Das Verlorene [RP]

  • Gestern Abend spürte ich mal wieder sehr deutlich das Sehnen nach dem, was nicht sein kann und gleichtig die Furcht vor dem, was war.


    Ich war einst aufgebrochen von meiner Mutter und meinen Tanten, um meine menschliche Identität und meinen Vater zu finden, aber bei meiner Suche wurde ich immer von der Gewissheit getragen, dass ich eines Tages in Meer zurückkehren würde, um meiner Mutter von all den Erlebnissen zu erzählen.


    Aber dieser Tag ist nicht gekommen. Statt dessen trat das Unaussprechliche ein. Hätte man es mir zuvor erzählt, ich hätte es nicht geglaubt. War das Schwert nicht ewig und da, uns zu beschützen. Selbst die Nixen im Meer kannten seine Geschichte. Niemand konnte sich vorstellen, dass es irgendwann einfach verschwinden konnte. Aber das genau passierte. Und auch nachdem ich das Böse selbst erlebt habe, finde ich keine Worte, um darüber zu reden.


    Seiddem ich auf Simkea bin, versuche ich zu vergessen und meist gelingt mir das auch besser als man glauben sollte, aber wenn der Trubel des Tages zu Ende geht, dann kommt eine Furcht, die ich nicht erklären kann. Besonders schlimm ist es, wenn ich dann noch in Trent bin. Unter freiem Himmel fühle ich mich wohler, aber in der Stadt kommen zu viele Erinnerungen wieder, an die ich mich einfach nicht erinnern will.


    Eigentlich war ich nie religiös und habe Malkatu Yami, die Mondgöttin und Herrscherin der Meere, nur aus Gewohnheit verehrt, die aus meiner Erziehung resultierte. In letzter Zeit ist das anders. Wenn ich nachts zum Himmel schaue und ihr Abbild sehe, spüre ich manchmal, wie ich durch sie meine tiefen Ängste besiegen kann, wie sie das Böse, welches auch nach meiner Flucht an mir hängen geblieben ist, in Banden werfen kann.


    Doch ich fürchte die Nächte, in denen sie sich vom Himmel fernhält. So wie gestern. Da war meine Seele in Unruhe und ich habe den guten Rat gefolgt, ins Monument zu gehen und zu beten. Ich konnte nicht schlafen, dafür war der innere Abgrund zu tief, aber ich konnte an all die denken, die ich auf Noröm kannte und auch schätzte und die es bisher nicht nach Simkea geschafft haben. Ich habe die Momente der Freude und der Zuneigung heraufbeschworen, an all die Wesen gedacht, die mir auf Noröm geholfen haben. Die Momente waren schön und schmerzhaft zugleich.


    Malkatu Yami, nimm mein Tränenopfer an und helfe diesen Wesen in Ihrer Pein auf Noröm. Steh ihnen bei und hilf Ihnen, dass sie den Weg zum Portal finden, damit auch sie die Schrecken hinter sich lassen können.

  • Am folgenden Abend war ich wie gerädert durch die durchwachte Nacht, aber noch zu aufgewühlt, als das es sinnvoll war, sich früh hinzulegen. Und so tat ich, was ich in Trent am liebsten machte: Ich ging am Abend hinüber in die Küche der Taverne. Nicht, dass ich kochen könnte, aber das Gemisch aus den gedämpfen Geräuschen der fröhlichen Secher aus dem Schankraum mit dem Geruch der vielfertigen Speisen, die hier zubereitet wurden, war der beste Balsam für meine Seele, welches diese im Hier und Jetzt in Wohlbehagen versetzte.


    Nachdem ich den überwiegenden Teil des Tages gefastet hatte, meldete sich in dieser Atmosphäre mein Hunger in entsprechender Stärke zurück. Immer, wenn die fürsorgliche Pengel in meine Nähe kam, schob sie mir kleine, noch warme Leckerbissen zu, welche ich mir dann bei einer heißen Milch mit Honig auf der Zunge zergehen ließ. Das konstante, aber nicht hektische Treiben in der Küche war nach dem Vortag genau das Richtige für mich.


    Kurzfristig war ich dann auch geneigt, mich in der Küche zum Schlafen zu legen, als sich mit dem vollen Magen auch eine stärkere Müdigkeit breit zu machen begann. Doch ich erinnerte mich an die Nächte, in denen ich schweißgebadet in der Mitte der Nacht aufgewacht, war und die Geister in meinem Inneren mich in der dann menschenleeren Taverne gequält hatten.


