Die Münze (RP)

  • Die Münze


    Furchteinflößende dunkle Schatten mit tiefschwarzen Knopfaugen und messerscharfen Zähnen. Alle verharrten und schienen auf ein Zeichen zu warten, das Zeichen zum Angriff. Rhodo versuchte, sich zu bewegen, aber sie war wie festgefroren. Sie schrie, doch es kam kein einziger Laut heraus.Da fielen alle Biester gleichzeitigüber sie her. Sie bissen und kratzten und quiekten und schienen sich am misslichen Schicksal ihres Opfers zu erfreuen. Rhodo wollte sich wehren, aber es waren einfach zu viele. Sie wurde auf den Boden gedrückt und ihr wurden die Kleider vom Leib gerissen; Das Letzte, was sie sah, war eine furchtbar entstellte, grinsende Fratze mit vielen, vielen Zähnen, die sich langsam und schmerzhaft in ihr Fleisch bohrten, während sie einen letzten gequälten Schrei von sich gab…

  • Schweißgebadet wachte Rhododendron auf. Verängstigt sah sie sich in ihrem Zimmer um, um sich nochmals zu vergewissern, dass dies tatsächlich nur ein Traum gewesen war. Vorsichtig raffte sie ihre Kleidung, eine dunkelblaue Tunika und eine graue Stoffhose, zusammen, zog sich an und schlenderte zum Markt, um ihre Waren im Auktionshaus einzustellen, ein paar Sachen im Brennofen zu brennen, Wasser am Brunnen zu schöpfen und anderen alltäglichen Geschäften nachzugehen. Vor vier Tagen war sie aus der Nordschneise zurückgekehrt und hatte viele Zitronen, Oliven und Kakaobohnen mitgebracht, mit denen man sicherlich ein gutes Geschäft abschließen konnte. Zufrieden stellte Rhodo fest, dass in ihrem Leben alles geregelte Bahnen verlief. Die Zeiten, in denen sie um ihr Geld bangen musste, waren längst vorbei.So versuchte sie, den Tag möglichst voll und ganz zu genießen, wie die anderen Tage eben auch… aber sie konnte sich kaum konzentrieren und musste die ganze Zeit lang an jenen schrecklichen Alptraum denken. Eine dunkle Vorahnung beschlich Rhodo. Sie fragte sich, ob es möglich wäre, dass dieser Traum einen tieferen Sinn offenbart hatte, als das bloße Gefühl von Angst und Schrecken. Doch was wäre, wenn diese tiefere Bedeutung nichts Gutes für sie bedeuten würde? Sie wagte nicht, daran zu denken.Beunruhigt lief Rhodo zum Lagerhaus, wo sie Blueface, dem Wächter mit der blauen Hautfarbe, ihre Sachen entgegenstreckte und sich auf ein kurzes Schwätzchen mit ihm einließ.
    „Sei gegrüßt Blue, wie geht es dir so? Irgendwas Neues bei dir?“
    „Hallo Rhodo, schön dich wieder zu sehen! Kommst ja ziemlich oft hierher!“, begrüßte Blueface sie und grinste belustigt.
    „Tja, das lässt sich eben nicht vermeiden, wenn man sich wie ich partout weigert, einen Rucksack zu erwerben“, kicherte Rhodo.
    „Bei mir ist nie irgendwas Neues los, das weißt du doch. Die simkeanischen Bewohner kommen hier herein, lassen ihre Sachen zurück, nehmen sich andere mit und gehen wieder. Daran ist nichts neu oder spannend, und genau das genieße ich an diesem Beruf. Aber sag mal, Rhodo, wie geht es dir so? Du siehst ja nicht gerade fröhlich aus!“, bemerkte Blueface mit besorgter Stimme.
    „Ach, eigentlich ist alles in Ordnung, aber irgendwie…ich weiß auch nicht, ich hatte letzte Nacht so einen grauenhaften Alptraum, in den ich viele, viele dunkle Schatten sah und…“Die Worte sprudelten nur so aus Rhodo heraus. Sie war froh, es endlich jemandem vertrauenswürdigen erzählen zu können, die Last, die sie seit diesem Morgen bedrückte, etwas mindern zu können. Blueface wirkte ehrlich interessiert an ihrer Geschichte und zog seine Augenbrauen hoch, als Rhodo das dunkle Gewölbe und ihre Mutmaßungen erwähnte.
    „Dunkles Gewölbe, sagst du? Hmm…es gibt eigentlich nur einen Ort, an den mich das erinnert, und wenn du mit deiner Befürchtung, dieser Traum sei mehr als nur ein Hirngespinst, recht haben solltest, dann sieht es nicht gut für dich aus. Deine Erzählung klang ja wirklich sehr furchteinflößend!“
    „Genau das macht mir Sorgen. Was, denkst du, könnte das dunkle Gewölbe sein?“
    „Der Keller der Taverne, glaube ich.“
    „Aber natürlich! Ich Dummerchen!“, rief Rhodo und schlug sich ihre Hand gegen die Stirn. „Warum bin ich nicht gleich darauf gekommen? Vielen Dank Blue, ich werde mal Reto fragen, ob er vielleicht mehr über diese Angelegenheit weiß!“ rief Rhodo Blueface noch zu, während sie schon in Richtung Taverne eilte.

