Halloween 2013 – Die Geister, die ich rief

  • [Die Handlungen anderer Spieler-Charaktere in dieser Geschichte beruhen auf tatsächlichen Spielereignissen (und Forumstexten). Ich habe mich bemüht, sie möglichst wahrheitsgetreu wiederzugeben, erhebe jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit und absolute Korrektheit.]


    Da stand sie schon wieder, unauffällig in ihre dunklen Kleider gehüllt. Wie immer trug sie einen spitzen Hut, der viel zu groß für ihren schmalen Kopf war, sodass er ihr bis ins Gesicht rutschte. Hanswalter brauchte ihre krumme Nase gar nicht erst zu sehen, um die Frau wiederzuerkennen. Wie im letzten Jahr und dem Jahr davor betrachtete er sie argwöhnisch. War es schon wieder so weit? Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, verkaufte sie auch dieses Jahr fleißig ihre roten Laternen an ahnungslose Bürger.
    Doch auch Kostüme aller Art verkaufte sie. Ob Feuerwehrmann oder Stirnlappenbasilisk, man bekam bei ihr fast alles. Viele Leute liefen bereits verkleidet in Trent herum und erschreckten die übrigen Bürger. Auch Hanswalter wollte es sich nicht nehmen lassen, diesem Spaß beizuwohnen. Doch dazu musste er sich von dieser Frau ein Kostüm besorgen. Ein wenig fürchtete er sich vor ihr. Wie konnte sie es einfach so gutheißen, was er tat? Dieses Jahr hatte er noch nicht keines der üblichen Schilder aufgestellt, aber sicherlich war sie dennoch nicht gut auf ihn zu sprechen. Diese Frau, die gemeinhin als Halloweenbotin bekannt war, aber auch gut nur eine gewöhnliche Hexe hätte sein können, verfügte wohlmöglich über magische Kräfte, mit denen sie ihre Widersacher in harmlose Kröten verwandeln konnte. Hanswalter hatte mit Tierverwandlungen bereits seine Erfahrungen gemacht und konnte gerne darauf verzichten.
    Wenig später, ohne dass er sagen konnte, wie es dazu gekommen war, stand der Schmied mit einem Kostüm und einer magischen Laterne auf dem Marktplatz. Mal wieder hatte die Frau es geschafft, ihm eine dieser unmenschlichen Gespensterfallen anzudrehen. Er beschloss, sie ihr einfach zurückzugeben und sein Geld zurückzuverlangen.
    Als er erneut der Halloweenbotin gegenüberstand, fiel ihm auf, dass sie ein wenig bedrückt wirkte. Statt sie wegen der Laterne anzusprechen, fragte er, ob bei ihr alles in Ordnung sei. Doch scheinbar war dies nicht der Fall. Sie sagte etwas davon, dass ihre Freundin, die alte Frau am Rathaus, sehr traurig wegen ihrer vermissten Enkelin sei.
    Hanswalter bot ihr an, ihr zu helfen. Mit der magischen Laterne noch immer im Rucksack machte er sich auf den Weg zum Rathaus.
    Wie üblich stand die alte Frau neben der Rathaustür herum und bot ihre exklusiven Waren an. Auf den ersten Blick sah sie aus wie immer. An ihren grauen zu einem Dutt geknoteten Haaren und vor allem an der riesigen Nase, die auch von einem Oger stammen konnte, erkannte Hanswalter sie schon vom Weiten. Sie schaute wie gewohnt aus ihrem dicken blauen Wollmantel heraus und lächelte freundlich, als sie ihn näherkommen sah.
    Ohne langes Umschweifen sprach der Schmied die alte Frau auf ihre Enkelin an. Das Lächeln in ihrem Gesicht erstarb. Mit traurigem Blick berichtete sie davon, wie ihre Enkelin Emeline zehn Jahre zuvor in einem Buch gelesen hatte und daraufhin spurlos verschwunden war.
    Hanswalter fragte nach dem Buch. Er wollte es sich einmal ansehen und nach einer Möglichkeit suchen, das Verschwinden der Enkelin aufzuklären. Die alte Frau händigte ihm das Buch aus und nahm ihm das Versprechen ab, ihr ein Lebenszeichen ihrer Enkelin zu bringen, wenn er sie finden würde.