    Deshalb raffte ich meinen letzten Kräfte zusammen und machte mich auf den Weg aus Trent heraus. Draußen vor den Toren war es fast stockdunkel, denn die Sichel der wiedergeborenen Malkatu Yami war noch nicht kräftig genug, um den Weg auszuleuchten. Da ich den kurzen Weg zum Schlingsee gut kenne, schlugen meine Füße den Weg dorthin fast ohne mein zutun ein.


    Am See angekommen ruderte ich etwas auf den See hinaus. Wie immer, wenn ich auf dem Wasser war, fiel ein Teil dessen ab, was mich sonst des Nächtens quälte. Unendlich erleichtert wurde ich ein wenig übermütig und tauchte in den See. Als ich wieder im Boot war, fühlte ich mich so gut wie seit langen nicht mehr und fiel im leicht wippenden Boot in einen gottseidank traumlosen Schlaf.

  • Wieder eine Nacht weiter wachte in den frühen Morgenstunden auf, gehetzt, ein entferntes Schreien noch im Kopf. Ich hatte einen schalen Geschmack im Mund. Da es am Horizont schon dämmerte, brach ich in den frühen Morgenstunden auf, um die Geister der Nacht zu verrtreiben. Wie immer dem Meer entgegen, wenn meine Seele Weite brauchte.


    Ich liebe mein Boot und die Winde waren günstig. Ich war überrascht, wie viele andere Fischer zu so früher Stunde schon unterwegs waren. Aber natürlich beißen die Fische besonders gut am frühen Morgen. Doch heute war das Fischen nicht das, was ich wollte. Ich wollte den Wind in den Haaren spüren und so segelte ich mit meinem kleinen Fischerboot riskanter als ich es eigentlich machen sollte. Trotzdem löste sich der schmerzhafte Knoten in meiner Brust nicht auf. Mit einem Mal fiel mir Sunja ein.


    Sunja war ich am Strand begegnet als ich mich auf meine Suche nach meinem Vater begab. Sie war ein Mädchen von etwa 10 Jahre mit wundervollen Augen. Sie war nicht schüchtern, sondern zutraulich und bombardierte mich sofort mit Fragen. Als ich ihr erzählte, dass ich nichts von ihrer Welt kannte, war sie sofort bereit, mich ins nächste Dorf zu begleiten. So sorgte Sunja für einen sehr positiven Einstieg in eine neue Welt.


    Ich raffte die Segel. Was wohl aus Sunja geworden war? Und aus all den anderen Menschen, die ich danach getroffen habe? Keinen davon habe ich bisher auf Simkea wiedergesehen. Oh, Malkatu Yami, beschütze sie alle und führe sie sicher nach Simkea....

  • Am folgenden Tag war ich im Umland zum Obst pflücken. Die Äpfel hingen dick und rot in den Ästen. Wenn ich Noröm für einen Moment vergessen hatte, war die Fruchtbarkeit dieser Welt ein großes Wunder, wenn ich Noröm nahe war, war dieses Wunder eigentlich noch größer. Gab es einen größeren Kontrast zwischen dem leidgeplagten Noröm, wie ich es zuletzt kennengelernt hatte, und dem üppigen Leben in Simkea.


    Noröm war sebst in den Zeiten, bevor das Böse einfiel, eine Welt gewesen, der man nur mit Mühe etwas abtrotzden konnte. In der Gemeinschft mit vielen war das nicht so aufgefallen, denn der Gemeinschaftssinn aller Lebenwesen auf Noröm war sehr ausgeprägt. Doch mit dem Einfall des Bösen wurde alles anders.


    So war ich dankbar, dass sich hier auf Simkea üppig die Äste mit den reifen Äpfeln bogen und ich den ganzen Tag reichlich zu tun hatte. Ich wusste, auch hier auf Simkea waren nicht alle Landstriche gleichmäßig bevorzugt, aber hier um Trent war die Vegitation fast paradiesisch. Am frühen Abend hielt ich inne und machte ein Picknick mit Saft und Brot.So schlicht und doch so intensiv.


    Ich fühlte alles intensiver seitdem ich auf Simkea war. Die Angst in den Nächten genauso wie die Freude über die kleinen Dinge im Leben. Und so genoss ich diese kleine Mahlzeit aus vollen Zügen. Danach wanderte ich weiter und fand einen Blaubeerbusch für eine ebenso geschmacksintensiven Nachtisch. Von der Arbeit des Tages war ich erschöpft, doch ich wusste, dass ich im Schutze des Strauches heute gut würde schlafen können.