  • Die Tür der Taverne öffnete sich schwerfällig; die Scharniere quietschten und Rhodo trat herein. Sie sah Reto, den Besitzer der Taverne, schon von weitem die Gläser an der Theke putzen und gesellte sich zu ihm.
    „Hallo Reto! Ich hätte da so eine Sache, ich dachte, du könntest mir vielleicht weiterhelfen…“
    „Was gibt es denn, Rhododendron?“, fragte Reto und schob ihr ein Glas Wasser hin.
    „Ach, eigentlich nichts besonderes. Ich habe gerade mit Blue über einen rätselhaften Vorfall gesprochen…ich fand mich in einem dunklen Gewölbe wieder und es waren überall Ratten da. Blue meinte, das Gewölbe müsste der Braukeller sein.“
    Reto lachte. „Da würde ich mein halbes Gehalt drauf verwetten! Nicht wegen dem Keller, sondern wegen der Ratten. Die werden hier immer wieder zur Plage, bis ein weiterer angehender Kämpfer kommt, sie niedermetzelt und dafür eine schöne Belohnung von mir bekommt.“
    Rhodo bemerkte, dass Reto plötzlich still wurde und ein nachdenkliches Gesicht machte. Plötzlich leuchteten seine Augen auf.
    „Hei, du könntest die Ratten doch beseitigen! Hättest du halt gleich gesagt, dass du wegen denen gekommen bist! Es hat schon länger keiner diese vefluchten Biester in die Schranken verwiesen…und es gibt auch eine sehr lohnenswerte Belohnung dafür! Außerdem…“
    Rhodo hörte längst nicht mehr zu. Schon beim zweiten Satz war ihr alle Farbe aus dem Gesicht gewichen und sie musste sich am Tresen festhalten, um nicht umzufallen.
    „Rhododendron? Hörst du mir zu? Mensch, du bist ja kreidebleich geworden!“ rief Reto entsetzt.„Geht es dir gut? Ist etwas mit dir?“„
    Ich…ich…“ Rhodo brach mitten im Satz ab.
    „Das mit den R-ratten ist keine gute Idee, f-fürchte ich. Aber D-danke für das Angebot, Reto!“, stotterte sie und stürmte aus der Taverne. Reto sah ihr kopfschüttelnd nach.

