedeckt waren.
Die Gegend war ganz merkwürdig. Von der anderen Seite hatte es
ausgesehen, als würde die violette Farbe von einer Gesteinsart
kommen. Doch nun sah Julin, dass nicht nur die Steine und Felsen
violett gefärbt waren. Auch alle Bäume, Sträucher und Blumen waren
von violetter Farbe. Bis zum kleinsten Grashalm war alles in dieser
sonderbaren Farbe eingefärbt. Aber es war kein einheitliches
Violett, jede Pflanze, jeder Stein hatte seinen eigenen violetten
Farbton, war heller oder dunkler als der andere.
An diesem seltsamen Ort wirkte der kleine Purzeltroll mit seinen
schwarzen Trollhaaren und der grünen Trägerhose seltsam. Auch die
Elster, die über seinen Kopf flog, passte nicht in diese violette
Welt. Und doch schien sie öfters den Violetten Berg zu besuchen.
Julin sah nämlich, dass sie auf ein großes Nest flog. Das Nest war
auf einem Felsvorsprung gebaut.
Nachdenklich beobachtete der kleine Purzeltroll wie die Elster sich auf den
Nestrand setzte. Kaum saß sie dort, hüpfte sie ins Nest und
verschwand aus Julins Sicht. Vielleicht hatte er ja Glück und der
weise Kauz hatte von dieser Elster gesprochen und im Elsternest lag
die goldene Geige.
Ohne noch mehr Zeit zu vertrödeln, schulterte Julin seinen Rucksack.
Zuerst folgte er einem Bergpfad der sich zum Gipfel hinauf
schlängelte. Der Weg schien in letzter Zeit nicht oft benutzt worden
zu sein. Das Gras ging dem kleinen Troll oft bis zur Brust. An manch
anderen Stellen lagen Steine, größer als der kleine Purzeltroll,
über die er klettern musste. Dem kleinen Troll taten bald die Beine
weh und er sehnte sich nach Edwins Gesellschaft. An Edwins Seite
würde der Weg ihm viel kürzer und weniger mühselig erscheinen.
Nach mehreren Stunden Fußmarsch hatte er endlich sein Ziel erreicht und
kam unterhalb des Felsenvorsprunges an. Von hier konnte er gut das
Nest sehen. Kunstvoll hatte die Elster Äste und Zweige miteinander
verwoben und die Hohlräume waren mit Grasbatzen ausgepolstert. Erst
ahnte der kleine Purzeltroll anhand eines Schattens den er sah, dass
die Elster noch im Nest war. Dann sah er auch den Elsterkopf, der
über den Nestrand lugte. Schnell drückte er seinen kleinen Körper
an den rauen Felsen unterhalb des Nestes.
Lautlos und mit größter Vorsicht kletterte er den Felsen hinauf bis zum
unteren Rand des Nestes.
Als die ersten Äste seine Trollmähne streiften, verharrte er und
wartete. Im Nest regte sich zwar hin und wieder etwas und er hörte
ein gurgelndes Zwitschern, aber sehen konnte er von seinem Platz
nichts.
Nachdem er eine Weile gewartet hatte, hob er langsam den Kopf und spähte
durch eine kleine Lücke zwischen den Ästen ins Elsternest. Die
Elster saß ruhend mit geschlossenen Augen im Nest. Hinter ihrem
Schlafplatz funkelte ein Berg mit Kostbarkeiten in der Sonne.
Unendlich viele Sachen hatte die Elster in ihr Nest getragen. Ringe,
Armreifen und Ketten aus Gold und Silber, Perlenketten, Münzen,
Silberlöffel und goldene Haarspangen lagen durcheinander.
Julin war sich ganz gewiss, dass auch die goldene Geige dort zwischen den
funkelnden Schätzen lag. Doch davor saß wie ein Wächter die
Elster.
Ein Ästchen knackte unter Julins Füssen. Leise und doch so laut, dass
die Elster ihre Augen öffnete. Julin hielt die Luft an und verharrte
regungslos wartend. Er versuchte geduldig zu bleiben, doch dachte er
an das Blumenfest und die wenige Zeit, die ihm noch blieb. Plötzlich
jedoch stand die Elster auf und sprang auf den Nestrand. `Jetzt hat
sie mich entdeckt“, dachte der kleine Purzeltroll. Dort anstatt
sich auf Julin zu stürzen, wie er es erwartete, spähte die Elster
in die Ferne und flog dann mit kräftigen Flügelschlägen davon.
„Puh, das war knapp und so einfach“, staunte der kleine Troll und
purzelte ins Nest geradewegs auf den blinkenden Schmuckberg zu.
Die Elster hatte so viele Schätze in ihr Nest getragen, dass der Berg
höher als der Purzeltroll selbst war. Er musste sich beeilen, wollte
er die Geige finden, bevor die Elster zurück kam. Und doch konnte er
nicht anders, als immer wieder beim Suchen inne zu halten und
einzelne Stücke genauer anzuschauen. „Oh wie wunderschön.“ und
„Wie das funkelt“, rief er mehrmals, legte dann aber die Kette,
den Ring oder was auch immer er gerade in der Hand hielt, beiseite.
Die Dinge waren schön, aber keines so kostbar wie die goldene Geige.
„Wie soll ich in dem großen Haufen die Geige finden?“ seufzt er und
krabbelt mitten in den Schmuckberg hinein. Er wühlte und wühlte,
immer schneller und ungeduldiger und warf achtlos die Schmuckstücke
beiseite. Das Loch das er durch sein Wühlen in den Berg buddelte
wurde immer größer und fast schon war er am Boden angelangt.
Zweifel nagte plötzlich in dem kleinen Purzeltroll. Es gab doch so
viele Elstern und alle stahlen Schmuck. Vielleicht suchte er im
falschen Nest.