    Etwas später, in einer ruhigen Minute, schlug Hanswalter das Buch auf. Neben dem Willen, der Frau zu helfen, motivierte ihn auch ein gewisses Maß an Neugier. Die ersten Seiten sahen noch nicht sehr ungewöhnlich aus, doch plötzlich, als er eine weitere Seite umblätterte, wurde es um ihn herum dunkel. Ein kalter Windhauch umfing ihn und er verlor die Orientierung.
    Hektisch schaute er sich um, doch er konnte nichts Vertrautes mehr erkennen. Die Häuser Trents, die Bürger in den Straßen, ja auch die Straßen selbst waren verschwunden. Auch von dem Buch, das er gerade noch in seinen Händen gehalten hatte, fehlte jede Spur. Wie ein kürzlich Erblindeter tastete er in der Gegend umher, doch seine Hände fuhren nur durch Luft.
    Als sich seine Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnten, erkannte Hanswalter, dass es an diesem Ort doch noch etwas mehr als Dunkelheit zu geben schien. Ein schwacher diffuser Lichtschein lag über ihm, wie ein wolkenverhangener Nachthimmel bei Halbmond. Jedoch endete er schon in einiger Höhe an einer unregelmäßigen schwarzen Kante. Hanswalter erkannte, dass die Kante zu einer Hecke gehörte, die ihn ein gutes Stück überragte. Er drehte sich um. Überall um ihn herum sah er diese dunkle Hecke, nur in eine Richtung führte ein Weg davon.
    Da ihm wohl nichts anderes übrig blieb, begann der Schmied, dem Weg zu folgen. Irgendwo musste es einen Ausgang zurück nach Trent geben. Er setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Nur schwer konnte er erkennen, wo er hintrat.
    Nach nur wenigen Schritten erreichte er eine Wegegabelung. Nun war er sich sicher, er befand sich ein einem Labyrinth. Es konnte wohl noch eine Weile dauern, bis er wieder in Trent sein würde. Bevor er eine der beiden Richtungen wählte, prägte er sich diese Kreuzung gut ein. Wenn er dies an jeder Kreuzung tat, würde er, wie er hoffte, bald einen Überblick über das Labyrinth bekommen und sich nicht hoffnungslos verirren. Glücklicherweise hatte er sein Notizbuch bei sich. So konnte er den Weg, den er ging, aus der Vogelperspektive nachzeichnen. Der Lichtmangel gestaltete das Zeichnen jedoch etwas schwierig.
    Einige Kreuzungen weiter erreichte Hanswalter eine kleine Hütte. Er sah schon nach der letzten Wegbiegung den gelben Lichtschein der von ihren Fenstern ausging. Vor der Hütte lag ein Kürbisfeld mit kopfgroßen Kürbissen. Eine gebeugte Gestalt stand zwischen den Früchten und blickte scheinbar auf, als sie den Besucher näher kommen sah.
    Hanswalter blickte in ihr Gesicht und sah die typische Bilderbuchhexe vor sich. Ihre Augen waren dunkel umrandet, ihre Haare grau und dürr. Der Riechkolben in ihrem Gesicht stellte den der alten Frau bei weitem in den Schatten. Wobei dieser hier eher eine kantige geknickte Form aufwies, während der der alten Frau eher rundlich war.
    Die Hexe stellte sich als Amanda vor. Hanswalter stellte sich ebenfalls vor und versuchte dabei sein Misstrauen ihr gegenüber zu verbergen. Er fragte sie, ob sie die Enkelin der alten Frau gesehen hätte. Irgendwie schien sie nicht gerne darüber zu sprechen, dennoch erklärte sie ihm, dass das Mädchen irgendwo im Labyrinth zu finden sei.
    Als Hanswalter gerade aufbrechen wollte, bot sie ihm noch an, etwas Proviant bei ihr einzukaufen oder einen Kürbis zu pflücken. Da ihre Küche jedoch überwiegend auf Blut und Leichenteilen basierte, begnügte der Schmied sich dankend mit einem Kürbis.
    Es war nur ein kurzer Weg, bis er auf den nächsten Bewohner des Labyrinths stieß. Ein schwarzer Reiter ritt eilig an ihm vorbei und verschwand um die nächste Ecke. Er konnte in der Eile nicht viel von ihm erkennen, doch irgendwie sah es so aus, als würde dem Reiter sein Kopf fehlen. Vielleicht war das aber auch nur eine Täuschung in der Dunkelheit gewesen. Schulterzuckend setzte er seinen Weg fort.

    Hanswalter öffnet einen Glückskeks und liest folgenden Spruch: Wer zuletzt lacht, hat es als letzter verstanden.


    Falls jemand Langeweile hat: In Professor Blooms Bibliothek steht ein Werk in 4 Bänden zu der Vorgeschichte Hanswalters.