  • Völlig erschöpft von der Arbeit kehrte Rhodo zu ihrem bescheidenen Holzhäuschen zurück, als sie bemerkte, dass sie ihren Hausschlüssel verloren hatte.
    „Auch das noch!“, stöhnte sie, lehnte sich an die Tür und sank zusammen. Sie fühlte sich wie ein feiges, kleines Häufchen Elend, das sich nicht traut, ein paar harmlosen Kellerratten den Garaus zu machen. Niemand außer Rhodo kannte den wahren Grund ihrer Angst. Als sie noch klein war, nicht älter als sieben Jahre, wurde sie einmal beim Spielen von einer Ratte gebissen. Die Wunde war nicht sehr groß, aber unglücklicherweise entzündete sie sich und Rhodo wäre beinahe an Blutvergiftung gestorben. Selbst, wenn das nicht eingetreten wäre, hätte sie an Blutmangel zugrunde gehen können, denn ihr Körper war von den vielen Aderlässen schon ziemlich ausgepumpt. Nur dem Schicksal hatte Rhodo es zu verdanken, dass sie heute noch am Leben ist. Seitdem rannte sie vor jedem Tier, das kleiner war als eine Katze, davon. Und auch größere Tiere versetzten sie manchmal in Schrecken, sodass es sehr lange gedauert hatte, bis sie sich an die Hühner und Katzen, die in Trents Gassen herumschleichen, gewöhnt hatte.

    Mittlerweile war Rhodo eingeschlafen. Sie träumte von Blueface und Reto, die auf den Tischen der Taverne herumhüpften und versuchten, sich die Kellerratten, so groß wie ausgewachsene Kühe, vom Leib zu halten. Gerade als die Kuhratten Retos und Blues Tisch umzingelt hatten und angreifen wollten, ließ Rhodo ein schepperndes Geräusch aufschrecken. Es war ihre Nachbarin Knochenspieler Selena, die gerade einen Schüssel ins Schloss ihres Hauses steckte, um abzuschließen. Die Sonne war gerade aufgegangen und ihre Lichtstrahlen ließen die Häuserreihen in einem sanften Licht erstrahlen.

  • „Hey Rhodo! Was machst du denn da? Morgensport?“, kicherte Selena und raffte ihren schwarzen Umhang zurecht.

    Als Rhodo Selena sah, besserte sich ihre Laune schlagartig. Irgendwie beruhigte es sie, dass außer ihr noch eine Gestalt in den zu dieser Zeit völlig leeren Gassen da war.
    „Nein, ich bin wohl gestern hier eingeschlafen. Ich finde meinen Schlüssel nicht mehr“, seufzte Rhodo und stand auf.
    „Hättest eben was gesagt, ich hab doch noch den Ersatzschlüssel! Und notfalls hättest du auch bei mir schlafen können.“ Gerade wollte Selena Rhodo darauf aufmerksam machen, wie dreckig ihre Kleidung geworden war, hielt jedoch inne, als sie Rhodos deprimierten Gesichtsausdruck sah.

    „Rhodo! Warum schaust du denn so traurig?“
    „In letzter Zeit hatte ich Alpträume, in denen es immer um Ratten geht. Immer diese verfluchten Ratten…sie machen mir Angst... Reto meint, e-er meint, ich soll sie bekämpfen, a-also die echten Ratten, nicht die im Traum…a-aber ich trau mich nicht!“, flüsterte Rhodo und blickte beschämt zu Boden.

    „Ach, Rhodo“, murmelte Selena und bedachte sie mit einem mitfühlenden Blick. „Angst ist etwas völlig Normales. Aber man kann seine Ängste auch besiegen, anstatt ständig vor ihnen davonzulaufen!“
    „Wie denn?“, fragte Rhodo mit großen Augen.
    „Ganz einfach: man muss sich ihnen stellen. In deinem Fall heißt das, dass du die Kellerratten besiegen solltest. Und dann bist du sie ein für allemal los und brauchst keine Angst mehr zu haben!“, erklärte ihr Selena.
    „Was brauche ich denn, um zu kämpfen?“
    „Du solltest dir als erstes Waffe und Rüstung besorgen und danach zu Camulos gehen. Er wird dich lehren, deine Ausrüstung zu tragen und richtig einzusetzen. Du weißt doch, wo du ihn findest, oder?“
    Rhodo nickte. „Gut, dann mache ich mich sogleich auf den Weg. Und – Danke, Selena!“, rief Rhodo und lächelte, während ihre Füße sie schon in Richtung Marktplatz trugen.