  • Ich wusste, ich drückte mich. Vor 2 Tagen hatte sich eine Taube, die ein Zettel am Bein hatte, auf meinem Schoß niedergelassen. Nirgendwo sonst hatte ich solch zahme Tiere kennengelernt. Es war die Anfrage eines Kunden, ob ich Rosmarin besorgen könne und ich hatte die Taube mit einer Zusage zurückgeschickt.
    Trotzdem war ich nicht geradeheraus zum Rosmarin suchen gegangen, sondern war zunächst mein Apfelpfücken verbleiben. Jetzt aber gab eine keine Ausrede mehr und ich begab mich in Richtung Wald. Zunächst war dieser licht und freundlich. Ich knabberte nebenbei Erdbeeren, die ich am Wegesrand fand. Doch der Wald wurde immer dunkler und die Geräusche immer beängstiger. Ich kannte eine Stelle, die schier undurchdringbar erschien, doch sie war das Tor in den größeren Bereich des Dunkelwaldes.


    Auf der anderen Seite des Dickicht war es fast vollständig dunkel und ich wartete einige Zeit, um meine Augen daran zu gewöhnen. Ich ging weiter und stieß dann auf den gewünschten Rosmarin, der hier in größeren Mengen wuchs. Während ich mich an die Arbeit machte, schrie plötzlich ein Tier. Ich zuckte zusammen und bekam eine Gänsehaut. Meine Atmung wurde schneller... Was für ein unwirtlicher Ort! Erinnerungen einer Norömnacht drängten sich ungefragt nach vorne. Ich wurde fast panisch.


    Ich begann ein altes Kinderlied zu summen. In dem Lied bat man Malkatu Yami, dass sie über den Schlaf des Kindes wache. Das Lied besteht im wesentlichen aus dem Refrain, den man immer wieder wiederholen kann. Die Melodie schaffte es tatsächlich, mich teilweise zu beruhigen. Die Dunkelheit war einfach nichts für mich. Trotzdem musste ich mir beweisen, dass ich nicht vor meinen eigenen bösen Erinnerungen zurückschrecke und arbeitete von dort an konzentriet am Rosmarin ernten. Danach machte ich mich aber zügig auf, zurück in den helleren Bereich des Waldes zurückzukommen.


    Dort angekommen merkte ich erst, das ich völlig verschwitzt war, obwohl es im Wald nicht wirklich warm gewesen war.

  • Natürlich suchte mich die Angst des Tages auch in der Nacht wieder heim und so schreckte ich in der darauffolgenden Nacht mehrfach hoch, denn in meinen Träumen vereinten sich die Schreie aus Noröm mit denen der Waldtiere und dieser furchtbare Chor ließ mich nicht ruhen.


    Als sich endlich die Sonne über dem Horizont erhob, fasste ich einen Plan, dass ich mich einer neuen Herausforderung stellen wollte. Ich musste spüren, dass ich lebe. Das war ganz besonders wichtig für mich.


    Eigentlich hatte ich leichte Höhenangst und darüber hinaus als Halbnixe nicht unbedingt an das Klettern gewöhnt. Aber ich mochte die angenehme Luft im Adoragebirge und so nutzte ich die frühe Stunde, um genau in diese Richtung aufzubrechen. Nachdem ich den steilen Bergpfad hiner mir gelassen hatte, fand ich noch einen Apfelbaum, der mir für eine kleine Stärkungsmahlzeit zwischendurch angenehmen Schatten spendete. Heute würde ein schöner Tag werden und nach den Höhenmetern war der Schatten gut, um neue Energie zu tanken. Aber ich wollte noch höher hinaus. Selbst wenn ich es nicht bis zum Gipfel schaffen könnte, so wollte ich mich doch zumindest etwas im Klettern üben, auch wenn ich die eine oder andere Schürfwunde davontragen sollte.


    Gesagt, getan. Tatsächlich war mein Talent im Klettern eher mangelhaft. Irgendwie hatte ich mir das doch anders vorgestellt. Etliche Schürfwunden weiter hatte ich aber das geschafft, was ich wollte: Ich hatte einen herrlichen Blick über die bewohnte Welt von Simkea. Ich zog mein Fernrohr heraus und konnte bei strahlendem Sonnenschein auf das hinunterblicken, was mir gestern noch Angst gemacht hatte: Der Dunkelwald!