  • Hinter der nächsten Abzweigung fand Hanswalter endlich ein Wesen, das Emeline sein konnte. Das Mädchen war klein und blass. Ihre Augen sahen geistesabwesend in die Ferne. Es war nicht gerade warm in dem Labyrinth, weshalb ihre spärliche dünne Bekleidung etwas zu luftig wirkte.
    Leise sprach der Schmied sie an. Bis dahin schien sie ihn überhaupt nicht wahrgenommen zu haben, denn nun zuckte sie leicht zusammen. Hanswalter fragte sie, wer sie sei und wo sie herkäme, doch sie schien sich nicht so recht erinnern zu können. Sie redete nur davon, dass ihr ihr Teddy abhanden gekommen sei.
    Hanswalter versprach ihr, nach ihrem Teddy zu suchen. Die Hexe Amanda konnte ihm dabei vielleicht weiterhelfen.
    Wie er dann von ihr erfuhr, gab es in dem Labyrinth noch weitere Bewohner, von denen jemand den Teddy vielleicht gefunden haben konnte. Hanswalter durchsuchte daher jeden Winkel des Labyrinths. Er begegnete dabei einige Male wieder dem Reiter. Ja, er hatte tatsächlich keinen Kopf, schien das aber wortlos hinzunehmen. Überhaupt schien er sehr in Gedanken versunken zu sein. Wortwörtlich schien er kopflos durch das Labyrinth zu reiten.
    Andere Wesen schienen dagegen weniger harmlos zu sein. Das knochige Skelett schien noch recht freundlich zu sein, verglichen mit dem Zombie, der dauernd andeutete, den Schmied verspeisen zu wollen. Vielleicht hätte er mal die Hexe besuchen gehen sollen. Ihre kulinarischen Künste trafen sicherlich genau seinen Geschmack.
    Auch der massige Kampfhund, der es sich einer Ecke des Labyrinths gemütlich gemacht hatte, wirkte recht bedrohlich, sodass Hanswalter einen großen Bogen um ihn machte und sich auch noch etliche Kreuzungen später immer wieder umschaute, ob diese Bestie ihm nicht doch folgte.
    Die Gespensterscheuche, auf die er dann traf, wirkte am harmlosesten von allen Bewohnern des Labyrinths, abgesehen von dem kleinen Mädchen. Sie schaute etwas dümmlich drein und Hanswalter überlegte im ersten Moment, ob das kleine Mädchen nicht doch gefährlicher war. Doch wie sich herausstellte, hatte die Scheuche dem Mädchen den Teddy geklaut. Sie begründete es damit, dass sie von den anderen Bewohnern des Labyrinths gemobbt werde und etwas zum trösten brauche.
    Hanswalter ahnte schon worauf das hinauslief. Er erklärte sich bereit, sich dieses Problems anzunehmen und einmal mit den anderen Bewohnern zu reden.
    Wie befürchtet kam eins zum anderen und der Schmied verstrickte sich immer tiefer in die Belange der Labyrinth-Bewohner. Doch auf diese Weise fand er heraus, dass dem Mädchen noch mehr als nur ihr Teddy abhanden gekommen war. Neben einer Kuscheldecke und einer Spieluhr war dies auch ihr Verstand. Je mehr Hanswalter von den vermissten Dingen wiederbeschaffen konnte, desto mehr erinnerte sich das Mädchen. Den entscheidenden Fortschritt machte sie jedoch als sie ihren Verstand zurückerhielt.
    Um den zu bekommen hatte Hanswalter von einigen der Labyrinth-Bewohner ein Gesicht in den Kürbis schnitzen lassen, den er auf dem Feld der Hexe gepflückt hatte. Diesen hatte er dann dem kopflosen Reiter als neuen Kopf angedreht und im Gegenzug den Verstand des Mädchens erhalten. Es war ihm im Nachhinein rätselhaft, wie sich der Reiter auf diesen Handel hatte einlassen können. Offenbar hatte Hanswalter bezüglich seiner Fähigkeiten als Händler schon etwas von der Halloweenbotin gelernt. Die magische Laterne, die er eigentlich nicht haben wollte, schleppte er noch immer im Rucksack mit sich herum.
    Nun da das Mädchen sich wieder vollständig erinnern konnte, erfuhr Hanswalter, dass sie tatsächlich Emeline war und zehn Jahre zuvor in ein magisches Buch gezogen worden war und dass sie sich nun beide in diesem Buch befanden. Sie erklärte ihm, dass sie bewirken könne, dass er wieder aus dem Buch hinausgelangte, es für sie jedoch zu spät sei. Dann schrieb sie einen Brief an ihre Großmutter und gab ihn dem Schmied, damit er ihn überbringen konnte. Mit ihren letzten Worten dankte sie ihm für ihre Erlösung, bevor sie anfing, sich allmählich aufzulösen. Dabei schien sie von innen heraus immer heller zu leuchten.