  • „Gut, das wären dann 12 Heller, die von deinem Konto abgebucht werden. Hier hast du deine Rüstung.“
    Alrik reichte Rhodo die alte Platte hinüber und fragte sich insgeheim, wie eine solch schmächtige Gestalt so eine schwere Platte überhaupt tragen könnte. „Brauchst du sonst noch etwas?“
    „Ich hätte gerne noch ein Holzschwert. Ist gerade eines erhältlich?“, fragte Rhodo.
    „Moment, ich schau mal…Ah, da ist es, das gute Stück. Also ich hätte ja an deiner Stelle eine Feuersteinaxt genommen…a-aber dieses Holzschwert ist natürlich auch vorzüglich!“, verhaspelte sich Alrik, als er Rhodos strafendem Blick begegnete. Sie hatte sich zuvor in der Bibliothek sehr genau über verschiedene Waffen und Rüstungen informiert und sich erst nach langem Überlegen für die alte Platte und das Holzschwert entschieden. In der Meinung, eine gute Entscheidung bei der Auswahl ihrer Ausstattung getroffen zu haben, nahm sie das Holzschwert entgegen und schritt frohen Mutes auf das Monument Noröm zu.

    Als sie jedoch vor dem imposanten Tor stand, das Rhodo von den Monumenthallen trennte, verließ sie all ihre Zuversicht. „Was ist, wenn ich zu schwach bin, um zu kämpfen? Oder zu ungeschickt? Oder…zu feige? Wird mich Camulos dann wegschicken?“ Selbstzweifel stiegen in ihr auf, aber Rhodo schüttelte nur den Kopf. „Nein, dieses Mal werde ich meine Angst nicht gewinnen lassen!“, dachte sie entschlossen, drückte die Schultern durch und passierte das Tor.

  • Sie sah Camulos schon von Weitem, wie er gerade einen anderen Krieger trainierte. Um nicht aufzufallen, versteckte sich Rhodo hinter einer Säule und beobachtete die beiden verstohlen. Nach kurzer Zeit beendeten diese ihre Übungen und der andere Krieger verließ die Monumenthallen. Mit zitternden Knien und klopfendem Herzen schlich Rhodo näher an Camulos heran, als er sie bemerkte.
    „Tritt vor und lasse deinen Namen verlauten!“, sprach Camulos.
    Mit kleinen Schrittchen tappte Rhodo auf ihn zu.
    „Rhodo. Ich heiße Rhod-Rhododendron.“, stammelte sie und wagte es, ihren Kopf zu heben. Vor sich sah sie einen großen und stämmigen Mann, auf dessen Rüstung ein goldenes und ihr unbekanntes Zeichen prangte.
    „Du bist also Rhododendron“, wiederholte Camulos und bedachte sie dabei mit einem undeutbaren Blick. „Na gut, dass lass uns mal anfangen. Hast du Waffe und Rüstung dabei?“
    Rhodo nickte und wies zaghaft auf ihre Ausrüstung, die sie den ganzen Weg lang mühsam hinter sich hergeschleppt hatte.
    Der Unterricht verlief besser, als Rhodo erwartet hätte. Anfangs war es sehr schwierig für sie, die wuchtige Rüstung zu tragen, weshalb sie mehrmals umfiel und Camulos ihr hochhelfen musste. Doch am Ende des Tages konnte Rhodo schon äußerst geschickt mit ihrem Holzschwert umgehen und hielt sich auch mit der Rüstung ganz gut auf den Beinen. Ab und zu meinte sie zu spüren, wie sich Camulos´ eindringlicher Blick in ihren Rücken bohrte, doch das kümmerte Rhodo nicht weiter. Schließlich war das Training vorüber und sie verabschiedete sich dankbar von Camulos. „Ich hoffe, wir werden uns nochmal sehen“, rief er ihr noch zu, bevor das große Tor hinter Rhodo zukrachte.