    Von hier oben erstreckte er sich über ein durchaus beachtenswertes Gebiet, aber er erstrahlte in einem saftigen Grün, der dem Wald jeglichen Schrecken nahm. Was für eine wundervolle Welt hatte Malkatu Yami hier geschaffen.
    Ich nahm mir vor, dieses Bild in meinem Herzen zu behalten, wenn ich das nächste Mal in den dunkelen Teil des Waldes vordringen sollte. Ich war mir sicher, in dieser prachtvollen Welt würde ich irgendwann die Schrecken von Noröm überwinden können.

  • Die leidende Pytron hatte wieder so viel aufgerissen. Auch die Gebete im Monument schafften es diemal nicht, mich wirklich zu beruhigen... Und so floh ich ohne Hoffnung auf Schlaf aus Trent. Heute stand Malkatu Yami in ihrer vollständigen Pracht am Himmel. Wo war sie an jenem Tag auf Noröm gewesen...


    "Harry" Ich flüsterte seinen Namen in die Nacht und mit dem Wort kam alles aus jener schrecklichen Nacht zurück. Ich hatte sein Leiden und sein Sterben nicht verhindern können. Ich hatte ihn geliebt und er hatte mich geliebt. Er hatte mich versteckt und deswegen hatte ich überlebt. Es hätte nichts gebracht, wenn ich mich seinen Peinigern entgegen gestellt hatte, aber trotzdem fühlte ich mich schuldig, dass ich tatenlos aus meinem Versteck alles miterlebt hatte.


    Ich weinte lange. Er hat für mich gelitten und ist für mich gestorben. Das war die Wahrheit an die ich mich halten musste. Der einzige Weg, es ihm für die Ewigkeit zu entlohnen war, zu leben und stark zu sein.


    Morgen, wenn die Sonne wieder aufging, hätte ich nicht geschlafen, aber den Wesen auf Simkea würde ich wieder begegnen wie zuvor: freundlich und fröhlich. Alle dunken Schatten würde ich dann wieder fest verschließen, denn das hatte ich Malkatu Yami geschworen.

  • Die Wellen kräuselten sich sanft um das kleine Fischerboot, das in der Abenddämmerung vor Anker lag. An Bord war die Halbnixe Miriam Meernixe. Sie liebt das Meer, aber hier auf Simkea brannte es wie Salz in einer Wunde. Zu viele Erinnerungen hingen an dem Meer auf Noröm, viele glückliche Momente mit anderen Nixen, von denen Miriam nicht wusste, ob sie noch leben und ob sie sie jemals wiedersehen würde.

    Trotzdem war sie viel hier, um die salzige Luft in die Lungen zu atmen und die Einsamkeit zu genießen. Es gab so viele liebe Wesen hier auf Simkea und Miriam freute sich über jedes, das den Weg aus Noröms Hölle hierher schaffte, aber wenn sie sich länger in Trent aufhielt, dann fühlte sie sich eingesperrt.

    Die letzten, harten Jahre auf Noröm waren nicht spurlos an ihr vorbei gegangen. All das Leid, all die toten oder verstümmelten Freunde, all das konnte und wollte sie nicht vergessen. Wenn sie nicht um diese trauerte, dann wäre all das Leid umsonst gewesen.

    Sie wusste, dass sie die Angst, die dunklen, brutalen Häscher könnten sie auch hier auf Simkea noch erreichen, wohl nie mehr verlieren würde. In ihren nächtlichen Träumen rannte sie noch immer um ihr Leben oder hörte die Schreie derer, die es nicht geschafft hatten. In den überfüllten Straßen von Trent sah sie immer zahlreiche Schatten, die es nicht gab, und nur mit einer Flucht aus dem Stadttor konnte sie die damit verbundene Beklemmung loswerden.

    So sammelte sie Pflanzen im Wald oder Minze in den Bergen, aber so oft wie möglich fuhr sie mit ihrem Boot hinaus aufs Meer. Nur hier schlief sie traumlos, auch wenn sie über Tag oft weinen musste, da sie die Sehnsucht nach ihrer Mutter und ihren Tanten grämte.