    Hanswalter hatte sich inzwischen so an Dunkelheit gewöhnt, dass das Licht in seinen Augen brannte. Er kniff sie schließlich zusammen. Dann umfing ihn ein kalter Lufthauch.
    Als er die Augen wieder öffnete, war das Labyrinth verschwunden. Es war der wohlvertrauten Umgebung gewichen, die er zuletzt gesehen hatte, bevor er in das Buch gezogen worden war. Erleichtert, heil zurückgekehrt zu sein, atmete Hanswalter tief durch.
    Doch zugleich bedrückte ihn das Schicksal des kleinen Mädchens. In ihrer frühesten Kindheit war sie aus dieser Welt gerissen worden, in der es mindestens von ihrer Großmutter geliebt und schmerzlich vermisst wurde. Zehn Jahre hatte sie dann in einem dunklen Labyrinth verbringen müssen, umgeben von fragwürdigen Zeitgenossen, die ihr ihre Sachen und sogar ihren Verstand genommen hatten. Hanswalter hätte sie gerne in diese Welt zurückgeführt, doch wie sie selbst sagte, war es für sie zu spät gewesen. So hatte er ihr nur noch ins Jenseits verhelfen können.
    Mit hängenden Schultern machte er sich auf den Weg zum Rathaus. Er hatte der alten Frau noch einen Brief zu überbringen.

    Hanswalter öffnet einen Glückskeks und liest folgenden Spruch: Wer zuletzt lacht, hat es als letzter verstanden.


    Falls jemand Langeweile hat: In Professor Blooms Bibliothek steht ein Werk in 4 Bänden zu der Vorgeschichte Hanswalters.

  • Am nächsten Morgen, als Hanswalter sein Haus verließ, lief er nach einigen Metern einem Gespenst über den Weg. Die Ereignisse im Labyrinth hatten ihn so sehr beschäftigt, dass er fast schon wieder vergessen hatte, dass Halloween war. Wie jedes Jahr spukten die Gespenster durch die Straßen Trents. Wie jedes Jahr kamen auf jedes Gespenst mindestens drei Bürger, die ihm mit erhobener Laterne nacheilten. Meistens jedenfalls. Dieses Gespenst hier war allein. Es hatte wohl erfolgreich in den verwinkelten Gassen der Stadt Schutz gesucht.
    Hanswalter versicherte dem Gespenst, dass er ihm nichts antun wolle und im Gegenteil auch dieses Jahr wieder für die Gespenster einen schmerzfreien Übergang ins Jenseits finden würde. Unwillkürlich fragte er sich, wie der Übergang wohl für Emeline gewesen war.
    Er erzählte dem Gespenst davon, was sich in den letzten beiden Jahren an Halloween zugetragen hatte und dass es Alternativen zu beengten Laternen und brodelnden Kesseln gab. Vor zwei Jahren hatten die Halbelfe Zihaani und die Druidin Valyndea ein magisches Tor ins Jenseits geöffnet, durch das die Gespenster ohne den Umweg über Laternen und Kessel erlöst werden konnten.
    Im letzten Jahr waren Zihaani und Valyndea jedoch nicht mehr aufzufinden gewesen und so hatte Hanswalter eine andere Lösung finden müssen. Eine Nekromantin, die er über Zwurrf kennengelernt hatte, hatte ihm ein magisches Werkzeug und eine Anleitung gegeben, wie er mittels Nekromantie ein Portal zur Welt der Toten öffnen konnte. Isimud hatte ihm bei der Durchführung auf dem Friedhof geholfen, indem er Eulen verscheucht und die aufgeregten Gespenster beruhigt hatte. Leider war das Ritual nicht ganz ohne Zwischenfälle verlaufen. Als alle Gespenster durch das Tor geschritten waren, hatte plötzlich ein Wesen von der anderen Seite herausgeschaut. Lady Sharina war gerade noch rechtzeitig erschienen, um das Tor mit einem lautstarken Zauber zu schließen, bevor das Wesen vollständig hatte hindurchschreiten können.
    Dieses Jahr würde Hanswalter es etwas vorsichtiger angehen. Er wusste noch nicht genau, wie er es anstellen sollte, aber auch dieses Jahr würde er die Gespenster zur anderen Seite führen. Das Gespenst vor ihm schien überzeugt. Es beschloss ihm zu folgen, bis der Weg ins Jenseits gefunden war.