  • Die Dunkelheit umhüllte sie wie ein schwarzer Schleier, als Rhodo sich nach Hause begab. Den Kellerratten wollte sie sich erst am nächsten Tag stellen, damit sie noch etwas Zeit hätte, ihre Kampftaktik nochmal zu überdenken. Die Furcht vor den bösen Bestien quälte Rhodo nach wie vor, aber sie dachte wortwörtlich nicht einmal im Traum daran, aufzugeben. Sie lieh sich bei Knochenspieler Selena den Ersatzschlüssel für ihr Holzhäuschen aus und stürzte sofort übermüdet ins Bett, wo sie nach all den ruhelosen Nächten endlich wieder ruhig schlafen konnte.
    Am nächsten Morgen wurde sie von einem Hahnenschrei geweckt. Die Sonne war schon längst aufgegangen. Rhodo streifte sich hektisch ihre Anziehsachen über und stolperte hinaus auf die im Sonnenlicht glänzende Straße, um in Ruhe zum Marktplatz zu spazieren und dort einige an der Auftragswand ausgeschriebene Aufträge zu erfüllen. Danach färbte sie noch ein paar Tonbecher in den buntesten Farben und stellte diese im Auktionshaus ein. Am späten Nachmittag begann es langsam zu dämmern und Rhodo meinte, dass nun die Zeit gekommen war, den Ratten gegenüberzutreten. Nervös holte sie ihre Rüstung und Waffe aus dem Lagerhaus und legte diese an. Dann ging Rhodo fast wie in Zeitlupentempo auf die Tür der Taverne zu.

    Dort angekommen, war Reto hocherfreut, dass sie´s sich doch anders überlegt hatte und wünschte ihr viel Glück. Rhodo zwang sich zu lächeln und ging Richtung Kellertreppe. Mit jedem Schritt wurden ihre Knie weicher und ihr Herzschlag beschleunigte sich. Gerade als sie meinte, die Angst würde sie gleich aller Sinne berauben, war sie am Fuße der Treppe angekommen und klammerte sich krampfhaft am Geländer fest, damit ihr nicht noch schwindliger wurde.
    „Willst du das jetzt wirklich durchziehen? Willst du wirklich dort hineingehen und dich von den Ratten zerfleischen lassen?“, fragte Rhodo sich selbst. Ihr ganzer Körper drohte, ihr den Gehorsam zu verweigern und schlappzumachen, aber irgendetwas, tief in ihrem Inneren, hinderte sie daran, in Ohnmacht zu fallen. Rhodo hatte sich entschieden. Sie nahm einen tiefen Atemzug, stieg die Treppenstufen hinab und öffnete die Tür zum Weinkeller.