    Sie hatte das Boot „Malkatu Yami“ getauft, nach der Muttergöttin der Nixen. Malkatu Yami ist die Bewahrerin des Lebens, Beschützerin der Meere und reist jede Nacht auf ihrem Mondwagen über das Firmament. Sie war im Wasser geboren und war als Göttin in den Himmel aufgestiegen, um über alle Wesen zu wachen.

    Miriam wunderte sich darüber, dass einige Andere auf Simkea glaubten, es wäre ein Mann, der auf dem Wagen saß und ihn „Lunatum“ nannten. Miriam fand diesen Glauben abwegig: War doch der Zyklus des Mondes so eindeutig in Einklang mit dem der Meere und der Frauen, dass der enge Zusammenhang klar auf der Hand lag. Aber vielleicht musste man im Meer aufwachsen, um diese Klarheit zu erlangen. Sie hatte kein Interesse an der Missionierung und so behielt sie ihren Glauben normalerweise für sich.

    Da sie an ihre Göttin dachte, sagte Miriam ein einfaches Gebet auf: „Herrin, bewahre das Gleichgewicht: Hilf mir, mich an alle zu erinnern, die ich auf Noröm verloren habe. Sie alle will ich in Deinem Namen ehren.“

    Beim leichten Schaukeln der Wellen machte Miriam müde die Augen zu. Sie hatte den ganzen Tag keine Fischschwärme gesehen und nur hier und da ein paar Algen aus dem Wasser gezogen. Stattdessen war sie plötzlich in einen Schwarm Delphine geraten. Da hatte sie geankert und war mit den Delphinen um die Wette geschwommen. Es war eine tolle, aber ermüdende Abwechslung, die ihr einen seltenen, unbeschwerten Moment auf Simkea verschafft hatte. So schloss sie jetzt getrost mit der Hoffnung auf eine traumlose Nacht die Augen, während Malkatu Yami ihre nächtliche Reise begann.

  • Als sie tief und fest schlief, hatte sie dennoch einen merkwürdigen Traum: Drei ihrer alten Freunde aus Noröm saßen zusammen im Kreis und Miriam beobachtete sie aus der Ferne. Die Drei unterhielten sich angeregt und fröhlich, aber sie konnte nicht hören, was diese sagten. An der Körpersprache konnte sie aber erkennen, dass die Freunde zusammen viel Spaß hatten.

    Dann erhoben sich die Drei und wollten weggehen. Dabei merkten sie aber, dass sie sich in einer Art Spiegelkabinett befanden und den Ausgang ertasten mussten. Es machte ihnen sichtlich Freude. Miriam wollte teilhaben und fing auch an, ihre Umgebung zu ertasten. Dabei stellte sie fest, dass sie von einem Glaszylinder vollständig umschlossen war. Das ärgerte sie, denn sie wollte an der Freude ihrer Freunde teilhaben. Aus Frust schlug sie gegen das Glas, welches im gleichen Moment mit lautem Getöse in tausend kleine Diamanten zerfiel.

    Davon erwachte Miriam, doch das Getöse blieb. Sie setzte sich auf und sah etwas neben dem Boot: Einen großen Strudel, der vor dem Einschlafen noch nicht da gewesen war. Sie hielt eine Hand ins Wasser, aber sie konnte den Sog nicht spüren. Was für ein seltsames Phänomen! Miriam konnte ihren Blick vom Strudel nicht losreißen und einem gewaltigem inneren Drang folgend, sprang sie ins Wasser.

    Mit kräftigen Schwimmbewegungen näherte sie sich dem Strudel. Plötzlich war wieder einer der Delphine neben ihr, mit dem sie am Tag zuvor geschwommen war. Als der Strudel sie zu erfassen begann, griff Miriam nach der Rückenflosse des Tieres und so wurden sie in die Tiefe gerissen. Miriam empfand keine Angst, und der Delphin schien gut mit dem Strudel bekannt zu sein. Zusammen stießen sie in die Tiefe.
    Der Strudel endete an einem Felsloch, groß genug für beide, um hindurch zu schwimmen. Dahinter folgte ein runder Tunnel, in dem die Strömung so stark war, dass beide brutal hindurch gerissen wurden. Miriam schrammte sich den Arm, aber bevor der Schmerz bei ihr ankam, wechselte die Strömung erneut die Richtung: Es ging wieder nach oben!