    Wieder einmal lag es an Hanswalter, die Bürger darauf aufmerksam zu machen, dass der Kessel nicht die beste Lösung war, Gespenster zu befreien. Es mochte zwar funktionieren, aber welches Gespenst wollte schon gerne bei lebendig untotem Leib gekocht werden? Dem Schmied schien diese Methode nicht sehr human zu sein und nach eigenen Aussagen fürchteten sich viele Gespenster vor dem Kessel. Doch solange die Halloweenbotin damit warb, dass der Kessel für jedes eingekochte Gespenst eine Süßigkeit hervorbrachte, würden die meisten Bürger auch weiterhin Gespenster fangen und einkochen.
    Hanswalter musste einfach eine Gegenkampagne durchführen. Schon in den letzten beiden Jahren hatte er überall in der Stadt Schilder aufgestellt, die die Bürger auf die Wahrheit zu dem Kessel hinweisen sollten. Leider war er dabei nicht allzu ernst genommen worden. Es hatte zwar einige Anhänger seiner Ansichten gegeben, doch ihre Anzahl war überschaubar gewesen. Dieses Jahr musste er sich etwas Besseres einfallen lassen. Vielleicht musste er einfach nur noch mehr Schilder aufstellen.
    Also ging er zu der Werkbank am Haus des Handwerks und begann, fleißig Schilder zusammen zu hämmern, die er dann mit seinen Parolen beschriftete. Anschließend lief er einmal durch die ganze Stadt und platzierte sie an jedem Ort, der ihm geeignet schien. Immer wieder schwebten ihm dabei weitere Gespenster über den Weg, die sich sogleich seinem Gefolge anschlossen.
    Am Abend hatte sich das Erscheinungsbild der Stadt merklich gewandelt. Man brauchte nur wenige Meter gehen, um auf eines von Hanswalters Schildern zu stoßen. Wie jedes Jahr stieß dies bei den wenigsten Mitbürgern auf Begeisterung. Der Gespensterschützer musste sich einige Beschwerden anhören. Auch musste er sich bei einigen Diskussionen, die er wegen seiner Kampagne führte, anhören, dass das doch alles Unsinn sei, was er tat. Unterstützung fand er wie gewohnt wenig. Häufig machte man sich sogar lustig über ihn. Demonstrativ hielt man ihm andauernd mit Gespenstern gefüllte Laternen unter die Nase.
    Ganz vorne mit dabei war Yoschi. Die kleine grüne Dinosaurierdame ließ sich keine Gelegenheit entgehen, Hanswalter mit ihren gefangenen Gespenstern aufzuziehen. Doch das wollte er sich nicht einfach so gefallen lassen. In einem unbeobachteten Moment stellte er eines seiner Schilder direkt vor die Haustür der Gespensterjägerin auf und erwähnte sie darauf namentlich. Sollten ihre Nachbarn doch sehen, dass sie Gespenster einkochte. Irgendwie hatte er nur das Gefühl, dass das Schild weder die Nachbarn, noch Yoschi selbst sonderlich jucken würde.
    Mit Schildern konnte er seine Mitbürger also nicht wirklich dazu bewegen, die Gespenster in Frieden zu lassen. Er brauchte dringend eine bessere Methode.
    Die entscheidende Idee bekam der Gespensterschützer dann, als er einige Tage später zufällig am schwarzen Brett der Stadt auf die Ankündigung eines Wettbewerbs stieß. Der Stadtrat rief dazu auf, möglichst viele Gespenster zu fangen und stellte dem Jäger mit den meisten gefangenen Gespenstern eine Belohnung in Aussicht.
    Das war es. Mit einer winkenden Belohnung konnte man scheinbar viel erreichen. Hanswalter überlegte, dass eine Belohnung für den Gespensterjäger mit den wenigsten gefangenen Gespenstern sicherlich, den einen oder anderen Bürger überzeugen konnte, keine Gespenster zu fangen. Zumindest sollte das besser funktionieren als mahnende Parolen auf Schildern. Kurzentschlossen heftete er einen weiteren Zettel unter den Aushang, auf dem er für eine eigenen Wettbewerb warb, eben einen solchen, bei dem der Sieger der Teilnehmer mit den wenigsten gefangenen Gespenstern sein würde. Für den Sieger beschloss er einen der exotischen Artikel der alten Frau zu stiften.
    Schon bald meldeten sich die ersten Teilnehmer an. Doch ihre Anzahl war noch recht gering. Der Halbdämon Chucky machte Hanswalter darauf aufmerksam, dass sich vermutlich überwiegend Bürger melden würden, die gar kein Interesse hätten, überhaupt Gespenster zu fangen. Das war natürlich nicht die beabsichtigte Zielgruppe. Zudem würde es am Ende darauf hinauslaufen, dass der Gewinn unter dem Großteil der Teilnehmer ausgewürfelt werden würde, was den Wettbewerb an sich wenig attraktiv machte.
    Glücklicherweise hatte Chucky aber auch einen Vorschlag, der den Wettbewerb interessanter machen würde: die Ermittlung des Siegers nach der alleinigen Tiefstzahl. Dabei würde der Teilnehmer gewinnen, der als einziger, die kleinste Anzahl an gefangenen Gespenstern hatte.
    Für Hanswalter konnte dies nur eine Kompromisslösung sein. Ein Wettbewerb dieser Art beinhaltete, dass die meisten Teilnehmer wohl bewusst Gespenster fangen würden. Andererseits würden die Zahlen aber vermutlich recht gering sein. Der Nutzen, den Wettbewerb interessanter zu machen, überwog hier und so entschloss sich Hanswalter, Chuckys Vorschlag als eine zweite Disziplin für seinen Wettbewerb umzusetzen. Tatsächlich stiegen danach die Anmeldezahlen deutlich an.