  • Nichts als Dunkelheit. Oder? Rhodo blinzelte, während sich ihre Augen langsam an das getrübte Licht gewöhnten. Alles schien ganz normal zu sein: Die Gerätschaften, mit denen man Wein und Bier herstellen kann, standen auf ihren Plätzen und selbst die Ecke voller Gerümpel, in der sonst das Chaos regierte, wirkte friedlich. Schon wollte sich Rhodo erleichtert an eine Mauer lehnen, da stockte sie. Plötzlich fing der Boden an, im Rhythmus von Tausenden von Trappelschritten zu beben. Das Geräusch wurde immer lauter und Rhodo tastete mit verschwitzten Händen nach ihrem Schwert. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, als sie die vielen kleinen blitzenden Knopfaugen um den großen Braukessel biegen sah.
    Es waren mindestens 20, die sich alle gleichzeitig auf sie stürzten, wie Rhodo es vorausgesehen hatte. Schockiert erstarrte Rhodo zu einer Salzsäule und reagierte nicht schnell genug, als die erste Ratte sie erreichte und ihr in den Schenkel biss. Der Schmerz holte Rhodo wieder in die Wirklichkeit zurück und sie zückte ihr Schwert. Ihr Kopf war völlig leer und sie funktionierte wie eine Maschine, als sie den darauffolgenden Ratten den Kopf abschlug. An die Stelle, an der noch vor einem Moment die nun leblosen Ratten gewuselt hatten, traten jetzt neue und schnappten mit ihren Giftzähnen nach ihr. Rhodo konnte alle Angriffe unglaublich schnell parieren und dafür umso mehr Schaden verteilen. In den nächsten Minuten sah sie nur noch spritzendes Blut und sich windende, zuckende Fellkugeln, während Rhodo wild um sich schlug. Und sie schlug immer noch um sich, als alle Bestien längst tot waren. Erst nach einigen Minuten realisierte sie, dass es vorbei war. Sie hatte ihren eigenen, persönlichen Kampf gegen diese Biester gewonnen und brauchte nun nie mehr Angst vor ihnen zu haben. Sie hatte ihre Furcht besiegt, und das ist alles, was zählt. Benommen stolperte Rhodo auf die Tür zu, doch bevor sie diese erreichte, gaben ihre Knie nach, und sie stürzte auf den Boden.

  • „Morgen Rhodo!“, rief Jonny zu ihr herüber.
    „Guten Morgen, Jonny“, antwortete Rhodo und kicherte. Es war schon fünf Tage her, seit sie die Ratten besiegt hatte, und sie war mit sich selbst sehr zufrieden. Auch mit Retos Belohnung konnte Rhodo was anfangen, und seit sie ihr neues Selbstbewusstsein erlangt hatte, kam es ihr so vor, als könnte sie alles schaffen, was auch immer sie sich vornehmen wird. In bester Laune verließ Rhodo Trent durch das Stadttor und steuerte auf den nächstgelegenen Apfelbaum zu. An diesem Tage sammelte sie außerordentlich viele Früchte und kehrte spätabends nach Trent zurück. Fröhlich sperrte sie ihre Haustür auf und betrat die Wohnstube. Es hatte sich herausgestellt, dass Rhodos Schlüssel die ganze Zeit lang in ihrer Umhangstasche gewesen war und Rhodo dies erst aufgefallen war, als sie ihre Kreuzer bei einer Marktbude aus der Tasche holen musste.
    Während Rhodo schon im Bett lag und mal wieder nicht einschlafen konnte, beäugte sie die Tonscherbe, die sie als Andenken an ihren ersten Kampf behalten hatte. Obwohl die Farbe schon etwas verblichen war, konnte man gut erkennen, dass die Scherbe mit roten und blauen Mustern verziert worden war. Etwas schien trotzdem komisch an ihr zu sein, aber Rhodo konnte es nicht genau erkennen. Also beschloss sie, sich die Scherbe nochmals bei Tageslicht anzusehen.


    Schwerfällig öffnete sich das Monumenttor und Rhodo schritt geschwinden Schrittes auf die zwei Gestalten in der Mitte der Monumenthallen zu, die gerade den Umgang mit Waffen übten.

    An jenem Morgen hatte Rhodo die Tonscherbe genauer begutachtet und ihr ist ein haarfeiner Riss im Ton aufgefallen, der silbern glänzte. Ohne zu überlegen, hatte sie ihren Hammer zu Hand genommen und die Scherbe entzweigeschlagen. Über das Ergebnis war sie äußerst überrascht gewesen: In der Tonscherbe hatte sich eine silberne Münze befunden. Rhodo hatte die Münze aufgehoben, sie zeigte ein merkwürdiges Symbol, das sie schon einmal gesehen hatte. Nur wo? Rhodo hatte die Münze umgedreht und einen leisen Schrei ausgestoßen: Auf der Münze war niemand anderes als Camulos von Noröm abgebildet.