    In einer Fontäne kamen sie wieder ans Licht. Miriam schwebte einen kurzen Moment in der Luft, um dann wieder ins Wasser zurückzufallen. Sie machte ein paar Schwimmzüge in ruhigeres Wasser und schaute sich benommen um: Sie schwamm in einem See, in dessen Mitte eine Fontäne aufstieg. Das Wasser war salzig. Um den See herum gab es dickfleischige Pflanzen, die sie sonst noch nirgends auf Simkea gesehen hatte. Sie schwamm zum Ufer.

    Vor ihr war ein Hain aus Kirschbäumen, die alle wunderschön blühten. Sie ging darauf zu und sah an einem der Bäume eine Frau stehen. Beim Näherkommen merkte sie, dass die Frau dort nicht freiwillig stand, sondern mit dicken Tauen festgebunden war. Miriam ging weiter auf die Frau zu, die ihr seltsam bekannt vorkam, ohne dass sie benennen konnte, woher. Da sah sie, dass die Taue über und über verknotet waren.

    „Endlich kommst Du, Miriam! Ich habe jeden Tag und jede Nacht gebetet, dass jemand kommt, um mich zu retten“. Tränen der Erleichterung flossen über das Gesicht der Frau. Miriam fragte verwundert: „Kenne ich Dich?“ Da lachte die Frau unter Tränen. „Natürlich kennst Du mich, Miriam. Ich bin Mneme!“

    Miriam konnte sich nicht an einen solchen Namen erinnern, aber das war im Moment nicht wichtig. Wichtig war es, Mneme aus ihrer Lage zu befreien. Deswegen zog sie ihr Messer aus dem Halfter an ihrem Gürtel und wollte das Tau damit durchschneiden.

    Mneme schüttelte traurig den Kopf. „So wird das leider nicht gehen, es ist ein verzaubertes Tau, welches nicht durchschnitten werden kann, sondern aufgeknotet werden muss. Ich weiß, es ist eine gewaltige Arbeit. Aber Du bist meine einzige Hoffnung, und ich weiß, dass Du das kannst. Deswegen bitte ich Dich inständig, mir zu helfen.“

    Mit großem Bedauern steckte Miriam das Messer zurück. Da es keine andere Möglichkeit gab, wappnete sie sich für die vor ihr liegende Aufgabe. „Sei unbesorgt, Mneme, ich lasse Dich nicht allein.“

  • Schon gleich am ersten Knoten merkte sie, dass dieser mit viel Kraft zusammengezogen worden war. Sie suchte sich ein kleines Stöckchen von einem der Kirschbäume, um den Knoten etwas zu lockern, und tatsächlich schaffte sie es nach einiger Zeit, ihn zu lösen.

    Es durchzuckte sie wie ein Schmerz. Sie sah ihren Freund Rod. Ihn hatte sie im größten Zirkus von Noröm kennen gelernt und er war einer der ersten, den sie verlor, als das Schwert fiel und die Reiter des Bösen in Noröm einfielen. Im gleichen Moment, wie das Bild von seinem Leichnam in ihrem Kopf aufblitzte, so schnell verlor sie es auch und war wieder aus ihrer Erinnerung verschwunden.

    Verwirrt und etwas benommen schüttelte Miriam den Kopf. Sie verstand nicht, was das eben gewesen war, konzentrierte sich aber weiter auf ihre Aufgabe. Und die war schwierig genug. Auch der zweite Knoten war nicht einfach zu öffnen und sie musste länger daran ziehen, bis er sich endlich lösen ließ.

    Und wieder suchte sie eine Erinnerung einer toten Freundin heim, und wie beim ersten Mal verlor sie die Erinnerung im gleichen Augenblick auch wieder. Sie versuchte, sich den Leichnam noch einmal vorzustellen, aber es gelang ihr nicht. Stattdessen stand ihr nur das Bild aus besseren Zeiten vor Augen, und die Freundin lachte sie an.

    Miriam war nun völlig verunsichert, trotzdem machte sie sich vorsichtig an den dritten Knoten. Das Tau war rau und sie würde wohl ihre Finger würden wund sein, lange bevor alle Knoten gelöst wären. Doch das war ein kleiner Preis für die Befreiung von Mneme. So begann sie weiter tapfer an dem Knoten zu pfriemeln.

    Wer immer Mneme gefesselt hatte, hatte sehr viel Zeit und Mühe in jeden einzelnen Knoten gelegt. Und obwohl sie so sorgfältig wie möglich zu Werke ging, und den dritten Knoten sehr vorsichtig öffnete, durchzuckte Miriam beim Lösen auch dieses Knotens eine böse Erinnerung aus Noröm. Sie wollte sie nicht loslassen, aber es half nichts, wiederum verblasste ein totes Gesicht vor ihrem inneren Auge.