    Hanswalter öffnet einen Glückskeks und liest folgenden Spruch: Wer zuletzt lacht, hat es als letzter verstanden.


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  • In den darauffolgenden Tagen dachte Hanswalter ständig darüber nach, wie er die Gespenster in diesem Jahr ins Jenseits schicken konnte. Abgesehen von dem Kessel der Halloweenbotin kannte er dazu zwei Möglichkeiten. Doch ohne fremde Hilfe konnte er keine von beiden anwenden. Beide hatten mit Magie zu tun und Hanswalter war eben kein Magier.
    Genaugenommen reichte es für die zweite Methode, wenn man über einen bestimmten magischen Gegenstand verfügte. Ein Stein, mit dem man ein Pentagramm für ein Ritual aus dem Bereich der Nekromantie zeichnen musste. Im letzten Jahr hatte Hanswalter diesen Stein von der Nekromantin Morena Schattenhand bekommen. Doch das Ritual hätte beinahe üble Folgen gehabt und der Gespensterschützer wollte sich nicht so bald wieder mit Nekromantie abgeben. Er war froh darum, dass die Nekromantin den Stein wieder an sich genommen hatte.
    Allerdings hatte er auch keine Ideen für Alternativen. Er verbrachte viel Zeit in der Bibliothek von Professor Bloom, doch er hatte im vergangenen Jahr dort schon keine Lösung gefunden. Auch schien es in ganz Simkea niemanden zu geben, der ihm helfen konnte. Im vergangenen Jahr hatte er erfolglos am Markt herumgefragt. Dieses Jahr zog er es gar nicht erst in Betracht.
    Immer wieder kehrten seine Überlegungen zur Nekromantie zurück. Diese Methode war zwar gefährlich, aber er wusste jetzt ja, worauf er achten musste. Die Fehler vom letzten Mal würde er bestimmt nicht wiederholen.
    Eine Flasche mit durch die Magie des Lichts verzaubertem Wasser hatte er diesmal nicht. Die, die er von Hubertus Dunstfackel bekommen hatte, hatte er verwendet, um seine Rückverwandlung von einem Kater in einen Menschen zu bewirken. Dieses magische Wasser war die einzige wirksame Waffe gegen Dämonen gewesen, die er besessen hatte. Aber beim letzten Mal war er sich über die richtige Anwendung eh nicht im Klaren gewesen und es hätte ihm nur wenig genutzt. Er würde gegebenenfalls auch schon ohne so eine Flasche auskommen.


    Man merkte, dass es auf den Winter zuging. Von Tag zu Tag wurde es kälter und tagsüber wurde es nicht mehr richtig hell. Immer häufiger waren die Wiesen morgens von einem knusprigen weißen Belag wie Zuckerguss bedeckt.
    In den Gassen der Stadt konnte man immer weniger Gespenster finden. Die Bürger hatten ganze Arbeit geleistet mit ihren magischen Laternen. Doch auch Hanswalter war nicht untätig gewesen. Mehrere Hundert Gespenster begleiteten ihn bereits überall hin. Wie viele es genau waren, konnte er nicht sagen. Er hatte in diesem Jahr gar nicht erst versucht, sie zu zählen.
    Als dann der Tag kam, an dem kein weiteres Gespenst mehr gefunden wurde, betrachtete Hanswalter seinen Wettbewerb als beendet. Die Ratsdame Flummii, um deren Hilfe er gebeten hatte, teilte ihm die Zahlen der gefangenen Gespenster der Teilnehmer mit. Sie musste diese Zahlen kennen, da sie sie auch für den offiziellen Wettbewerb brauchte, bei dem es darum ging, die meisten Gespenster zu fangen.
    Der Gespensterschützer studierte die Schriftrolle mit den Ergebnissen genau. Zufrieden stellte er fest, dass die meisten Teilnehmer seines Wettbewerbs sich mit dem fangen von Gespenstern zurückgehalten hatten. Scheinbar hatte der Wettbewerb seinen Zweck erfüllt.
    Es war an der Zeit die Gewinner bekannt zu geben. Da mehrere Mitbürger kein einziges Gespenst gefangen hatten, musste Hanswalter in der ursprünglichen Disziplin des Wettbewerbs einen Sieger auswürfeln. Dies tat er in aller Öffentlichkeit auf dem Marktplatz, sodass jeder der Anwesenden sehen konnte, dass alles mit rechten Dingen zuging. Auf diese Weise gewann seine Fußball-Teamkollegin Amazone. Die alleinige Tiefstzahl hatte mit zwei gefangenen Gespenstern die Chefredakteurin des Trenter Boten Maddie Hayes und gewann somit in der zweiten Disziplin.
    Da die Gewinner nicht zu den Anwesenden zählten, nahm sich Hanswalter vor, die Preise per Post an sie zu verschicken, falls er ihnen nicht in den nächsten Tagen über den Weg lief.
    Etwas später am selben Tag wurden auch die Gewinner des offiziellen Wettbewerbs bekannt gegeben. Den ersten Platz belegte Tscharli mit über vierhundert Gespenstern. Hanswalter konnte kaum glauben, dass jemand in etwa einem Monat, der seit dem Auftauchen der Gespenster inzwischen vergangen war, so viele dieser Spukwesen einfangen konnte. Andererseits... Er brauchte sich nur umzudrehen und sah hinter sich eine Gespenstermenge in ähnlicher Größenordnung. Aber vor ihm flogen die Gespenster ja auch nicht weg, wenn er sich ihnen näherte. Mit etwas Heimtücke hätte er nur die magische Laterne aus seinem Rucksack holen müssen und hätte noch gute Chancen gehabt, Tscharli vom ersten Platz zu verdrängen. Aber darüber dachte der Gespensterschützer nicht ernsthaft nach. Er hatte den Gespenstern das Versprechen gegeben, sie auf angenehmere Weise als durch den Kessel zu erlösen, und das würde er auch in tiefster Überzeugung halten.
    Da es in den Gassen nun keine Gespenster mehr zu finden gab, war es an der Zeit, sich von der spukenden Meute in seinem Gefolge zu trennen. Hanswalter hatte eine Entscheidung und die entsprechenden Vorbereitungen getroffen. In einer der kommenden Nächte wollte er aufbrechen.