  • Aufgrund ihres energisches Auftretens bemerkten die zwei trainierenden Personen sie sofort und drehten sich zu Rhodo um.
    „Rhododendron! Was führt dich hierher?“, fragte Camulos verwundert.
    Der Schüler musterte Rhodo kurz und beschäftigte sich wieder mit seiner Waffe, einem Degen, soweit Rhodo das erkennen konnte. Mit ernster Miene holte sie die Münze hervor. Camulos riss für einen kurzen Augenblick die Augen auf, fasste sich aber gleich wieder.
    „Das Trainung ist für heute beendet!“, raunte er in barschem Tonfall seinem Schüler zu, der daraufhin eingeschüchtert seine Sachen zusammenpackte und sich aus dem Staub machte. Nun wandte sich Camulos wieder Rhodo zu.
    „Woher hast du diese Münze?“
    „Aus einer Tonscherbe. Aus dem Weinkeller.“ Rhodo klang genervt. „Was mich aber eher interressiert, ist, warum gerade du dich auf dieser Münze befindest!“,knurrte sie. Camulos wirkte plötzlich sehr viel älter als sonst und ließ sich auf einer der herumstehenden Bänke nieder.
    „Setz dich erstmal hin und beruhige dich, dann kann ich dir die Geschichte dieser Münze erzählen. Das wird allerdings etwas längere Zeit in Anspruch nehmen…“ Rhodo gehorchte und platzierte sich auf der gegenüberliegenden Bank. Plötzlich tat es ihr leid, dass sie Camulos vorhin so harsch angefahren hatte.
    „Also“, begann er zu erzählen, „vor langer, langer Zeit gabe es einmal ein prächtiges Königreich namens Noröm. Es wurde von zwei sehr mächigen und gewissenhaften Königen regiert…ist dir das bekannt?“
    „Ja, ich kenne die Geschichte“, sagte Rhodo. „Erzähl bitte weiter.“
    „Nun gut. Als dieses Königreich noch existierte, lernte ich gerade als junger Knabe das Kämpfen von einem der besten Lehrmeister im Lande. Es war zwar schon im fortgeschrittenem Alter gewesen, aber nichtsdestotrotz war sein Verstand um vieles schärfer als der der meisten Menschen, die mir zu dieser Zeit begegnet sind. Er war ein sehr weiser und aufrichtiger Mann und unterwies mich in zahlreichen Kampfkünsten. Schon bald konnte ich mich einer exzellentesten Kämpfer Noröms nennen und das hatte ich zum Großteil meinem Lehrmeister zu verdanken. Leider habe ich seinen Namen vergessen...aber für diese Geschichte spielt das keine Rolle. Irgendwann beschloss König Isedor – das war der gute König – mich für meine besonderen Heldentaten zu ehren und mit dieser Münze auszuzeichnen. Mein alter Meister sollte sie mir überreichen. Bedauerlicherweise kam es nie zu dieser Zeremonie, denn die bösen Mächte fielen schon vorher in unser Königreich ein…“ Seine Augen wurden glasig.
    „Was aber fast niemand außer mir wusste: Mein Lehrmeister hatte mir die Münze schon Tage vor der Ehrung heimlich zugesteckt – irgendwie schien er geahnt zu haben, was passieren würde. Was aus ihm geworden ist, weiß ich leider nicht…die Münze habe ich aber als Andenken behalten, als ich nach Simkea gekommen bin. Nach einiger Zeit habe ich sie allerdings für unbrauchbar befunden, da ich eh nicht mehr kämpfte, sondern nur unterrichtete. Also beschloss ich, die Münze an einen meiner Schüler weiterzugeben. Ich wusste nur nicht, für wen ich mich entscheiden sollte. Hier kam die Münze ins Spiel: Das, was du da in der Hand hältst, ist nicht nur bloß irgendeine Sibermünze – sie wurde vor Jahrtausenden von einem der mächtigsten Magier, den die Welt je erlebt hat, verzaubert. Die Münze hat gewissermaßen ein Eigenleben, denn sie sucht sich ihre Besitzer selber aus.“