    Das konnte nun wirklich kein Zufall mehr sein und sie blicke vorwurfsvoll zu Mneme. „Was geschieht mit mir? Habt ihr mich verhext? Dankt ihr so meine Hilfsbereitschaft?“

    Mneme aber schüttelte den Kopf: „Hast Du es noch nicht erkannt, Miriam? Keine andere als Du selbst hast mich mit Deinen schlimmen Erinnerungen aus Noröm gebunden. Du hältst Dich krampfhaft daran fest, und so schadest Du uns beiden. Nur indem Du jeden dieser Knoten löst, kannst Du uns beide befreien.“

    Miriam schaute entsetzt. „Nein, das kann ich nicht. Wenn ich diese Erinnerungen vergesse, dann begehe ich ein Verbrechen an all diesen Wesen, die ihr Leben auf Noröm geopfert haben. Ich bin es ihnen schuldig. Bitte lass mich gehen, Mneme. Du musst verstehen, dass ich Dich unter diesen Umständen nicht befreien kann.“

    Mneme schaute ihr fest in die Augen: „Dann wirst du mit mir hier bleiben müssen. Nur wenn ich befreit bin, kann ich Dich durch den Strudel zurückbringen. Es tut mir leid.“

    Miriam fing bitterlich an zu weinen, denn dies schien ihr eine völlig ausweglose Situation. Sie konnte doch den Tod all dieser Wesen nicht aufgeben. Es war einfach unfair, was Mneme von ihr verlangte. Sie fühlte sich von ihr in eine Falle gelockt. Miriam wusste nicht, wie lange sie dort saß und weinte, aber irgendwann hatte sie keine Tränen mehr.

  • Da erkannte sie, dass es nicht darum ging, sich der lieben Wesen nicht mehr zu erinnern, sondern nur darum, die bösen Erinnerungen, die ihr nächtliche Albträume verschafften, loszulassen. Es war kein Verrat. Der Traum heute Nacht hatte es ihr gezeigt, denn es war viel schöner, sich der heiteren Momente zu erinnern als der furchtbaren. Innerlich erschöpft, aber nun verständnisvoll, fuhr Miriam damit fort, die Knoten zu lösen.

    Und wann immer sie einen Knoten geschafft hatte, und eine der schlimmen Erinnerungen vergangen, sprach Miriam ein einfaches Gebet zu Malkatu Yami: „Herrin, ich bin aus dem Gleichgewicht gefallen. Hilf mir, es wieder herzustellen.“ Irgendwann fingen ihre Finger an zu bluten, aber das störte sie nicht. Miriam hatte das Gefühl für Zeit und Raum verloren. Sie würde diese Aufgabe bis zum Ende durchführen, auch wenn sie wusste, dass der letzte Knoten der schwierigste werden würde.

    Ob sie Mneme vielleicht befreien konnte, ohne den Knoten mit Harrys Tod lösen zu müssen? Aber im gleichen Moment wurde ihr klar, dass sie jetzt eine einmalige Chance hatte. Sie wusste, auch Harry hätte es nicht anders gewollt.

    Also arbeitete Miriam weiter an ihrer Aufgabe, und als der letzte Knoten sich löste, musste sie sich auch noch einmal von ihrem toten Geliebten verabschieden. Er war gestorben, damit sie auf Simkea weiterleben konnte. Miriam weinte erneut, aber ob es aus Trauer, Erschöpfung oder Freude geschah, wusste sie selbst nicht genau.

    Mneme aber lächelte sie glücklich an und umarmte Miriam. „Ich danke Dir von Herzen für diese mutige Tat. Ich werde Dich gleich zurückschicken, aber zuvor habe ich noch ein kleines Geschenk für Dich.“ Mneme zog einen silbernen Armreif hervor, der mit kleinen, in sich verschlungenen Mustern verziert war.

    „Dies ist der Armreif des Meeres, den ich Dir schenken möchte. Er soll Dich daran erinnern, dass es wichtig ist, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Keines der Wesen, um die Du so sehr getrauert hast, würde Dein Leid hier auf Simkea wollen. Daran denke immer, wenn Du ihn trägst.“ Als Miriam den Armreif über die Hand streifte, wurde ihr vor Erschöpfung schwarz vor Augen und sie verlor das Bewusstsein.