    Hanswalter öffnet einen Glückskeks und liest folgenden Spruch: Wer zuletzt lacht, hat es als letzter verstanden.


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  • Es war eine stille Dezembernacht. Der Himmel war klar und die beiden Monde hingen wie silberne Sicheln zwischen den funkelnden Sternen. Ohne Wolken konnte die Wärme am Boden ungehindert zum Himmel entweichen. Unter den Sohlen seiner Stiefel knirschte das Gras bei jedem Schritt, den Hanswalter tat. Jeder seiner Atemzüge wurde von einer kleinen Wolke begleitet, die beim Ausatmen aus seiner Nase strömte.
    Die Nacht hatte ihren dunkelsten Punkt erreicht. Ganz Trent schlief zu dieser Stunde still und friedlich. Unbemerkt hatte er sich durch das Stadttor schleichen können, obwohl ihm seine spukenden und recht leuchtkräftigen Freunde gefolgt waren.
    Genauso unbemerkt war ihm eine weitere Person gefolgt, die in der Dunkelheit wesentlich weniger auffiel als die Gespenster. Es hatte fast den ganzen Abend gedauert, bis Hanswalter sie hatte überreden können, ihn zu begleiten. Sie hatte gesagt, sie wolle den Friedhof nicht betreten und sie würde nur in der Nähe warten, damit sie im Notfall eingreifen könne. Der Schmied hatte ihr mehrfach versichern müssen, dass er diesmal besser aufpassen würde.
    Nun ging sie, die Nekromantin Morena Schattenhand, an seiner Seite durch das kalte Trenter Umland. Seit er sie das letzte Mal gesehen hatte, hatte sie sich nicht verändert. Sie war groß, schlank und wohlgeformt. Die schwarzen seidigen Haare hingen in leichten Wellen bis zur Hüfte über ihrem Rücken und schimmerten leicht im Mondlicht und dem Licht, das von den Gespenstern ausging. Wieder trug sie das lange schwarze Kleid. Es schien ihr eine ausreichende Winterbekleidung zu sein. Jedenfalls schien sie nicht darin zu frieren.
    Hanswalter hatte sich hingegen in seinen dicken Fellmantel gehüllt und seine Lederhandschuhe angezogen und dennoch fror er. Aus dem Gedanken heraus sprach er sie darauf an.
    Sie lächelte etwas amüsiert. „Diese Kälte ist bei weitem nicht die schlimmste, die ich jemals habe ertragen müssen“, antwortete sie.
    Hanswalter überlegte einen Moment, ob er fragen sollte, wo man denn eine Kälte erleben konnte, gegen die gegenwärtige warm genug erschien, um nur in einem dünnen Kleid herumzulaufen. Doch die Nekromantin hatte ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Weg gerichtet. Sie zeigte nach vorne. „Wir sind gleich da.“
    Noch immer an seinen Überlegungen hängend, fiel dem Gespensterschützer auf, dass sie, anders als er, keine kleinen Wolken beim Atmen oder Sprechen ausstieß.
    „Wisst Ihr, was Ihr tun müsst, oder habt Ihr noch Fragen?“, fragte sie.
    „Ich denke, es ist alles klar“, meinte Hanswalter. „Ich zeichne mit dem schwarzen Stein das Pentagramm auf den Boden und stelle die sechs Steine auf. An einen von ihnen binde ich eine Schnur, damit ich ihn im Notfall schneller wegziehen kann.“
    Sie nickte. „Gut, dann sollte nichts schiefgehen. Haltet Euren Blick die ganze Zeit über auf das Portal, damit ihr sofort seht, wenn etwas Unerwünschtes passiert“, erinnerte sie ihn.
    „Das werde ich“, versprach Hanswalter, woraufhin Morena den schwarzen Stein aus ihrer Tasche holte und ihn ihm überreichte.
    „Viel Erfolg“, sagte sie und lächelte ermutigend.
    „Danke. Es wird nicht lange dauern.“ Mit diesen Worten schritt Hanswalter durch das Friedhofstor. Die Gespenster folgten ihm, während die Nekromantin davor wartete.
    Als er den gepflasterten Platz erreichte, auf dem die Segnung ihr Dasein fristete, grüßte er sie mit einem freundlichen „guten Abend“.
    Die Statue schwieg. Vielleicht musste selbst sie einmal schlafen.
    Ohne viel Zeit zu vertrödeln holte Hanswalter zwei Fackeln aus seinem Rucksack, steckte sie neben dem Platz in den Erdboden und entzündete sie.
    „Ihr schon wieder?“, fragte plötzlich eine kräftige allgegenwärtige Stimme. Die Segnung schlief offenbar doch nicht. „Wollt ihr an diesem Ort der ewigen Ruhe wieder ein Feuerwerk zünden, wie letztes Jahr?“
    Der Schmied schaute irritiert. Sie musste die Magie von Lady Sharina meinen, die im vergangenen Jahr schlimmeres verhindert hatte. „Ich bin sicher, dass es dieses Jahr nicht nötig sein wird“, versicherte er.
    „Das will ich hoffen. Dies hier ist kein Ort für so etwas.“
    Hanswalter nickte verständnisvoll.
    „Ihr seid also hier, um wieder ein Tor in die Welt der Toten zu öffnen?“, fragte die Segnung. „Seid Ihr sicher, dass Ihr Euch diesmal der Gefahren bewusst seid?“
    „Ja, diesmal wird nichts passieren. Ich habe Vorkehrungen getroffen.“ Er kramte einen Lebensstein und eine aufgerollte Schnur aus seinem Rucksack. „Damit kann ich das Tor sofort schließen, ohne erst zu einem der Steine hinlaufen zu müssen.“
    „Dann passt auch auf, dass ihr den Faden immer in Eurer Hand haltet.“
    „Ich binde ihn mir ans Handgelenk.“
    Damit schien die Segnung zufriedengestellt. Als sie nichts weiter sagte, holte Hanswalter auch die restlichen fünf Lebenssteine aus dem Rucksack. Um das Tor zu öffnen, musste er sie in die Mitte und in die fünf Ecken des Pentagramms stellen, das er mit dem Stein der Nekromantin auf den Boden zeichnen würde. Er erinnerte sich noch gut an diesen Teil und auch, dass es ohne Schwierigkeiten auf Anhieb funktioniert hatte.
    Diesmal war jedoch niemand anwesend, der sich um die viele Gespenster kümmerte. Schon jetzt, bevor Hanswalter überhaupt etwas getan hatte, schwirrten sie aufgeregt um ihn herum. Auch seine Bitte, ihm etwas mehr Freiraum zu lassen, half nicht. Wie sollte er so in Ruhe das Ritual durchführen?