    Rhodo schaute Camulos fragend an.
    „Ich versuche mal, es dir zu erklären: Hier kommen tagein, tagaus viele Schülerinnen und Schüler, die die Kampfkunst lernen oder verbessern wollen. Manche wollen die Stadt und das dahinterliegende Land beschützen, anderen macht es Spaß, zu töten, andere tun es wiederum des Geldes wegen, oder sie sind gelangweilt von den anderen Tätigkeiten, denen man hier nachgehen kann. Diese Schüler beweisen allesamt Mut und Tapferkeit, doch muss sich niemand von ihnen überwinden, zu kämpfen, oder etwas besonders Hervorragendes leisten. Ich habe sofort gemerkt, dass es bei dir anders war: Du musstest dich erst deiner Furcht vor Ratten stellen, habe ich Recht?“ Rhodo errötete und nickte leicht mit dem Kopf.
    „Die Münze hat sich anscheinend dich ausgesucht, weil sie von deinem Mut und starken Willen beeindruckt war. Pass gut auf sie auf, sie ist ein wertvoller Schatz und wird dich beschützen.“ Camulos starrte gedankenverloren auf den kleinen Gegenstand in Rhodos Hand. Plötzlich lachte er auf. „Ach ja, da gibt es noch etwas, das du wissen solltest…Schau dir die Münze noch einmal genau an!“
    Obwohl Rhodo diese Anweisung als merkwürdig empfand, befolgte sie diese – und erschrak: Die Münze zeigte jetzt nicht mehr Camulos´ Abbild, sondern ihres!
    „Wenn der neue Besitzer der Münze diese als sein Eigentum anerkannt hat, ändert sich auch das Bild und dieser wird darauf verewigt – wenn man das in diesem Fall so nennen kann“, schmunzelte Camulos. Vergnügt beäugte Rhodo die Münze und hielt plötzlich inne.
    „Eines verstehe ich aber immer noch nicht. Wie, zum Teufel, ist die Münze dann in die Tonschrebe gekommen?“
    „Die Antwort darauf ist ganz einfach: ich war es, der die Münze darin „einmauern“ lassen hat – ich wusste, dass sie irgendwann einmal den Weg zu ihrem nächsten rechtmäßigen Besitzer finden würde. Die Scherbe ließ ich dann beim Bau der Taverne wie zufällig im Weinkeller fallen, wo sie dann anscheinend von einer Kellerratte verschluckt wurde und so zu dir gekommen ist. Schon erstaunlich, auf welche Arten sich die Münze ihre neuen Besitzer aussucht…“ Camulos schien in Gedanken davonzuschweifen.
    “Oh, es schon sehr spät geworden. Ich habe wohl ein bisschen zu viel geredet. Es ist schon ganz dunkel draußen!“, rief Camulos und sprang auf.
    „Ich sollte schon längst zu Hause sein“, murmelte Rhodo und stand ebenfalls auf.
    „Vielen Dank für deine Geschichte, Camulos – ich fand sie sehr spannend. Jetzt weiß ich, über welche Kräfte diese Münze verfügt, die ja jetzt mir gehört…gut, dann mache ich mal auf den Weg. Auf Wiedersehen!“ verabschiedete sich Rhodo und schritt zum Tor.
    „Auf Wiedersehen, Rhodo! Pass gut auf dich auf…und auf die Münze natürlich!“, hallte Camulos´ Ruf noch durch die Monumenthallen, als sie schon längst draußen war.



    Fortan trug Rhodo die Münze als Glückbringer bei jedem Kampf. Sie hatte sie in ein Armband geknüpft. Und noch heute besiegt sie mithilfe der Münze zahlreiche Monster, um die Bewohner von Simkea zu schützen und den Frieden zu wahren.