    Als sie erwachte, schien die Sonne hell am Himmel und sie fragte sich, ob sie all das nur geträumt hätte. Dann aber spürte sie ihre schmerzenden Finger. Als sie danach schaute, sah sie die Wunden, die der Hanf in ihre Finger geschnitten hatte. Dies würde einige Tage brauchen, um zu verheilen.
    Miriams Blick schweifte zum Handgelenk, und dort sah sie den Armreif des Meeres, den Mneme ihr geschenkt hatte. Und neben ihr im Boot lag ein langes Hanftau, welches vorher nicht dagewesen war.

    Da wusste Miriam, dass das Abenteuer wirklich stattgefunden hatte. Sie lichtete den Anker und segelte weiter. Da ihr die Geschichte zu phantastisch vorkam, erzählte sie niemandem davon. Aber die Erinnerung blieb, und sie handelte fortan nach den Worten Mnemes und genoss das schöne Leben auf Simkea. Die schweren Zeiten auf Noröm gehörten zu ihrer Geschichte, aber sie würde den Horden des Bösen nicht mehr den Raum geben, auch ihr Leben auf Simkea zu beeinflussen.

    Und Anja, ihre beste Freundin aus Noröm seit den Zeiten des großen Zirkus, kam wenige Tage später unversehrt auf Simkea an und zeigte ihr so, dass auch andere Freunde es schaffen konnten, den Häschern des Bösen zu entkommen. Diese Erkenntnis gab ihr Kraft und ließ sie auf eine bessere Zukunft hoffen.

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    Wie immer, wenn es Miriam schlecht ging, wenn sie es nicht schaffte, einen klaren Gedanken zu fassen, fuhr sie auch heute nach einer durchwachten Nacht aufs Meer hinaus. Jetzt saß Miriam auf ihrem Boot und weinte. Das salzige Wasser ihrer Tränen vermischte sich mit dem des Meeres. Die Ereignisse des gestrigen Abends hatten sie schwer erschüttert und die Gram der Vergangenheit wieder aufgewühlt. Sie hat noch die Worte ihres geliebten Harry im Ohr: "Die Mächte des Bösen werden versuchen, ihr eigenes Portal zu bauen, um die Flüchtlinge zu finden und zu vernichten."


    Gestern war ein neuer, fast nicht endender Strom Flüchtlinge nach Simkea gekommen. Mehr als in den Monaten zuvor. Und die Flüchtlinge sprachen nicht von Noröm, sie sprachen von vor allem von "Travianer". Und es gab für Miriam nur eine Erklärung, wie es dazu kommen konnte: Das Böse hatte es geschafft, ein eigenes Portal zu erschaffen. Irgendetwas hatten sie glücklickerweise falsch gemacht und so hatte sich das Portal nicht nach Simkea geöffnet. Zumindest zum Glück für die Flüchtlinge Noröms. Nicht jedoch für die Welt, auf die das Portal führte: Travianer! Wie furchtbar war es doch, dass das Böse nun noch eine Welt gefunden hatte, um sie zu unterjochen.


    Miriam konnte es nicht verhindern, dass sie die Schreie wieder hörte, als die Mächte des Bösen in Noröm einfielen. Alles war wieder so präsent, als wäre es gestern und nicht vor fast elf Jahren gewesen. Warum konnte das alles kein Ende nehmen?


    Zum Glück hatten es offenbar viele Travianer geschafft, durch das Portal nach Noröm und durch den dort mittlerweile jahrelang erfahrene Untergrundring zur Portalinsel geschleust zu werden. Miriam hatte aber die Verletzungen der Ankömmlinge gesehen - sie hatte geholfen, einige der Neulinge in Empfang zu nehmen - und fürchtete, dass nicht alle überleben würden.


    Es war ein gnadenloser Krieg. Sie dankte ihrer Göttin Malkatu Yami, dass sich das neue Portal nicht nach Simkea geöffnet hatte, aber sie trauerte mit den Travianern. Es war so furchtbar, dass Welt um Welt den dunkeln Mächten anheim fiel. Sie hoffte, dass die geflüchteten Travianer hier auf Simkea ebenso eine Heimat finden würden wie die Norömer es hatten.


    Während die Sonne langsam über das Firmament glitt, betete Miriam inständig, dass es den bösen Horden niemals gelingen würde, auch nach Simkea vorzudringen, welches sich bisher als starke Bastion für alle Exilanten gezeigt hatte.