    Hanswalter öffnet einen Glückskeks und liest folgenden Spruch: Wer zuletzt lacht, hat es als letzter verstanden.


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  • Er versuchte es einfach mal und hockte sich mit dem schwarzen Stein in der Hand auf den Boden. Doch als er ihn gerade zum Malen ansetzte, schwirrten so viele Gespenster vor ihm herum, dass sie ihm trotz ihrer Halbtransparenz die Sicht nahmen. So konnte das nichts werden. Er musste sich etwas einfallen lassen.
    Kurzentschlossen nahm er zwei der Lebenssteine und ging mit ihnen davon. Die Gespenster schienen dies erst nicht zu bemerken, doch dann folgten sie ihm.
    „Dieser Ort scheint mir viel geeigneter zu sein“, meinte er an seine spukenden Begleiter gewandt, als er in einiger Entfernung eine freie Fläche zwischen den Gräbern fand. „Die Segnung scheint mir doch etwas zu misstrauisch zu sein.“
    Demonstrativ stellte der Schmied die Steine auf den Boden und sagte: „Ich mache das Tor hier auf. Ich muss nur noch schnell die Fackeln und die anderen Steine holen. Passt doch solange auf die beiden Steine auf. Vielleicht tut sich ja schon irgendetwas.“
    Als er daraufhin zur Segnung zurückging, folgte ihm kein einziges der Gespenster. Sie waren so fixiert auf dieses Ritual, aber zugleich darüber unwissend genug, dass sie gutgläubig seinem Vorschlag Folge leisteten und eifrig darauf warteten, dass sich bei den einsamen Steinen mitten auf dem Friedhof etwas Aufregendes ereignete.
    Hanswalter nutzte diesen Moment und zeichnete, nachdem er die Segnung wieder erreicht hatte, in Ruhe ein im Durchmesser zwei Mannslängen messendes Pentagramm auf die Pflastersteine. Wie er es im Vorjahr schon beobachtet hatte, begannen die Linien von einem kurzen Rauschen begleitet rot aufzuleuchten, als er die letzte davon vollendet hatte. Dann stellte er die vier Lebenssteine, die noch auf dem Platz lagen, in vier der Ecken des Pentagramms. Nun musste er nur noch die letzten beiden Steine und die Gespenster zurückholen.
    „Bei der Segnung ist es doch viel schöner“, meinte der Gespensterschützer nur, als er in die Gespenstermenge trat und die beiden Lebenssteine aufhob. Die Gespenster schienen darüber etwas verwirrt zu sein, folgten ihm aber, ohne dass er sie dazu auffordern musste.
    Einen der Steine stellte er in die letzte freie Ecke. Um den anderen band er ein Ende der Schnur, das andere Ende knotete er an sein Handgelenk. Die Schnur war nun noch gut zwei Mannslängen lang. Das sollte ausreichen.
    Hanswalter hielt den Stein einen Moment in der Hand und überlegte, ob er noch etwas vergessen hatte. Die Gespenster wurden unterdessen immer unruhiger. Da ihm nichts einfiel, beugte er sich hinab und stellte den sechsten Stein in die Mitte des Pentagramms. In Erinnerung an diesen Moment vor einem Jahr tat er dies mit einem möglichst lang ausgestreckten Arm. Noch einmal wollte er nicht mit dem Kopf in dem Tor stecken.
    Das Tor öffnete sich auch gleich einen kurzen Moment nachdem der Stein den Boden berührt hatte. Wie eine riesige Scheibe ragte es dunkelrot leuchtend und schwach vor sich hinwabernd vor ihm auf. Es war vollbracht. Nun mussten er nur noch die Gespenster auffordern... Doch das hatten sie schon von allein herausgefunden. Dicht an dicht drängelte sich die ektoplasmatische Schar vor dem Tor und quetschte sich nach und nach hindurch.
    Einige seiner gespenstischen Freunde dankten Hanswalter für seine Hilfe, als sie an ihm vorbeischwebten. Für ihn war das wieder einmal ein Zeichen dafür, dass er das Richtige getan hatte. Er würde auch im folgenden Jahr die Gespenster wieder vor dem Hexenkessel bewahren.
    Alle Gespenster flogen durch das Tor, ohne dass Hanswalter es vorzeitig schließen musste. Kein Wunder, bei dem Tempo, das die Gespenster dabei vorlegten, blieb den Wesen aus der Totenwelt wohl auch nicht allzu viel Zeit, dieses Tor zu entdecken.
    Der Schmied nickte zufrieden und beschloss, dass Tor nicht länger offen stehen zu lassen. Doch er hatte einen Moment zu lange gezögert. Er erschrak, als ihn plötzlich zwei ausdruckslose Augen ohne Pupillen anstarrten. Ein dunkles Gesicht zeichnete sich in der Oberfläche der Torscheibe ab. Die rot leuchtenden Augen stachen daraus hervor und zogen Hanswalter in ihren Bann. Dieses Gesicht hatte er auch im vergangen Jahr schon gesehen. Es hatte einen unbehaglichen Einfluss auf ihn, der es ihm unmöglich machte wegzusehen. Nun war der richtige Zeitpunkt für Lady Sharina, aus irgendeinem Gebüsch gesprungen zu kommen und die Sache zu beenden. Doch Hanswalter war hier ganz allein, abgesehen von der Segnung und diesem Gesicht vor ihm.
    „Ein Jahr lang habe ich gewartet, dass wir uns wiedersehen“, sagte eine bedrohlich dunkle Stimme. „Dieses Mal kannst du mich nicht aufhalten.“
    Das Gesicht kam immer weiter aus dem Tor heraus. Hanswalter spürte die Angst in seine Glieder fahren. Er konnte sich kaum noch bewegen. Hatte er Morena nicht zugesichert, dass er aufpassen würde, dass sich der Vorfall vom Vorjahr nicht wiederholte? Er hatte sich doch extra diese Schnur ans Handgelenk gebunden... Ja die Schnur. Sie würde ihn retten.
    Es kostete ihn viel Mühe, doch dann schaffte der Schmied es, seinen Arm zu bewegen. Mit einem kräftigen Ruck zog er an der Schnur. Das Gesicht vor ihm verschwand im gleichen Moment. Kurz darauf fiel das ganze Tor in sich zusammen und verschwand ebenfalls. Das letzte, was Hanswalter von der Stimme hörte, war „Jetzt habe ich dich“, dann war alles still.
    Langsam wurde der Schmied wieder beweglicher. Er schaute sich eilig um. Von einer dämonischen Gestalt oder ähnlichem war weit und breit nichts zu sehen. Da hatte er wohl wieder einmal Glück gehabt.
    „Da habt Ihr aber gerade nochmal Glück gehabt“, kommentierte auch die Segnung den Vorfall. „Ich habe versucht, ihn zurückzudrängen, aber er war sehr stark.“
    „Das habe ich gemerkt“, meinte Hanswalter, dem der Schrecken noch immer in den Gliedern saß.
    „Ist alles in Ordnung?“, hörte er eine weitere Stimme fragen. Morena stand hinter ihm und schaute sich unruhig um. „Ist etwas herausgekommen?“
    „Es ist alles gut gegangen“, beruhigte Hanswalter sie.
    „Was macht Ihr denn hier?“, fragte die Segnung die Nekromantin aufgebracht. „Ihr solltet nicht hier sein. Die Toten mögen das überhaupt nicht.“
    „Verzeiht bitte“, entschuldigte Morena sich. „Ich habe gespürt, dass etwas Böses in unsere Welt dringen wollte und musste mich vergewissern, dass es ihm nicht gelungen ist. Wir werden den Friedhof sofort wieder verlassen.“ Mit einem bedeutenden Blick sah sie zu Hanswalter.
    „Wir sind so gut wie weg“, fügte er eilig hinzu und packte schnell seine Utensilien wieder in den Rucksack. Bis auf die brennenden Fackeln. Davon reichte er eine an Morena weiter und trug selbst die andere.
    Als er gerade den ersten Schritt zum Gehen ansetzte, sagte die Segnung zu ihm: „Nächstes Jahr solltet Ihr vielleicht doch wieder nach einer anderen Lösung für Euer Gespensterproblem suchen. Die Nekromantie ist nichts für Euch. Dennoch möchte ich Euch beglückwünschen, dass Ihr es dieses Mal auch ohne Feuerwerk geschafft habt.“
    „Vielen Dank.“ Hanswalter grinste und verließ zusammen mit Morena den Friedhof. Ja, dachte er sich, als er froh gestimmt den Weg entlangging, dieses Jahr hatte er es wieder geschafft, ohne dass etwas schiefgegangen war.

    Hanswalter öffnet einen Glückskeks und liest folgenden Spruch: Wer zuletzt lacht, hat es als letzter verstanden.


    Falls jemand Langeweile hat: In Professor Blooms Bibliothek steht ein Werk in 4 Bänden zu der Vorgeschichte Hanswalters.